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Sonntag

25. Januar 1925

Unterhaltung und Wissen

Blindauge und Holzfuß.

Bon Ludwig Barta.

Ich fragte die Menschen:

Wer von euch tönnte mir die Straßenede zeigen, wo der große Conrad steht, der General von Afiago, ich möchte ihm tausend Kronen fchenten..."

1.

Reiner fonnte es mir zeigen. Dagegen entdeckte ich draußen am Gürtel, wo der fühne Biadukt von einer großen eisernen Brüde unterbrochen wird, eine graue Ratte. Was sonst wäre solch ein grauer feiner Bürger, der im Keller des Lebens geschäftig tut, schnuppert, wühlt, schwiht und Kinder macht, ganz wie das graue Tier, das ja auch nie in den ersten Stod hinaufkommt, das sein Leben lang nur unten im Keller rumort?

Alte Ratte, wie tommst du zu diesem Hoderl, wie fommst du

die

Monte Groffo war ein Dred." San Michele war ein Dred."

Bab's bort zehntausend Tobe?"

Behntausend? Du wagst den Mund aufzumachen? Hundert

tausend waren's und mehr!"

" Du sprichst in die Luft hinein."

In die Luft? Was siehst du hier, wo die Augen sind?" " Du bist halt erblindet."

Auf dem Monte Grosso tam ein Flammenwerfer und brannte mir die Augen aus!"

Schau auf meine Füße!"

Beilage

des Vorwärts

Ostasien - Reise.

Bon Richard Huelsenbed.

intersturm in der Biskaya .

Bis zum Kanal ging die Sache sehr gut. Das Schiff lief ruhig wie ein Droschke.

3m Kanal gab die ersten Wellenföpfe, das Schiffchen begann teise zu schaufeln und am Bug wurde der Schaumftreifen einige Meter breiter. Der Wind frischte auf. Gegen einen flaren Horizont famen die Kreidefelsen von Dover hoch. Harrich wurde sichtbar. Einer der schönen Schnelldampfer der Dover- Ostende- Linie treuzie

ha- ha- ha! Hinschauen soll ich?" " Siehst du nicht, daß die Granaten des San Michele mir die unseren Kurs auf einige tausend Meter. Füße abgeschnitten haben?"

Die Elektrische brauft verbei; der breite Gürtel dröhnt, der große Biadukt donnert, der Wind pfeift, der Schnee fnirscht, aus einem

Mir legten uns nichtsahnend in die Kojen. Gegen Mitternacht Mein Tisch war von unsichtbarer Gewalt gehoben gegen die Tür wedte mich ein Geräusch, als würde Holz gebrochen. Ich fuhr auf. meiner Kammer geschleudert worden. Meine Bücher lagen zerstreut

am Boden.

in diefen infernalischen Luftzug, mo bie staje abftet, oben bin Herrn Hof- und Domprediger D.Döhring. harmloſe Uebung ist. Bom Borderſchiff ſchallte ein scharfes Krachen,

Eisenbahn, unten die Straßenbahn gehen, dröhnen, brausen, rat'ern und Menschen, Menschen, Menschen über dich ausschütten?"

Die Ratte aber sprach:

,,, das ist ein patentes Platzerl. Ich bin prinzipiell für Ber. tehr, denn nur aus dem Berfehr kommt Geld und ich, ich will fressen! Aber warum nennst du mich Ratte? Siehst du nicht, daß ich ein Mensch bin?"

,, Boran follte ich das erfennen?"

Sind meine Füße nicht Holz, meine Sehnen nicht Stahlschienen, meine Muskeln nicht Stahlfedern?"

Ja, wo hast du denn deine Menschenfüße gelaffen?"

,, Auf dem großen Berg, dem San Michele. Hab' ich auch feine Menschenfüße, so hab' ich doch eine Ziehharmonita."

Seine Frostnase blüht flammenrot aus dem lilafarbenen Ge ficht, in dem reglos, wie Knochenknöpfe, zwei wasserfarbene, fehende Augen stehen Aber die Hände sind geschäftig, sie drücken und ziehen, fie machen Musik:

Behüt dich Gott, es wär' zu schön gewesen, Behüt dich Gott, es hat nicht sollen sein...

Alte Ratte! Ueber dir die Eisenbahn, neben dir die Straßen. bahn, was willst du da mit deinem Lied?"

-

" Es gibt Invalide, die betteln; ich verdien' mir ehrlich mein Geld. Meine Füße sind Holz, aber ich hab' noch Charakter im Leib." Al'e Ratte! Weißt du, wie hoch der Stefansturm ist?"

12

Zu seiner Spitze reicht mein Blid nicht mehr hinauf."

Weißt du, wie hoch der Gaurisankar ist? Kein Mensch stieg noch so hoch."

