e. 32+ 42. Jahrgang
1. Beilage des Vorwärts
200000 hiter Mily Täglich zuviel in Behlen!
Die furze Zeit der Stabilisierung hat die Lebensmittelversorgung der Großstädte auf einen Stand gebracht, der sie in die Lage vericht, ihre Bedürfnisse nach jeder Richtung hin befriedigen zu fönnen, wenn die Einkommensverhältnisse der Verbraucherschaft dies gestatten. Auf vielen Gebieten des Lebensmittelmarktes ist heute ein so startes Ueberangebot an Waren vorhanden, daß bei der geringen Rauftraft der Maffen der Absatz bereits stockt. Besonders schlimm äußert sich diese Stockung gegenwärtig in der Milchversorgung. Bor Jahren erscholl der Ruf der Berliner Milchversorgungszentrale nach mehr Milch, waren doch die Quanten, die in Berlin eingeführt wurden, nicht im geringsten dazu jetan, auch nur das allernot. wendigste Bedürfnis zu stillen. Bis in die erste Zeit der Stabilifierung hinein fehlten Berlin etwa 50 Proz. der Gesamtmilchmenge fierung hinein fehlten Berlin etwa 50 Proz. der Gesamtmilchmenge täglich am Notquantum. Die Stabilisierung hat auch hier eine gründliche Umstellung vorgenommen, und es läßt sich jetzt feststellen, daß täglich 600 000 bis 650 000 Liter Milch an das Absatzgebiet Berlin geliefert werden gegen 200 000 Liter in der niedrigsten Inflationszeit. Um so beflagenswerter ist die Tatsache. daß für die jetzt gelieferten Milchmengen fein Absatz gefunden werden kann. Es trifft zu, daß nicht abgesetzte Milchmengen oft in erheblichem Maße in die Kanalisation gegoifen werden, weil auch der Abfaz der Nebenprodukte, Käse, Butter usw., nicht die vetvendigen Käufer findet.
UTS
Der Milchstrom.
Hat sich die Nachfrage nach Milch, dieses wichtigste Ernährungsproduft, so start entwidelt, daß der lleberschuß vernichtet woerden muß? Die Tatsache steht jedenfalls fest, daß der Abfaz von etma 25 Broz. der Gefamilieferungsmenge, das wären 150 000 bis 200 000 Ciler pro Tag, teine Käufer finden. Eine völlige Umstellung nahmen die Provinzialmolkereien vor. Sie fonnten seit der Stabi lisierung ihre Produktionsfähigkeit um 40 bis 90 Proz. steigern. Sie überschwemmen Berlin förmlich mit Milch, ohne sich Sorge dan über zu machen, ob bei dem gegenwärtigen Milchpresstond volle Saufmöglichkeiten gegeben sind. Die Preispolitif der Milchprodugenten, die bisher ein Nachlassen der Milchpreise zu verhindern wußte, hat es zuwege gebracht, daß eine rise in der Milchbewirtschaftung eingetreten ist, gegen die öffentlich aufzutreten einfach Bilicht ist. Was soll man fagen, menn an einzelnen Tagen 200 000 Liter Bollmilch nicht abgesezt werden können? Kennen denn diese Herren die förperliche Beschaffenheit unserer Schult.nder nicht? Und was tun die Behörden? Bielleicht wird der eine oder andere hier einwenden: Nicht abgesetzte Milch wird ja zu Nebenprodukten
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Am felben Nachmittag besuchten sie noch zwölf weitere Heime. Ueberall dasselbe: Typhus , Ungeziefer, Schmuz und Geftant. Mein Gott," sagte Bertram zuletzt, dies geht über menschliches Ertragen. Können Sie es denn noch aushalten, Nadia?" Sie legte die Hand auf seinen Arm. Dies ist nur der Anfang, lieber Freund. Sie leiden darunter? Das ist gut. Sie werden dann solche Worte schreiben, daß die Welt zu Tränen und Barmherzigkeit gerührt wird. Und dadurch werden Sie diesen Kindern helfen."
„ Ich will's versuchen," sagte Bertram. Es war wie ein Schwur.
Im großen Hospital von Kasan , einst so berühmt in der Geschichte der Medizin, gab es teine Pritschen mehr. Die maren zur Feuerung verbrannt. Die Kranken lagen auf dem nackten Fußboden. Die Defen waren ungeheizt.
Dr. Weekes fragte den Chefarzt, der selbst wie ein Sterbender zwischen den Kranken umherwanderte, und kaum die Kraft zum Antworten hatte.
Haben Sie Arzneien?"
,, Ganz wenig."
Chloroform, Morphium?"
„ Nichts!"
„ Rizinusōl?"
Einen Tropfen noch."
Desinfektionsmittel?"
