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Nr. 136 42. Jahrgang

1. Beilage des Vorwärts

Sonnabend, 21. März 1925

Kampf dem Elendiviertel!

India'

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Die Entschlossenheit und Handlungstraft der amerikani­ schen   Gewerkschaften auf allen Gebieten wirtschaftlicher För Derung ihrer Mitglieder hat etwas Borbildliches. Der Gedanke der Ronsumgenossenschaft hat drüben einen fruchtbaren Boden gefunden, und wenn sich jetzt vier der bedeutendsten Gewerkschaften Don New York   zu einem genossenschaftlichen Bauunter ehmen zusammengeschloffen haben, so ist damit von Arbeiterfeite in einer auch für europäische Verhältnisse sehr lehr= reichen Weise der Feldzug gegen den allen Großstädten an­haftenden Schandfleck der Slums", der elendesten Wohnquartiere, eröffnet worden.

Niederlegung der Elendsquartiere.

In Deutschland   hat man von städtischer und privater Seite aus die Schaffung neuer, gesunder Wohnviertel meistens mit einer Aufteilung des Peripheriegeländes der betreffenden Städte unter­Aommen. Sicherlich ist in diesen neuen Arbeiter- und Mittelstands­siedlungen, wie hier fürzlich ausführlich dargelegt, häufig nicht über­mäßig sorgfältig und feineswegs immer mit gutem Material ge­baut worden, eine Erscheinung, die an fich noch nicht gegen die Vorstadtsiedlung spricht. Auf alle Fälle aber ist es ihr Nach­teil, daß ihre Bewohner selbst unter günstigen Berkehrsverhältnissen durch eine Fahrtstunde oder mehr von den im Stadtinnern gelegenen Arbeitsstellen und von Theatern, Konzertsälen, Mujeen und billigen Großgeschäften trennt. In New Vort, wo der fatastrophale Mangel on Baugelände auf der schmalen Halbinsel Manhattan   das Woh nungsproblem dauernd aufgerollt hält, hat man jetzt einen inter= effanten Versuch zu feiner Lösung unternommen. Die oben erwähnten Gewertschaften wollen nämlich den Neubau von Jonnigen und luftigen Wohnhäusern mit der Niederlegung von Elendsvierteln verbinden. So ergibt es sich denn, daß im Herzen New Yorks  , wo bitterfte Armut, Laster und Berbrechen nebeneinander wohnen, plötzlich Bauland in beträchtlichem Ausmaß vorhanden ist. Dort unten im südöstlichen New York  , wo die Grant Street mit ihren schmalen, dunklen Nebengassen ein düsteres Bild von der Welt­metropole gibt, ein Bild, von dem der eilige Reisende im Glanz der Bolfenkrazer und Vergnügungsviertel wenig ahnt, dort werden num Backsteinhäuser in große Höfe herum entstehen. In jener Gegend find jetzt noch 81% des Baugeländes bebaut, 11% mehr als die amerikanische   Bauordnung gestattet. Die neuen Wohnhäuser sollen 30% weniger Boden deden und trotzdem noch für allerlei in diesem Viertel sonst nicht sehr bekannten Komfort Raum haben, Bäder, Waffertoiletten, mehrere Treppenaufgänge, 3enfralheizung und Warmwasserversorgung. Es ist wahr, man legt drüben nicht all­zuviel Wert auf besondere architektonische Reize dieser Häuser. Es find schmucklose, glattwandige Steinfästen von höchster Nüchternheit, die immerhin durch die Art ihrer monumentalen Aneinanderreihung wirken fönnen. Aber wesentlicher als die Befriedigung des Formen-|

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Anthony John.

Roman von Jerome K.   Jerome.

Die Frau gab teine Antwort, wußte, daß der Vorwurf gerechtfertigt sei. Anthony Johns Bater war ein guter Mann, nüchtern und gütig in feiner jammernden mürrifchen Art. Ihre Familie, und auch sie selbst, hatten die Heirat für ein Glück gehalten. Sie war in Dienst gewesen, verachtet von ihren Freundinnen, die in Fabriken und Geschäften ihren Lebensunterhalt verdienten. Er hingegen war ein halber Herr, obwohl es heute schwer fiel, dies zu glauben. Die Strong'nth'arms waren früher reiche Bauern gewesen. Es hieß, Mitglieder der Familie lebten in Wohlstand in den Kolonien, und auch heute noch hofften Mann und Frau, daß irgendein entfernter Berwandter ihnen ein Vermögen hinter­Lassen werde. Anderenfalls ewiger Kampf gegen den Hunger. Der Mann hatte sich eine eigene Mechanikerwerkstatt einge­richtet. Es gab für derlei Werkstätten Arbeit genug in Millsborough, aber John Strong'nth'arm gehörte zu jenen Unfeligen, die stets den falschen Weg einschlagen. Er war eine Art Erfinder; einige feiner Ideen waren äußerst ein träglich gewesen, für andere Leute.