Ich fize hier und mufiziere, vor mir die Bolksoper, rechts die Währinger Straße. In diesem Lärm halte ich anständiger Invalide feit zwei Jahren meinen Stand: was soll mir der Gaurisantar?"

Alte Ratte! Gewaltig hoch ist der Gaurifanfar; aber ein ge waltigerer Berg liegt auf dir, hochgetürmt: die fapitalistische Gesell. fchaft."

Eine Frau temmt daher eine Frau mit geschwollenem Bauch, im Ehrenfleid ihrer Fehen. Die Frau spricht:

Komm, Papa, es ist spät!"

Und sie greift San Michele unter die Achseln, ergreift ihn, hebt ihn hoch, stellt ihn auf. Sie montiert ihren San Michele, Rum fann er fogar gehen, der Holzfuß von San Michele.

2.

Eines Tages jedoch tam über den großen Gürtel ein Solbat, genauer gesprochen: einer, dem man' s anfah, daß er einmal ein Soldat gewesen war. Der Mann fam über die Straße mit feinen zwei Augen, beren Licht erloschen war, eine Tafel an der Brust, auf der man lesen fonnte, zu melder Tierart unserer Gesellschaft er eigentlich gehörte:

Bin im großen Weltkrieg

vollkommen erblindet

Hochwürden gestatten: mein kompliment- Die Predigt war witflich egzellent!

Mit Peitsche und Auüppel eins auf den Brägen- Das ist der wahre driftliche Segen Gesetzt, daß der Kerl dann nicht völlig betehrt Und noch zu den gottlosen Sozen schwört: Dann haut man die Bibei ihm fest auf die Neefe Und bohrt ihm das Kruzifig ins Gefcöle. So empfängt er doch quafi das Satrament Und nimmt ein gottfeilges Christenend'. Wie wär's, Here Paftor, wir machten im Dom Einen Laden auf für ord und Pogrom? Sie predigen über die wahre Liebe Und über den Nutzen der chriftlichen Hiebe; 3ch verkaufe& nüppel zu chriftlichen Preizen; Dazwischen Gelang und Orgelweisen. Wir wollen nicht, daß man mit Friedensschalmelen Und humanitären Quadfalbereien Die deutiche Seele uns weiter verhunze! Ju diefem Sinne Jhr& nüppel- Kunze.

Sprach der Blinde, in deffen offenen Augen aus Schleiern grau- gleichgültigen Himmel stürzt eine grausame Kälte herunter, die blaue Tümpel stedien:

Bo werben wir heute spielen?"

Der fleine Bub, der den Blinden am Arm führte, fprach: Wir werden schon ein gutes Plaberl finden."

Und sie tommen zu dem Bunft, wo der fühne Biadukt von der großen eisernen Brüde unterbrochen wird, oben die Eisenbahnzüge donnern, unten die Straßenbahnzüge Sturm läuten, wo der maffige Rörper der Boltsoper muchtet und die Währinger Straße ihren Ber. tehr ausspeit.

Sprach der Blinde:

Was ist das für ein Lärm?"

Sprach der Knabe;

Hier ist ein gutes Blazerl für dich."

An den Gipsabgüssen der Glyptotheken sieht man so Icere Augen. Aber der blinde Soldat mit den Gipsaugen begann zu musizieren. Er stand wie eine Säule in ungeheurer Büfte; rings um ihn das Dröhnen der Menschen und Züge und Straßen. Er spielte.

Weißt du, junge Ratte, wie hoch der Stefansturm ift?" " Den Stefansturm seh' ich nicht; bei diesem Knaben halte ich meine Augen.

Und der Gaurisankar! Ist der erst hoch! " Was soll mir der Gaurisankar? Ich spiele Balzer und Schnadahüpfel!"

Junge Ratte, gewaltig hoch ist der Gaurifantar; aber ein ge­waltigerer Berg liegt auf dir, hochgetürmt: die kapitalistische Gesell. schaft!"

Sprach der Knabe:

Biel Menschen sind hier! Hier gibt's Geld! So spiel doch. Spiel!" Und der Blinde spielte:

D Katarina! O Katarina! Trint'n mr noch a Rapuzina!..

Holzfuß trat auf und sprach:

3.

Geh weg, das ist mein Blaz!"

Blindauge Sprach:

Warum fagft bu mein Blat?"

Hier ist mein Geschäft!"

Das fag' ich auch!"

Stör ' mein Geschäft nicht!"

Das jag' ich auch!"

Die rote Spize in Holzfuß' Lilageficht flammt auf: die lichtlofen

Lumpel in Blindauges totem Gesicht fladern auf. Die Bähringer Giraße stürzt über die Streitenden... Holzfuh brüllt: " Du Rozkerl! Weißt du etwas von San Michele?" Weißt du etwas von Monte Grosso?"