,, Gar nicht."
Seife?"
Schon seit zwei Jahren nicht mehr."
"
Berbandszeug, Watte?"
,, Nichts."
Großer Gott," sagte Dr. Weekes verzweifelt.
Und in diesem elenden Haufen der allerverkommensten Menschheit, die, soweit sie sich noch bewegen konnte, unab lässig das Ungeziefer in ihren Lumpen suchte, die in ihrem Schmutz und Jammer faum noch menschlichen Geschöpfen glich,
verarbeitet, die in ihrem Nährwert nicht viel geringer find. Der Absatz diefer Nebenprodukte hängt aber auch von der Kaufkraft der breiten Maffen ab. Und hier wird, wie in jedem anderen Großbetrieb, Angebot und Nachfrage nach bestimmten Gesetzen geregelt. Die Herstellung von Käse hat einen starken Rückgang erlitten, weil hier noch bestimmte Käsesorten seit dem letzten Sommer unverkauft liegen. Die hohen Betriebskosten lohnen eine weitere Verarbeitung nicht, und so muß denn die Milch anstatt in den Magen ernährungs. bedürftiger Kinder zu wandern, den entgegengesetzten Weg einschlagen.
„ Nicht absetzbar?!
Die Berliner Milchlieferungsgesellschaft, der für Berlin die Lizenz der Versorgung übertragen ih, hat sich genötigt gesehen, die nicht absehbare Milch Stadttlichen Heilsarmee und ähnlichen geweinnützigen Anstalten mit 3 Pf. pro Liter anzubieten. Man sollte meinen, daß ein solches Angebot mit offenen Armen, aufgenommen und an die Kreise gebracht wird, die Milch sonst nur als Lurusartifel fennen, um dadurch den Gefundheitszustand unserer Jugend heben zu helfen. Auch hier Fehlschlag auf der ganzen Linie. Nur in geringerem Maße wurde von diesem Angebot Gebrauch gemacht, fo daß die Gesellschaft noch weiter ging und den rein gemeinnützigen Anstalten Milch in beliebigen Mengen unentgeltlich zur Verfügung fellte. Man weiß nun nicht, ob die betreffenden Anstalten sich über ihren gemeinnüßigen Charafter un flaren befinden oder ob jie tat sächlich feine Bermendung für die ihnen unentgeltlich angebotenen Milchmengen hatten, furz, die Abnahme ließ auch hier zu wünschen übrig. Was fümmert das den Landbund. Was sagt die Landwirtschaftstammer zu diesen skandalösen Zuständen? Kann eine gemeinnüßige Körperschaft es verantworten, ihr unentgeltlich angebotene milch zurüid zuweisen? Warum hat man die Zentralstelle für Arbeiterwohlfahrt bisher nicht davon in Renntnis gesetzt? Sie Hülle und Fülle gehabt haben. würde gewiß hinreichende Berwendung für überschüssige Milch in
Die Deffentlichkeit tam verlangen, daß die zuständigen Spitzen organisationen diesen Dingen einmal ernstlich nachgehen. Zwar wiffen auch wir, daß die Milchproduzenten infolge des laufenden Bertrages mit der Berliner Milchversorgungsgesellschaft nicht so schnell gesonnen sind, von ihren vertraglichen Rechten zurückzutreten, weil während der Vertragsdauer ja an den Verträgen nicht gerüttelt werden soll. Der Ablauf des Vertrages steht aber bevor, und wir hoffen, daß diese öffentliche Aufdeckung es zuwege bringt, die skandalösen Zustände auf dem Gebiete der Milchverforgung Berlins wenigstens in einigen Bunkten zu bessern.
waren Frauen von einstiger Bildung und Kultur. Als Nadia zwischen den Lagern umherging, zuredete und tröstete, hoben fich manche schwach empor, um ihr die Hand zu küssen.-
Am Abend nach diesem Rundgang durch die Dantesche Hölle wartete ihrer ein scharfer Kontrast. Denn der Oberst und fein Stab gingen in die Oper. Man spielte den ,, Boris Godunom" vor einem meistens von jungen Ruffen vollbes fejten Hause. Sie waren warm angezogen und allem Anfchein nach gut genährt.
,, Wie ist es möglich," fragte der Oberst ,,, daß diese Leute genug zu essen haben und sich amüsieren, während Millionen um sie herum verhungern?"
,, Sie amüsieren sich," bemerkte Cyrus Sims, der junge Amerikaner, der sie am Bahnhof empfangen hatte, aber Hunger haben sie alle. Es ist hier fein einziger, Mann oder Frau, der sich heute satt gegessen hat. Aber in die Oper gehen fie doch, als zu dem einzigen Ort, der ihnen in dem eintönigen Elend einen fleinen Strahl von Licht, Freude und Farbe fcenft."
