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1. Heilage öes vorwärts
Sonntag, 1$, Januat 1H25
Erwerbsloseafürsorge im kaiserl. Schloß. Potsdam! Der Nam« war Aufruf, der Name war Programm. Alle blinden Verehrer«».nes militärischen und waffenklirrenden Deutschland  ? sonnten sich in seinem Talmiglanz, der die Sinnlosigkeit absoluter Unterordnung unter ein längst überholtes Prinzip doch nicht verdecken, der die Leere und Geistlosigkeit des strammen Systems bei allen ästhetischen Möglichkeiten doch nicht überblenden konnte. Potsdam  . Symbol des waffenmöchtigen. Weimar  . Symbol des geistigen Deutschlands   den zweiten Teil dieser einst so viel ge- brauchten Phrase könnte man bedingt gelten lassen denkt man ansBauhaus" und an Herrn Roethe als Vorsitzenden der Goethe- Gesellschaft allerdings nur sehr bedingt, der erst« Teil hat seine Gültigkeü verloren. Der 18. Januar, der Tag der Proklamation des deutschen Imperiums im Spiegelsaal zu Versailles  , dieser Tag hat einen anderen, einen erweiterten Sinn bekonunen.D a s Deutsch« Reich ist ein« Republik,  " und zu hoffen und auch anzunehmen ist, daß die republikanische Mentalität doch eines Tages die potsdämliche im wesentlichen verdrängt haben wird. Daß diese Vermutung berechtigt ist, empfindet man tatsächlich auf einem Rundgang durch dosneue" Potsdam  . Freilich, verschiedene der höchsten und allerhöchsten Herrschasten liegen in ihren feudalen Villen auf ihren höchsten und allerhöchsten Sofas und nehmen übel, die Herren Lehrer und Oberlehrer erteilen den Unterricht gewiß nicht immerim Geist der Völkerversöhnung", das Bürgertum was sich so nennt schimpft auf die Republik   im allgemeinen und mit Unterstützung der deutschnationalistischenPotsdamer Tageszeitung" auf die Sozialdemokratie, die sie laut Siloesternummer im Jahre 1S25aus dem Himmel jagen" will, im besonderen, aber alle dies« Schmoller und Schreier sind nicht so gefährlich, wie sie gern sein möchten. Denn, daß man ein« bestehende gefestigte Staatssorm nicht mitvaterländischen Feiern" umstößt, das haben sie noch nicht «ingesehen, das werden sie auch wohl schwer begreifen. Das zweite Gesicht. Potsdam   wird ganz besonders von älteren ruhebedürftigen und woylhabGnden Personen ausgesucht und ist wie nur wenige deutsche Städte als WoKnsttz für alle diejenigen geeignet, die m Ruhe und Vehaglichteit ihr Dasein genießen wollen" erzählt nämlich recht snobistisch der Führer. Wenn das auch sehr bitter tlmgt für
Was man heute in Potsdam   sieht. Auch ein Beitrag znm 18. Januar. die vielen, die nicht sowohlhabend" sind, daß siein Ruhe und Behaglichkeit ihr Dasein genießen" können, so muß man doch die Schönheit, Sauberkeit und angenehm« Stille der Stadt im Straßen- bild auch heute bestätigen-, die Monarchie hält ihren Kirchhos gut in Stand. Daß 65 000 Einwohner nicht mehr Krach machen, ist zu» nächst verwunderlich, erkennt man die soziale Struktur der Stadt, freilich erklärlich. Nur eins ist anders: verschwunden ist das ZNilllär, das einst den Straßen ausich'aggebendes, frohbnntes Gepräge gab. Fast unmerklich wurde es, und auf dem Platze vorm Sladtfchloß, wo die Heroen Offiziere, die Götter des unfeligen