Währinger Straße schwemmt ihren Verkehr über den Auflauf auf. geregter Menschen, die um Monte Groffo und San Michele streiten. Blinder, du hast recht."

Holzfuß, du mußt hier weiter mufizieren." San Michele! Du hast hier nichts zu suchen!" Monte Grosso, schau, daß du weiter fommft!"

4.

Da fam ein Schußmann. Ein hübscher, abrett gefleideter, rot. mangiger Junger:

Was gibt's hier, meine Herren?"

Er verhöhnt den Monte Grosso." " San Michele ift für ihn ein Schmarrn." Der Schußmann:

Bur Sache! Wer spielt hier immer?"

Sehen Sie, das laß ich mir gefallen. Sie haben's gleich her. aus. So muß man fragen. Ich spiele hier alle Tage, Sonntag und wochentag, ich, der alte Holzfuß."

Da entschied der weise Salomo :

Na, dann laffen wir einmal auch Blindauge etwas verdienen! heute wird er hier spielen."

Da sprach San Michele zur großen Frau mit dem geschwollenen Bauche, die in ihren ehrenvollen Lumpen wie die verförperbe bürger­liche Ordnung neben ihm stand:

Manuschta, fomm! Das halt ich nicht aus." Darauf muß ich eins trinken. Ich verfauf meinen ganzen Wochenverdienst. Es gibt teine Gerechtigkeit mehr."

Blindauge sette die Geige unter's Kinn und begann: O Katarina! O Katarina! Trinf'n mr noch a Kapuzina!

5.

Raifer Start ist tot, ihn fuche ich nicht. Wer aber fann mir fagen, an welcher Straßenede der große Conrad steht, der General Don Afiago. Ich muß ihm tausend Kronen schenken.

Fürworter als Rangbezeichnungen. Es war früher feineswegs gleichgültig, ob man einen mit Sie"," Ihr", er" oder noch anders anrebete, Sondern alle diese Anreden schlossen ganz bestimmte Rangbezeichnungen ein, und es war nicht ratsam, sich darin zu ver greifen. Juftinus Kerner gibt in feinem Tagebuch in launiger Weise bie verschiedenen, dem Range Rechnung tragenden Morgengrüße wieder, mit denen ein Schulrat, wenn er die Schulen revidierte, fich einzuführen pflegte:

Wünsch Ihnen wohl geruht zu haben, Herr Oberpräzeptor! Euch gleichfalls, Herr Präzeptor!

Wünsch Ihm guten Morgen. Schulmeister! Sind wir wohl und munter, Provisor?

Ift man auch da, Häuberle?( Das war der Schuldiener.)

In der Koje begann ein Wadelianz, gegen den der Jimmy eine als wenn Tausende von Bettüchern mit einem Zug durchrissen worden wären.

Als ich halb befleidet aus meiner Kammer heraustrat, hörte ich das Pfeifen des Windes.

Sturm in der Bistana!

Nichts ist unheimlicher als das mondlose nächtliche Meer im Sturm. Es ist, als wenn das Innerste der Welt sich brüllend ge­öffnet hat. Das Klirren und Pfeifen steigert sich von Stunde zu Stunde zu einem Ronzert von unerhörter Gewalt. Man sieht nichts. Die endlose Schwärze, das Urfeindliche umtoben höllenhundartig das Schiff.

Der Morgen zeigte die entfesselten Gewässer. Bon fernher fah man die Wellen mit schaumbedeckten Rücken wie Heerden vorsint­flutlicher Tiere heranjagen. Ungeheure Wasserberge näherten sich bem Schiff und drohten, es unter sich zu begraben. Bom Reling des Laufganges war man diesen tödlichen Massen ganz nahe. Auf einige Meter hatte man sie mit der Hand berühren können. Man spürte geradezu ihren eisigen Atem. Man schauerte vor Entsetzen und Neugierde.

Aber immer, wenn man glaubte, daß das Schiff hätte unter den gläsernen Stürzen begraben werden müssen, wurde es von ihnen gehoben weit in die Luft und den Sturm gehoben, und das Waffer rollte mit dröhnender Gewalt unter dem Kiel dahin.

-

Das Schiff hob sich bis zu einer schwindelnden Höhe und stürzte bann tief in das Wellental hinab. Es legte sich von einer Seite auf die andere, so weit, daß man meinte, es müffe jeden Augenblick fentern und fieloben treiben. Es stöhnte und schnaubte wie ein er mattetes Tier. Unaufhörlich flatschten die Scen auf das Dec.

