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Freitag

27. Februar 1925

Unterhaltung und Wissen

Wiſſen IV...

Das alte und das neue Gesicht".

Bon Dr. Colin Roß.

Aus: Collin Rog. Da's meer der Entfheidungen, Das Gedränge des Tages war in der abenddunkein Straße schon abgeflaut, nur die Korbflechter und Möbeltischler waren in ihren offenen Werkstätten noch an der Arbeit und fahen kaum auf, als Die lauten Gongfohläge die Straße erschütterten und aus der Seiten­gaffe Lampionträger einbogen, deren leuchtende, große Kugeln rote Wunden in die Nacht biffen.

beiderseits des Pazifit( Brodhaus, Leipzig ).

Hinter den Lampionträgern und Gongschlägern aber fam etwas wie ein glühender Blumenftrauß, eine mit fünstlichen Blüten ge­schmückte Sänfte, die durch elektrische Birnen von innen er­leuchtet mar.

So- lim- gun" jagte, auf die Brautfänfte deutend, der aite Korb­f'echter, mit dem ich gerade wegen Ankaufs einiger Liegestühle ver­handelte. nahm an, daß es wohl ein Mädchen dieses Namens aus der Nachbarschaft sein müsse, das da in der flammenden Blumen­fänfte aus der Obrigkeit seiner Eltern in die des Ehemannes getragen uurde. Dreifacher Gehorsam macht nach Konfuzius das Leben der Frau aus. Zuerst hat sie den Eltern zu folgen, dann dem Ehemann, und wenn dieser gestorben, dem erwachsenen Sohn.

SD

Wenn die Sänfte mit der Braut in feierlichem Umzug im Haus der Familie des Mannes angekommen ist, verschwindet die junge Frau auf immer in den Frauengemächern der neuen Familie, Stiavin nicht nur des Mannes, fondern vor allem auch der Schwiegermutter und der Frauen der schon verheirateten älteren Schwäger. ermartete es der alte Korbflechter auch von der Nachbarstochter Ko- lim- gun. Aber ich glaube, er irrte sich: denn als ich, weiter durch die Straßen schlendernd, um eine Ede biege, steht ihre Sänfte am. Straßenrain, und Lampionträger wie Gongichläger find eifrig dabei, die elettrische Batterie der Sänfte auszubessern. Gerade leuchteten dis Glühbirnen wieder auf, und der feierliche Zug setzte sich wieder in Bemegung, als ich dazukam. An der Art, wie die Sänfte beim Hochnehmen schräg gelegt wurde, sah ich, daß fie leer war.

Augenscheinlich war Ko- lim- gun, die vielleicht eine europäische Erziehung genossen hatte, bereits zu modern, um sich in eine Sänfte. sperren zu lassen. Aber andererseits hatten die Eltern der Braut mohl nicht gewagt, auf die alle Zerenomie zu verzichten, aus Angst, fonft ihr Gesicht" zu verlieren und so verfiel man auf den Ausmeg, tie leere Sänfte durch die Straßen zu schicken. Das Gesicht" des Chinesen ist eine ganz eigene Sache, es ist nicht nur die persönliche Einschätzung seiner selbst, sondern vielmehr das Ansehen und die Stellung, die er bei den anderen genießt. Man zeigt seiner Um­gebung ein bestimmtes Gesicht, dem dann alle persönlichen Hand­lungen mie auch die Behandlung durch die anderen zu entsprechen haben. Irgendwelche Beleidigung oder Herabſegung durch einen onderen hat ebenso den Berlust des Gefichts zur Folge, wie eine von ihm selbst begangene minderwertige Handlung.

In diesem Gesicht liegt der Schlüssel zur chinesischen Ethit. Die Frage ist nur, wie sich unter den heutigen Verhältnissen das Gesicht cinzustellen hat. Hätte vor zehn Jahren noch die Frau aus dem Haus auf Arbeit zu gehen gemagt, fo hätte nicht nur sie, sondern die ganze Großfamilie, der sie angehört, das Geficht verloren. Hätte ein Mann gewagt, anders als auf dem üblichen Weg zu heiraten, so wäre die Schmach des Gesichtsverlustes ebenfalls auf seine ganze Sippe gefallen.

Un einem der nächsten Tage lernte ich Ko- lim- gun persönlich fennen; das heißt, ob es gerade fie war, meiß ich nicht. Aber es war eine junge Frau, die erst vor wenigen Tagen geheiratet hatte. Sie ſtand inter einer Spinnmaschine in blauseidener Jade und Hose und mit gestickten Pantoffeln und sie benahm sich genau so frei und ungezwungen unter Arbeitskollegen und Kolleginnen mie eine Europäerin.