Drills, mit ihren Kerls" Triumph» feierten, lausen frische Jungens ohne Helm, ohne Koppel, ohne Gewehr nein, nur im Sportdreß. Sie spielen auch nichtSoldaten", sie spielen Schiagball. Und hinter der Kaserne der Leib. Eskadron, wo einst des Exkaisers Pferde paradierten, baut man neue Wohnhäuser, in der Kaserne selbst ist das Finanzamt untergebracht, in einer anderen Kaserne liegt Schutzpolizei  , in die der Garde-Jäger wurden Prioatwohnungen eingebaut, einige sind natürlich auch von Reichswehr   belegt, und selbst das früher mal vom Exkaiser bewohnte Siadlschloß wurde zum größten Teil Zwecken der Gemeindebehörde dienstbar geniachi. Vor dem gegen den Markt zu halbrund ausgeschwungenen architektonisch prachtvollen Fortuna- portal, dort, wo früher die Wache aufzog, warten tagtäglich die Er- werbslosen, deren schäbige Kleidung und müdes Gesicht durchaus nicht zu dem heiteren Barockstil sorgenloser Zeiten paffen will, und im Theatersaal, in dem«inst Schauspieler sich produzierten zu Zeiten, da man angeblich vor ihnen die Wäsche weghängen mußte, führen Deutschnationale aller Schattierungen des öfteren ein lärmiges Spektakulum auf als Gemeindevertreter im hierhin verlegten Sladtverordnetensitzungsfaal, Auch Grundstücks- und Hochbauamt sind feit der Revolution 1S18 im Stadtschloß untergebracht: daß es andernfalls noch viel, viel mehr an Wohnungen gefehlt hätte, gibt selbst der Magistratsbeamte in der Unterhaltung zu, die, mit der Zigarette in der Hand, fast gerade dort geführt wird, wo einst zu Friedrich Wilhelm   l. Zeiten das Tabakskollegium feinen Sitz gehabt haben soll. So respektlos find wir nun gcwordsn! Die Wohnungsnot ist deswegen natürlich noch nicht behoben, doch hatte sie in den letzten Iahren immerhin schon eine Reihe bedeutsamer Siedlung? bauten zur Folge, Allein zirka SO schmucke Einsamilien. Häuser derDodenresormer" stehen an der Saarmunder Chaussee. und auch sonst ist man überall gerade in dieser Beziehung not- wendigerweise sehr fleißig gewesen. Vorbildlich ist hierbei, wie neu« Gedanken im Bau von Kleinsiedlungen unter Verwertung Alt- Potsdamer Motive in der Häusergruppe an der Stadtheide verwirklich tworden find. Ein- und Mehr- famikienhäuser stehen um einen kleinen Marktplatz. Di« alte Achsen- betonung, Wechsel im erfrischend wirkenden Anstrich, durchgehendes Gesims, Hochdächer, geschmackvolle Fensterverzierungen gutes Altes erlebt hier in neuer und brauchbarer Form begrüßenswerte Auferstehung. Potsdam   ist eine Stadt im Uebergang, Reliquie ebensowenig wie Kurlositätenkabmett, und falsch wäre es, den schwankenden Zustand des Augenblicks als tragisches Vorzeichen eines Sterbens in Schönheit" auslegen zu wollen, und das eingangs ge- brauchte Wort Kirchhof hat eben nur einseitige Geltung. Der neue Geisi�. Der neu« Geist, der darf vorläufig ruhig noch in Anführungs  - strichchen gesetzt werden, wenn man objektiver Berichterstatter bleiben will. Gewiß, der Zuwachs an sozialdemokratischen Stimmen betrug
Von der Leibeskadron zum Finanzamt. von den Mai- zu den Dezemberwahlen rund hundert Prozent, unser Parteiorgan, dasPotsdamer   Volksblatt", wird verhältnismäßig
Schilderhaus im Ruhestand.