Ich fann's nicht glauben," antwortete der Oberst, diese Leute haben keinen Hunger. Sie werden wohl Sowjetbeamte fein, die geheime Vorräte gehamstert haben."
,, Manche vielleicht, aber oft tann's nicht vorkommen. Denn bis vor einer Woche sind sie noch als Sowjetarbeiter rationiert worden. Jetzt fallen die Rationen aus und sie müssen den Gürtel fester schnallen."
,, Es ist die neue Bourgeoisie," meinte der Oberst. Die Bolschewisten haben der alten den Krieg erklärt und eine neue, ihre eigene, gebildet. In Sowjetrußland ist auch nicht mehr Gleichheit als bei uns in den Bereinigten Staaten."
Bertram stimmte ihm zu, sollte aber noch am selben Abend erkennen, daß der Glanz der Oper doch nagenden Hunger verhüllte. Er zeigte sich nach dem Theater in seiner ganzen Schamlosigkeit und Schärfe durch einen Ueberfall auf die Ara. Die Torglode läutete heftig, und als geöffnet wurde, brang eine ganze Schar der Opernhausmitglieder ein und fragte, ob fie sich bei den Herren Amerikanern zum Abendeffen einladen dürften?
,, Nur immer herein," rief Sims. Und sie tamen, sechs Damen und drei Herren. Die Primadonna war eine Berserin
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Dienstag, 20. Januar 1925
Echt völkische Ban eschäfte.
Ein Vorspiel zu dem Bankschwindelprozeß Bruß.
Das Verfahren gegen den Bankbeamten Willi Bruß nimmt einen außergewöhnlichen Umfang an, so daß bei dem Untersuchungsrichter des Landgerichts III ein Sonderdezernat zur Bearbeitung dieser Depotschwindeleien eingerichtet werden soll.
Bisher hatte das Ermittlungsverfahren noch feinen rechten Fortgang nehmen können. Nachdem sich Bruß lange Zeit vers borgen gehalten hatte und schließlich in einem Sanatorium aufgestöbert und ins Untersuchungsgefängnis übergeführt worden war, hatten seine Verwandten die Einleitung eines Entmündigungsverfahrens beantragt. Da nunmehr hierüber zunächst entschieden werden muß, ist auch die Untersuchung wegen der Schwindeleien des Verhafteten start verzögert worden. Wie erinnerlich, hatte der Fall Bruß großes Aufschen erregt, denn Bruß hatte mehr als tausend fleine Ceute hineingelegt, die bei ihm Gelder und Effekten in das Depot gegeben hatten, um für sie Spefulations. geschäfte zu machen. Bruß hatte Beziehungen zu den deutschvölkischen Kreisen, und seine Kundschaft setzte sich ausschließlich aus diesen zusammen, da er es verstanden hatte, sich als politischer Vertrauensmann aufzuspielen. Er hatte im Jahre 1922 in der Brandenburgstraße 69 in Wilmersdorf ein Bankgeschäft eingerichtet, das einen ziemlichen Umfang angenommen hatte. Nicht nur waren in dem Hauptgeschäft 36 Angestellte tätig. es bestanden auch Filialen in Potsdam , Bamberg , Stettin , Wismar , Stuttgart , München und Rostock sowie Geschäftsstellen in fast allen größeren Städten. Obwohl ihm, wie auch durch eine wiederholte Verfügung des Reichsfinanzminister bekannt gemacht worden war, ein Depot und Depositionsrecht nicht zustand und er auch an der Börse nicht zugelassen war, hat er in den Jahren 1922/23 große Depotgeschäfte gemacht. Die An- und Verkäufe von Effekten ließ er über Stückkonto laufen. Zu der Ausführung von An- und Verkäufen von Effekten und Devisen an der Börse bediente er sich eines Bankgeschäftes Unter den Linden . Durch das Eingreifen des Devisenfajfungsfommiffars brach das Schwindelgebäude, auf dem das ganze Börsen- und Spekulationsgeschäft der" Bant" beruhte, zusammen. Bei dem Eingreifen des Devisenkommissars wurde festgestellt, daß feine Geldschränke" aus zwei Bigarrentiſten bestanden; der eine Tresor" enthielt die Devisen, der andere„ Tresor" die ihn von der Kundschaft zur Verwahrung gegebenen oder für diese beschafften Effekten. Auch die Buchführung über die Devisen war außerordentlic) mangelhaft. Es schwebt gegen Bruß nunmehr ein Verfahren wegen fortgefeßten Betruges. Gestern wurde Bruß aus Der Untersuchungshaft dem Schöffengericht Wedding vorgeführt, um fich wegen Bergehens gegen das Kapitalfluchtgesek, wegen unzuläffigen Devisenhandels und wegen fortgesetzten unerlaubten Handels mit Effekten nach dem Auslande zu verantworten. Bruß behauptete, daß nur durch das Eingreifen des Devisenfommissars das
Bankgeschäft zugrunde gerichtet worden, und daß dadurch die Gläubiger in Berlust geraten seien. Der Berteidiger vertrat die Ansicht, daß dem Angeklagten nicht nachgewiesen werden könne, daß er bei dem unerlaubten Handel mit Devisen nach dem Ausland vorfäßlich gehandelt habe. Er wurde auch von diesem Anklagepunkt freigesprochen, dagegen verurteilte das Schöffengericht Bruß wegen unerlaubten Devisenhandels zu 1000 M. Geldstrafe.