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Das alte Familiensystem und die überlieferten Ideen, die auf deffen Prinzip beruhten, waren lange genug eine starte Mauer, gegen die der Sturmbod der westlichen Industrie vergeblich anrannte. Daß sie nicht mit einem einzigen Stoß Bresche schlug, sondern nur allmählich die albe Ethit ins Banken brachte, war für China ein Glüd. Heute ist die Lage die, daß sich das Alte und Neue nicht im Innern, aber an dem bereits europäisierten Rand, als gleich Starte Fattoren gegenüberstehen. Und das Geficht" des Chinesen beginnt sich langsam und allmählich den Anforderungen der Industrie

Der Sohn.

Bon Paul Gutmann.

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Nach anregender Fahrt das üppige Hügelgelände entlang, mit hohen Gebirgszügen, auf Hügeln gelegenen Ortschaften, die wie von Künstlerhand behauene Felsblöde aussahen, fruchtbaren Gärten und Aeckern, durcheilte der Zug eine eintönige, flache Landschaft. Das verwöhnte Auge empfand diese Nüchternheit nach soviel heite­Ten Eindrücken als Kränkung, und man zog sich verdrossen in fich selbst zurück. Mir gegenüber fauerte in einer Ede ein Mann mit cuffallend bleichem Gesicht, großer Habichtsnase, wirren schwarzen Haaren und einem grauen langgezogenen Schnurrbart. Er war in Ravenna eingestiegen und hatte sich sofort in einen, wie ich sah, französischen Roman vertieft. Da er der einzige Fahrgast im Abteil cußer mir war, beschäftigte ich mich in Gedanken mit ihm. Was mochte er fein? Spieler, politischer Abenteurer, Hochstapler?

Auf einer kleinen Station, wo unser Zug auf einen anschließen­den Zug warten mußte, famen neue Fahrgäste zu uns, ein italie­nisches Ehepaar mit einem etwa dreijährigen Kind. Wir schien es, als ob mein Gegenüber, wie von einer widerlichen Empfindung be­rührt, aufschredte. Die Eltern des ungewöhnlich hübschen Kindes lächelten uns befeligt an, als wollten sie sagen, welches Heil ist euch widerfahren, daß ihr mit einem folchen Engel beijammen sein dürft. Eie lieblosten das Kind, einen Knaben, gaben ihm einen Leder­biffen nach dem andern, forderten seine Unarten heraus, ließen sich von ihm sogar scherzhaft schlagen. Dann lachten fie laut auf und blidten uns nach Art verliebter Eltern fragend an, ob mir nicht ebenfalls ihre Bonne über den Sprößling fühlten. Das Kind gab mir die Hand, die ich freundlich schüttelte." Gib dem andern Herrn auch die Hand", fagte wohlwollend die Mutter.

Da geschah etwas Befremdendes. Der Herr ballte wütend die Fauft und zischte auf polnisch:

felhaftes Gezücht!"

Das Kind wich erschrocken zurüd und barg ängstlich den Kopf im Schoß seiner Dutter. Ich bemerfte, wie der Bater mit Daumen und Beigefinger eine fleine Korallenhand an seiner Uhrfette drehte, offenbar ein Amulett gegen den Malocchio ", der bösen Blid. Die Mutter machte verstohlen das Zeichen des Kreuzes über die Stirn

des Kindes.

Bon nun an herrschte eisiges Schweigen. Der Pole hatte sich noch mehr in die Ecke gefouert und hielt frompfhoft die Augen ge fchloffen Die Eltern hatten ihr Kleinod in die Mitte genommen und schützend die Arme darüber gebreitet, als drohte ihm eine Ge­

gemäß zu mandeln. Heute verliert die Sippe nicht mehr ihr Gesicht, menn eine ihrer Frauen in die Fabrit geht, sie verliert es aber, menn die Frau aus irgendeinem Grund aus der Fabrit entlassen wird, ebenso wie sich die ganze Großfamilie gewissermaßen für die Ehr felten, in denen die Sippe Ersatz für gestohlenes Gut leistete und den lichkeit ihrer Mitglieder haftbar fühlt. Tatsächlich find Fälle nicht Schuldigen härter und unerbittlicher nach dem Familiengesetz strafte, als es das Gesetz getan hätte.

Andererseits bedeutet die Sippe für den Arbeiter im Streitfall einen Rückhalt. Legt die Arbeiterschaft die Arbeit nieder, so kann der Arbeitgeber lange auf ihre Rückkehr warten. Sie geht in den Schoß der Familie zurüd, und die Tausende und Tausende von

Reichsbanner Schwarz- Rot- Gold.