banirer waren auch in Potsdam   zur Stell«, als der Franzose Viktor Bäsch geschützt werden mutzte, weil er für den Frieden sprechen wollte. Aber noch sitzt«ine gewaltige deutschnationnle Mehrheit im Stadtparlament, noch' hat einnationaler" undchristlicher Bühnen­volksbund" seine blindgläubigen Anhänger, die beimKönig und sein Leutnant", den ihnen«in reaktionärer Theaterdirektor, ein Major a. D., vorsetzt in Rausch und Wonne rasen, noch darf ein Blättel wie diePotsdamer Tageszeitung' schmutzige Verleum­dungen gegen die Republik   kübelweise von sich geben, noch hat ein solches Machwerk Leser feines Geistes, noch stempelt man sich gern Residenzstadt".Papa, komm her, sieh dir den Kaiser an!" jagt« eine ältere Frau zu ihrem Gatten; der kam, sah und Wilhelm siegte: in Verzückung stand der Mann minutenlang vorseiner" Majestät im Schauienster, und als er wieder sachlich wurde. konnte er nur wehmütig feststellen:So einen schönen Bart wie srüher hat er nicht mehr." Der Postkarten- Verkäufer, in Potsdam   eine wichtige Type, mag den Exkaiser auch ganz gern, weit ernoch einigermaßen verkäuflich" ist, aber viel begeisterter ist er in dieser Beziehung vom Alten Fritz. Der geht in jeder Stellung, in jeder Berkillchung, mit angeklebten Locken, mit einem ausgepappien Hut aus Filz, immer ist er ein glänzendes Geschäft. Die Beliebtheit Wilhelms II. verblaßt gegen die seine bei weitem. Nichts will man vom früheren Prinzen Eitel wissen, Biel   gekauft �werden auch Postkarten von Ftlmausnabin., an die man sich in Sanssouci   allmählich gewöhnt hat. Hiergegen protestierte mit ziemlich rigorosen Mitteln im Jahre 1920 nochIhre kaiserliche Hoheit, die Kronprinzessin"(laut damaligem Reichswehr  - befehl des Herrn Oberleutnant Graf Natiischka), heute ist die Dome etwas bescheidener geworden. Sanssouci  . Es blitzte in Potsdam  . Magnus' Marmorgruppe, Friedrich IT auf dem Totenbett, wagt« man letzthin aus dem Sterbezimmer von Sanssouci   zu entfernen, auf dem Gewebchos rühr sie in Frieden, Schon fürchteten die Bürger den Generalangriff auf die Hinterlassen- schaft desangestammten" Herrscherhauses, aber der Herr Finanz- minister teilt dem besorgt anfragenden Magistrat mit, daß die ihm miterstellte Krongutsoerwaltunq lediglich die Aufgabe hads,ohne Rücksicht auf irgendwelche politische Momente oder persönlich« Ge. schmacksrichtungen in reiner sachlicher Arbeit" vorzugehen. Sans-
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Der Mittelweg. Don Sir Philip Gibbs  .
Wieso? Um Gottes willen!" fragte der Oberst. Keine Pferde zur Beförderung mit Schlitten." Aber wir müssen weiter." sagte der Oberst heftig.Wenn wir hier Hölle und Teufel in Bewegung setzen, gibt's auch Futter für die Pferde.   Sind Sie gut untergebracht?" Gewiß," antwortete der junge Mann, der sich jetzt wieder in einen Banditen verwandelt hatte.Aber kommen Sie mit, Oberst, damit Sic warm werden. Die ganze Gesellschaft bestieg die Schlitten, die mit lusti- ?em Geklingel daoonglitten. Nadia saß mit Bertram und >r. Weekcs zusammen, und sie füllten sie in die Decke und häuften ihr das Stroh unter die Füße. Donnerwetter, ist das hier eine Kälte," sagte der Doktor. Hier in Rußland   ist unser Blut aus Feuer und Eis gemischt," antwortete Nadia.,.,. Schlechte chemische Zusammensetzung, brummte der Doktor. Auf den Fußsteigen standen Bauern und starrten den Schlitten nach. Ihre Gesichter waren knochig, und die Augen hatten einen toten Blick. Das ist der Hunger." sagte Nadia.In Moskau   haben wir nicht satt zu essen, aber hier verhungern sie buchstäblich. Die Schlitten hielten vor einem Palaste mit langen Fensterreihen, und Nadia stieß einen kleinen Schrei aus. Ich kenne dieses Haus. Ich war als Kind mit meinen Eltern hier bei meinem Onkel zu Besuchs Er war Gouver- neur von Kasan  . Sie haben ihn auf der«traße erschossen. Bertram sah sie an. Ihre Augen standen voller Tränen. Aber als er ihr beim Aussteigen half, sagte sie tapfer:Und nun bin ich wieder hier, mit denen, die Hilfe bringen." Im Hause empfing sie wohltätige Wärme. In allen Räumen brannten Holzfeuer, und in den meisten standen Feldbetten. Ein gutes Quartier." sagte der Oberst.Ihr Iungens Mtzt, was Luxus ist.