,, Das Reichsbauner soll schuld sein".
In der Berliner Zeitung mit dem Faschingstitel na dt. ausgabe des Tag" fraht wieder einmal ein schwarzweißroter Kileriki wütend und erzürnt das Reichsbanner an. Angeblich soll das Spandauer Reichsbanner in der Nacht von Sonnabend zu Sonntag einen Ueberfall auf die Ortsgruppe Seegefelb der Deutschnationalen Volkspartei ausgeführt haben und diese Tat foll sich den Heldentaten würdig anreihen, die in der letzten Zeit von dieser Schutzgarde der Republit in Berlin ausgeführt wurden". Die Reichsbanner- Gauleitung wird ja Anlaß nehmen, die Sache aufzuklären. In Wirklichkeit scheinen sich die Dinge selbstverständlich ganz anders zu verhalten, denn die Bossische Beitung" in der Lage, folgende Darstellung zu geben: Etwa 40 bis 50 Reichsbanner- Leute hatten von Spandau einen Ausflug nach allenfee(?) unternommen und dort haltgemacht. Beim Abmarsch wurden zwei Kameraden vermißt. Trogdem marschierte man zunächst weiter. Man hörte aber bald darauf Hilfe. rufe und kehrte nunmehr nach Saltensee zurück. Hier waren die beiden Bermißten überfallen und schwer verlett worden. Die Reichsbanner- Leute machten vor einem Gasthause, wo daß die Leute, die die Reichbannermitglieder überfallen hatten, eine deutschnationale Beranstaltung stattfand, halt und forderten, herausgegeben würden. Als das nicht erfolgte, drangen sie in ben Gaal ein und holten sich verschiedene Leute selbst heraus. Es entstand eine allgemeine Prügelci, bei der es verschiedene Berlegte
mit einer wundervollen Stimme, riesigen schwarzen Augen und geradezu verheerendem Appetit. Die jungen Amerikaner brachten ihre Ronserven, Butter, Brot und Käse herbei und tochten Rafao. Die Damen machten aus ihrem Entzücken kein Hehl und fielen wie die Harpyen über das Essen her. Die schöne Berserin verschlang den Rest eines holländischen Käses mit schwärmerisch zum Himmel erhobenen Augen.
Dann brachte einer der jungen Leute ein Grammophon und weihte die vor Lachen kreischende Primadonna in die Geheimnisse des Foxtrott ein. Die anderen, noch immer auf der Jagd nach einem verirrten Biskuit, lachten die ganze Tonleiter herauf und herunter.
Bertram schlüpfte unterdessen aus dem Zimmer und legte sich auf sein schmales Feldbett im einstigen Arbeitszimmer des Gouverneurs von Kasan .
Diese Tänzer im Nebenzimmer glichen den lustigen Damen und Herren des Dekameron, die auch von den Greueln der Best umgeben waren.
Er schaute durch das große Fenster in die weiße Nacht hit cus. Der Mond ließ den Schnee in tausend strahlenden Funken aufbliken. Es war jetzt sehr still in dieser Stadt mit ihren Häusern, wo sich nadte Kinder und Sterbende auf dem Fußboden wälzten und wo der Typhus die furchtbare Geißel fchrang
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In dem Hause, wo Nadia mit den beiden anderen Ruffinnen einquartiert war, gelang es Bertram, eine furze Zeit mit ihr allein zu sprechen, ehe er früh am nächsten Mor gen das Schiff bestieg, das ihn stromabwärts nach Samara führen follte.
,, Ich möchte Ihnen Lebewohl sagen, auf ein paar Wochen aber nur. Nachher-
Sie fah lächelnd von ihrer Näharbeit zu ihm auf. Ein langer weißer lleberrod, so wie Aerzte ihn tragen, war beinah fertig. Run? und nachher, mein Freund?"
Er schwieg eine fleine Weile und dachte an sein ganzes Leben und feine Bedeutung, und an die Hoffnung auf eine gemeinsame Zutunft. ( Schluß folgt.)