Pauls fuimpote of 3 25.

Der Schaft scheint doch recht hart zu sein!"

Sippen vereint, fönnen auch eine starte, tapitalfräftige Industrie zum Nachgeben zwingen. Der große Seemannsstreit in Hongtong mar eine Warnung.

In den Sälen der großen Seidenfpinnerei, durch die mich der Direktor führt, herrscht eine erbrüdende Hize. Die Fenster dürfen nicht geöffnet werden, meil die Güte der Seidenfotons under frischem Luftzug leiden würde. Haar und Kleider der Mädchen sind naß von Schweiß. Trotzdem find manche mit farbenprächtiger Rofetterie getleidet und einzelne Frisuren stellen den Höhepunkt des Raffine­ments dar. Die verheirateten Frauen beschränten sich jedoch in der Regel auch heute noch auf schwarz und blau und auf das glatt nach hinten gescheitelte Haar.

Unter den Arbeiterinnen sind sehr viele Verheiratete. Sie zahlen dem Kontraktor am meisten", meinte mein Führer, unter hinweis auf den Anteil am Berdienst, den sich der Kontraktor für Verschaffung des Arbeitsplatzes verschreiben läßt. Ko- lim- gun, die junge Frau, ist also durchaus teine Ausnahme, sei es nun, daß sie als junges Mädchen schon in der Fabrik tätig war und mit ihrer Berdienstmöglichkeit ihre Heiratschance steigerte, oder daß fie erst als verheiratete Frau die Fabritarbeit aufnahm, um zum Familien­unterhalt beizusteuern. Die alte Moral ist arg ins Banten ge­kommen. Aber eine neue, den Anforderungen des modernen Lebens angepaßte, ist bereits überall bemerkbar.

fahr. Sie flüsterten aufgeregt miteinander. Auf der nächsten Station flüchteten sie mit dem Kind in einen andern Wagen.

Der Pole reckte sich befreit auf. Er sah mich an, wie jemand, der sich gern mitteilen möchte. Ich fam ihm entgegen und sagte zu ihm auf französisch:" Sie haben das arme Kind aber unfreundlich behandelt".

,, Ich kann diese verrückte Liebe zu Kindern nicht ausstehen", antwortete er in gutem Deutsch. Warum verhätschelt man Kinder? Kinder sind kleine Bestien, die sich zu großen Bestien auswachsen." ,, Sie waren doch selbst ein Kind", versuchte ich einzulenten. Er lachte höhnisch. Ich will Ihnen eine kleine Geschichte er­zählen. Als ich ein Kind war, hielten mir meine Eltern ein win­ziges Krokodil als Spielzeug in unserm Garten. Es war ein rei zendes Tier, in das wir alle vernarrt waren. Aber es muchs heran, chne daß man es recht bemerkte, und eines Tages, als ich wieder mit ihm spielte, biß es mich in die linke Hand. Die Narbe können Sie noch sehen. Jetzt entdeckte mein Vater, daß es ein großes Kro­fodil geworden war und totete es."

Ich sprach noch einmal zugunsten der Kinder, von ihrer Lieb­tichkeit, ihrer Klugheit und unverbildeten Natürlichkeit. Er brach wieder in ein häßliches Gelächter aus, während seine Augen von verborgener Bosheit funkelten. Als Erwachsener hatte ich noch einmal solch ein Krokodil, wissen Sie, mein Herr, nämlich einen Sohn. Darf ich offen zu Ihnen reden?"

Beilage des Vorwärts

Die Industrie löst in dem von den Fremden infizierten Rand die Frau mehr und mehr aus ihren alten Bindungen. Im Theater, auf Reisen, bei Diners, nicht zuletzt im Kino, ist die Frau neuerdings immer dabei. Eine vornehme Chinesin in blauseidenen Hosen, die fäßt, ist in den Hasenstädten teine seltene Erscheinung mehr, sicher sich im eleganten Automobil von ihrem Chauffeur spazierenfahren bereits alltäglicher als der abgeschloffene Tragstuhl der alten Schule.

Das Mimikry- Problem.

Die oft verblüffende Aehnlichkeit gewisser Tiere mit anderen und sonstigen Naturprodukten hat befanntlich zu der Anschauung geführt, daß es sich um eine Schutzanpassung" handelt. Wehrlose Tiere sollen gefürchtete Formen oder unbeachtet bleibende Pflanzenteile usw. nachahmen".