Die Matrofen in Delsachen, mit breiten Südwestern liefen an ben gezogenen Striden so schnell fie tonnten. Sie paßten eine fleine Pause ab, wo das Schiff in der Tiefe eines Wellentales einen Augen­blick Ruhe hatte, um nicht von den Wassermassen erwischt zu werden. Eine Stunde lang schien der Wind Einsicht zu haben, dann Steigerte fich der Sturm zum Orfan .

Die Sache begann das Vergnügliche zu verlieren.

Die Bewegungen des Schiffes wurden immer feiltänzerischer. Das Meer tobte, brüllte, donnerte.

Es begann zu hageln. Der Sturm hatte eine foldye Gewalt, daß man nicht aimen fonnte, wenn er einem entgegenblies. Er riß einem die Kleider vom Leibe, er zerschnitt einem mit Messern das Gesicht.

Immer wieder wurde man hingerissen von der Großartigkeit des Schaufpiels aber die unheimliche ängstliche Note begann, sich in den Bordergrund zu drängen.

Die Brecher schlugen bis auf die Rommandobrüde hinauf. Das ist die christliche Seefahrt," sagten die Matrosen wütend zwischen den Zähnen.

Das Hinterschiff hatte das Meifte auszuhalten. Das reine Unterseeboot," sagte jemand.

Durch den Gang der Rudermaschine lief das Wasser in die unteren Schiffsräume. In den Rammern, wo die Ingenieur­afpiranten schließen, stand es bald 10 Zentimeter hoch. Es begann in den Maschinenraum zu tropfen.

Die Pumpen wurden flar gemacht.

Am Abend des zweiten Tages schlug eine See mit solcher Ge­walt auf das Hinterdeck, daß eine Holztiste aus dicken Bohlen zehn Meter weit über Ded geschleudert und wie eine Spielzeugschachtel zertrümmert wurde.

Ich gestehe, daß meine Zähne zu flappern begannen. Seit 48 Stunden war nicht an Schlaf zu denken. Wir erwarteten den dritten Tag.

Da war es, als hätte jemand, ein übermächtiger Geist, den Wind abgedreht.

Es blieb noch eine himmelhohe Dünung, aber die Gefahr war vorbei.

" Das war furchtbar," sagte ich zu einem Erfahrenen, dem das Meer feit einem Menschenalter Heimat ist.

Der Mann lachte.

' n bißchen schlechtes Wetter in der Biskaya ."

Gibraltar .

Das Meer hatte sich beruhigt.

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Nur eine Dünung war noch vom Sturm in der Bistana zu radgeblieben so hoch, daß die Schiffe wie zwischen Hügein fuhren, hinter denen fie zeitweise ganz verschwanden. Wir hatten die Tajo - Mündung hinter uns gelassen. Auf zerflüfteten, fahlen Fels schien die Sonne. Manchmal jah man ein Segel, das vorsichtig an der Rüfte entlang steuerte.

Am folgenden Morgen tam Trafalgar in Sicht. Dann die blaue afrikanische Küste. Bet herrlichstem Better liefen wir in die Straße von Gibraltar ein.

Sehen Sie dort die äußerste Spize von Europa , Europa point," sagte der Kapitän.

Er erzählte, wie er 1915 von den Engländern gefangen ge­nommen wurde. Auf der Fahrt von Südamerika nach Deutschland , auf einem Schiff, das als Norweger frisiert war.

Das wedt jedesmal wehmütige Erinnerungen in mir, wenn ich um diese Ede tomme."

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Gibraltar ist nur ein Fels, der mit dem Lande durch eine fahmale Zunge verbunden ist. An der Landseite flebt eine fleine Ortschaft. Hier wohnt der englische Gouverneur mit seinen Damen. " Sehen Sie dort nehmen Sie das Glas das sind die Safematten, in denen zahlreiche Deutsche während des Krieges ge feffen haben. Alle, die auf der Fahrt vom Süden her von den Schiffen gefangen wurden, wenn sie unter irgendeiner Verkleidung die Heimat zu erreichen suchten, mußten hier zuerst unfreiwillige Station machen."

An einigen Felswänden flebt dürftiges Grün. Sonst eine troft. lose Grauheit.

Nach der Seefeite haben die Engländer den Fels zementiert. Er sieht aus wie glatt gewalzt.

Wenn hier die Sonne nicht scheint, muß man tiefsinnig werden. Wo Engländer hinkommen, hat man gesagt, wird die Welt nüchtern.

Die Besizergreifung Gibraltars wirft wie ein fühner Piraten­ftreich. Sie haben sich einem großen Bolt, den Spaniern, direkt auf die Nase gefeßt. Sie find zähe, verschlagen und sehr moralisch.

Sie haben mit einer Art moralischer Korrektheit die Welt erobert.