Luxus gibt's hier weniger als Wanzen," sagte ein junger Amerikaner,denn ehe wir kamen, war es ein Flüchtlings- heim. Und eine Menagerie von Ungeziefer ist es noch." Arbeit für mich!" meinte Dr. Weekes.Ich bin als Ungeziefertöter der Leichtgewichtschampion der Welt." Die drei russischen Damen wurden zum Essen eingeladen, aber Unterkunft für sie war in, Hause nebenan eingerichtet. Das ist gut," meinte der Oberst zwinkernd.Wir wollen der Hearstprcsse keinen Grund zu Skandalen geben. Und ich sehe ja. daß ihr Iungens schon alle in unsere Prinzessin ver- liebt seid." Sie ist einzig und unerreicht," sagte der eine.Aber zum Verlieben ist hier keine Zeit, Oberst." Der Oberst nickte zu �Bertram hinüber.Wunderbar, wie? Beinah unglaublich." Seine kalten klaren Augen hatten die Kameradschaft zwischen den beiden wohl bemerkt, aber er war diskret und sagte nichts. Aus seinen Vorschlag sollte Nadia als Dolmetscher Dr. Weekes und Bertram aus ihrem Rund- gang durch die Heime für verlassene Kinder begleiten. Bertram drang an ihrer Seite, von ihr ermutigt, in solche Hütten ein, daß sein Herz zu Gott schrie, und daß er sich vor Entsetzen und unüberwindlichem Ekel bald wieder so schlecht befunden hätte, wie damals im Lcichenhof von Petersburg  . Am allcrschlimmsten waren die Kinderheime für die Ver- lasienen: in dem ersten befanden sich 1500 von chren Eltern verlassene Kinder. Warum aber verlassen?" fragte Bertram. Nadta beugte sich über ein Kind, ein Mädchen von zwölf Iahren vielleicht, das nackt auf seinem Lager kauerte. Sie war so abgemagert, daß man die Rippen unter der straff gespannten Haut sah. Das Kind erzählte mit todernstem Ge- ficht, und Nadia übersetzte Wort für Wort. Sie hatte Tränen in den Augen, als sie sich wieder ausrichtete.Das Kind weiß, waruin ihr Vater sie verließ. Weil er sie liebte und es nicht ertragen konnte, sie nach Brot weinen zu hören, wenn doch keins im Hause war." Warum sind denn diese Kinder nackt hier in dem Eis- kcller?" fragte Bertram schaudernd. Nadia sprach zu einem traurig dreinschauenden Mann in einem Leiuenrock.
Er sagt, nur aus diese Weise kann man den Typhus niederhalten. Die Kinder kommen in Lumpen, die von Ün- geziefer wimmeln. Er verbrennt diese Lumpen sofort. Aber er hat nicht die Mittel, ihnen andere Z?eider oder Decken zu geben." Man könilte doch Feuer anzünden?" Es ist unmöglich, Feuerung zu bekommen." Trotz der großen Wälder hier?" Keine Transportmittel." Aber, mein Gott! Dann müßten die Menschen selber die Stämme in die Stadt ziehen!" Er sagt, die Männer sind zu sehr entkräftet, und die Verzweiflung macht sie stumpf und träge. Und bezahlen könnte er auch nicht dafür." Sie gingen durch ein Zimmer nach dem anderen, all-' voll mit nackten, zum Skelett abgemagerten Kindern. Kein Laut, kein Lachen unterbrach die fürchterliche Stille. Und ein entsetzlicher Schmutz herrschte überall: es gab ja kein warmes Wasser. Der furchtbare Gestank in den Zimmern war kaum zu ertragen. Morgen komme ich her und werde hier arbeiten. Dieser gute Doktor hat keine Energie, sagte Nadia. Dr. Weekes notierte:Decken, Kleider, Seife. Kommen Sie ja den Türpfosten nicht zu nahe," warnte er Bertram. denn die wimmeln von Ungeziefer." Mitten zwischen den typhuskranken Kindern eines ande­ren Raumes lag schlafend, mit Fieberglut aus dem Gesicht, ein Mädchen von etwa zwanzig Iahrem .Das ist die Gräfin Norjschin, sagt der Doktor," erklärte Nadia,sie war hier Pflegerin und hat sich angesteckt. Alle Hoffnung ausgeschlossen, armes Kind." Sie kniete an dem nackten Bretterlager nieder und hob den Kopf der Kranken ein wenig höher. Prinzessin," sagte Dr. Wecskes barsch.Sie wissen gut genug Bescheid und sollten unnötige Gefahr vermeiden!" Sie haben recht." sagte Nadia. den Kopf der Bewußt- losen sanft zurücklegend,um der anderen willen." (Fortsetzung folgt)