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Wie vorsichtig man aber in der Deutung solcher Erscheinungen als Mimikry" sein soll, zeigen schon wenige Beispiele von ver fehlter Mimikry. Die indischen Blattheuschrecken ahmen mit folcher Vollkommenheit Pflanzenteile nach, daß sie weit über das Zick hinausschießen. Da sind auf den Flügeln vergilbie Blätter mit allen Farbenabstufungen, mit dem vollständigen Nervenney, mit Minen­gängen von Raupen, Tautröpfchen usw. zu sehen: Wo bleibt aber die schüßende Wirkung, wenn ein solches Blatt" davonläuft, ein 3weig" am Baum herumfriecht, wenn diese auffallend gefärbten Tiere mie sie es häufig tun! auf hellen, blendenden Flächen figen oder ihre Flügel ausbreiten, so daß ihre schützende" Unterseite unsichtbar ist? Gewisse Schmetterlinge tragen auf ihren Flügeln Zeichnungen, die Maden, Beeren usw. durchaus ähnlich sind. Eine Schuhwirkung müßte hier illusorisch sein, man sollte meinen, die Vögel würden durch die Zeichnungen gerade erst angelodt. Erkennt der Bogel indessen diese Bilder nicht als Maden oder Beeren an, dann wird er sich noch weniger um die anderen Maskeraden wie Nach­ahmung von Blättern, Zweigen und anderen Tieren fümmern. Das Hauptargument geegen die Mimitry- Theorie ist jedoch die Tatsache, daß die angeblich nachgebildeten Pflanzenteile in dieser Form auf der Erde noch gar nicht vorhanden maren, als die betreffenden Tiere zum ersten Male auftraten. Kann man von Nachahmung sprechen, wenn das Vorbild" erst viel später auftaucht? Mit mehr Recht tönnte sogar behauptet werden, die Pflanze ahmt in ihrer Blattform einen bestimmten Schmetterling nach denn er war ja schon früher auf der Erde vorhanden! Eins der ältesten Tiere ist z. B. die 11r­Schabe des mittleren Silur, die blattähnliche Flügel besaß, troßdem damals noch feine Laubhölzer egiftierten!

Immerhin ist zu bemerken, daß an die Stelle der unhaltbaren Mimikry- Theorie noch nichts getreten ist, das alle diese Erscheinungen restlos erklärt. Bieles läßt sich indessen durch Parallelentmid= lung deuten: gleiche klimatische und sonstige Lebensbedingungen üben auf alle. Organismen gleiche oder ähnliche Wirkungen aus, so daß sich verwandtschaftlich entfernt stehende Tiere doch ähneln, mie 3. B. die Wale den Fischen, die Mauersegler den Schwalben ähnlich find. Jedoch reicht diese Anschauung bei weitem nicht für alle Fälle aus.

Wo liegt der Mittelpunkt der Welt? Vor 325 Jahren mußte Giordano Bruno den Opfertod erleiden, weil er der neuen Koperni­fanischen Lehre huldigte, die die Erde nicht mehr als Mittelpunkt der Welt ansieht. Heute sind wir schon längst wieder über die Erkennt­nis hinausgelangt, daß die Sonne der Mittelpunkt des Kosmos sei. Bielmehr soll die Sonne, wie der französische Astronom Charles Nordmann darlegt, 2300 Lichtjahre vom wahren Mittelpunkt des Weltalls entfernt sein. Der holländische Astronom Pannekoek ist nämlich auf Grund seiner Beobachtungen dazu gelangt, einen Mittel­punkt der Welt anzunehmen, der 700 Parsec von unserem Sonnen­system entfernt ist. Um sich diese Entfernung flarzumachen, bedenke man, daß der Parsec eine astronomische Einheit ist, die 3,26 Licht­jahren entspricht. Wer eine anschauliche Vorstellung von einem Lichtjahr gewinnen will, denke an den Abstand der Sonne von der Erde, die 150 Millionen Kilometer beträgt, eine Entfernung, die das Licht mit seiner Geschwindigkeit von 300 000 Kilometer in der Sekunde in einem Zeitraum von 8% Minuten zurücklegt. 700 Bar­fec, also 700 mal 3% Lichtjahre, ist der neue mutmaßliche Welt­mittelpunkt, den der holländische Gelehrte in das Sternbild des Ein­horns verlegt, von uns entfernt.

| mich begreifen werden. Aber für mein Berhalten gegen das Kind, wofür Sie mich vorhin tadelten, möchte ich Ihnen Rechenschaft ah­legen. Sie haben gesehen, wie es seine Eltern schlug und wie diese glücklich maren, sich von ihm schlagen zu lassen. Das ist die Wurze! des Uebels. Das ist das Entseßen unserer Zeit. Der Anblid macht mich wahnsinnig. Schlage deine Kinder, wie es in der Bibel heißt, und mie deine Bäter es taten, sonst wirst du von ihnen geschlagen. Gib ihnen nicht nach. Sei hart zu ihnen."

Er setzte sich wieder. Seine Augen schimmerten in feuchtem Glanz. Den Kopf in die Hände gebeugt, sagte er mit feuchendem

Atem:

Ich will nicht den Fehler begehen, die heutige Jugend zu ver­urteilen. Aber der Unterschied zwischen ihr und uns ist größer, als er je zwischen zwei Generationen früher gewesen. Sehen Sie sich diese Tänze an, zu denen mein Bruf mich zu spielen zwingt. Ich bin noch nicht alt genug, um diese verlebte Müdigkeit mitzu= empfinden. Noch heute kann ein lebenstoller Walzer, eine verzückte Mazurka, ein feuriger Czardas mich in Raserei bringen. Warum ich Ihnen das sage? Weil es ein Beispiel ist, was mich von dieser Jugend trennt. Sie kann sich im Gefühl nicht hingeben, fie fann mur begehren; sie kann nicht schenken, nur nehmen; sie ist seelisch faul, verfettet wie ein orientalischer Despot."

Ich mußte über die verbissene Wut, momit er diese letzten Worte gesprochen, im stillen lächeln. Ersichtlich ein Liebender.

Er stützte seine Hände auf die Knie, beugte den Oberkörper der zum Hasser geworden war. vor und berichtete mit fliegendem Atem:

Ob er schön war? Das Kind, das vorhin in unserm Wagen laß, hätte neben ihm ausgeschaut wie eine Mißgeburt. Bir Eltern waren in ihn verliebt bis zur Verrücktheit. Jeden Laut, jede seiner Bewegungen studierten wir wie eine Offenbarung. Er war fränt­lich. Wir wachten an seinem Bett die Nächte hindurch, belauschten icben seiner Atemzüge. Meine Kunst mußte ich darüber vernach laffigen. Ich bin Geiger von Beruf. Ich hatte einen Namen. Ich verachtete meine Erfolge; denn ich hatte ja etwas viel Wertvolleres,

meinen Sohn."

Er machte eine Pause, als müßte er sich von einer allzu schmerz lichen Erinnerung erholen. Er war die Zukunft", fuhr er fort, ich die Vergangenheit. Was war ich im Vergleich mit ihm! Ich hatte leichte Mufit gepflogen, den Leuten zu Gefallen gespielt. Er sollte nur die großen Klassiker kennen lernen: Bach, Händel, Beet boven. Ich zeigte ihm, daß er etwas Besseres werden müsse, als sein Bater. Ich erzeugte ihm, aus Liebe zu ihm, Geringfchäzung gegen mich. O, wie verstand er sie auszunützen!"

Er stand crregt auf und blidte in fichtlichem Schmerz eine Weile stair aus dem Fenster. Dann drehte er sich um und fuhr stehend fort: Mein Herr, Sie sind mir ja fremd, ich weiß nicht, ob Ste

,, Mein Sohn, den ich noch mehr liebte, seit meine Frau mir gestorben war, hatte alle Laster dieser Zeit. Das Ungewöhnlichste war ihm selbstverständlich. Wenn die ältesten Throne Europas mie Kartenhäuser zusammenfallen, was bedeuten dann noch fleine fami­liäre Rücksichten und Gefühle! Das Alte wird zur Lächerlichkeit. Ein Bater ist eine komische Figur. Ich war es in der Tat. Warum bin ich, obwohl ich das alles erkannt hatte, als ich mich in einem Beib verjüngte und Nadja, meine zweite Frau, zu mir ins Haus nahm, warum bin ich da noch Bater geblieben! Ich hätte die auf­rührerische Brut aus meinem Herzen und aus meinem Haus heraus­reißen müssen. So schenkte ich in meinem Sohn meiner Frau den Liebhaber, der mich betrog."

Er machte eine kleine Pause und starrte mir mit leblosen Augen ins Untlig. Sehen Sie diese Hand an, mein Herr. Es ist dieselbe Hand, womit ich meinen Sohn tötete.

Ich fuhr erschreckt zusammen. Er lächelte wehmütig. Die Tat ist nach dem Gefeß gefühnt. Ich bereue fie nicht."

Der Zug hielt. Der Schaffner rief: Ferrara . Der Fahrgast mar aufgestanden und hatte seine paar Sachen eilig zusammengerafft. Im Hinausgehen sagte er zu mir: Nehmen Sie einen Rat an, mein Herr. Zeugen Sie niemals einen Sohn!"