,, Räme ich doch zu meinem Recht. Widerführe mir Ge­rechtigkeit! Wäre ich nicht betrogen und beraubt worden!" Mit diesen Worten wurde der kleine Anthony John bald ver­traut; er hörte sie gesprochen von einer schrillen schwachen Stimme, die meist in einem Hustenanfall erstickte, jah geballte Hände in vergeblichem Flehen emporgehoben zu jemandem, den der Bater durch die Decke der dunklen unordentlichen Werkstatt zu sehen schien. In dieser Werkstatt lagen die Dinge fast alle auf dem Fußboden, und der Vater suchte unentwegt nach etwas, das er nicht finden fonnte. Ein findischer guter Mensch. Hätte er über ein gesichertes Einkommen verfügt, fo würde eine Frau ihn geliebt, mit seiner Schwäche Nachsicht empfunden haben. Aber bei den Armen darf es feine Schwäche geben. Sie fönnen sich diesen Lurus nicht leisten. Instinktiv wußte das Kind ,, wie sehr die Mutter den träume­risch blickenden, stets von, Alengsten geplagten Mann verachtete. Trozdem war es der Bater, den er zuerst lieben lernte, wenn gleich es von der Mutter Antwort auf seine Fragen und Erfüllung seiner Wünsche erwartete. Die unordentliche Werf statt mit dem lodernden Herd war Anthony Johns Kinder­zimmer. Seinem Gefichtsausdruck nach zu urteilen, befriedigte es ihn ungemein, wenn der Vater ein Werkzeug fortlegte und

gefühls ist hier die Ausnüßung der freien Flächen. Spielplätze, Planschwiesen, Sandhaufen für die Kleinen, gärtnerische Anlagen für die Großen garantieren jedem Einwohner die nötigen Kubikmeter Luft und Sonne. Und dies alles inmitten des finsteren New York  !

Ein New Yorker Elendsquartier.

es schon im nächsten Augenblick nicht mehr zu finden ver­mochte. Das Kind beobachtete eine Weile den fluchenden Mann, dann fprang es von seinem Sig, reichte dem Bater das Gesuchte. Allmählich gewöhnte sich der Mann daran, pon Anthony John Hilfe zu erwarten.

,, Sahst du nicht zufällig, wohin ich gestern das fleine Nickel­rad legte?" fragte der Bater. Und John, der Mann, arbeitete weiter, während Anthony, das Kind, eine Minute später das gesuchte Rad herbeibrachte. Einmal mar der Vater den ganzen Nachmittag fort gewesen; als er am Abend die Werk statt betrat, blieb er stehen, starrte staunend vor sich hin. Der große Tisch war abgestaubt worden, alle Werkzeuge lagen der Reihe nach geordnet darauf. Er verharrte noch immer wie gebannt, als sich leise die Tür öffnete und ein fleines grinsendes Geficht hereinlugte. Der Mann brach in Tränen aus, suchte dann voller Beschämung vergeblich nach einem Taschentuch. Das Kind steckte ihm reine Holzwolle in die Hand und lachte.

Jahre hindurch wußte das Kind nicht, daß die Welt auch noch etwas anderes sei, als dunkle Gassen und stintende Slums. In der Nähe der Wohnung befand sich der Marktplag, wo Männer brüllten und fluchten, Frauen freischten und feilschten, Kälber blökten und Schweine quieften. Etwas weiter entfernt war ein zertrampelter Rafen mit verrußten Sträuchern, um­geben von rauchspeienden Schloten. Bisweilen, an jenen Tagen, da der Vater das Schicksal mehr verfluchte denn sonst, und noch häufiger als gewöhnlich die geballten Fäuste zur Werkstattdecke emporstreďte, verschwand die Mutter auf viele Stunden, tehrte mit allerlei guten Dingen zurück, die in braunes Papier verpackt waren. Und am Abend wurde jemand, der in weiter Ferne lebte, gesegnet und gepriesen. Das Kind fragte sich, wer wohl dieser Jemand fei; war es etwa der Unbekannte, oberhalb der Werkstattdecke, dessen Ge­rechtigkeit der Bater so oft anrief? Aber nein, das war un­möglich, ist doch dieser Unbekannte oberhalb der Werkstatt­decke anscheinend stocktaub; die Mutter hingegen fehrt nie mit leeren Händen zurück.

Eines Abends erschollen in der Gasse Gesang und der Klang eines Tamburins Der fleine Anthony öffnete die Werfftatttür und spähte hinaus. Etwa ein halbes Dugend Männer und Frauen standen auf dem Bürgerffeig, und eine Frau hielt eine Rede. Sie sprach von einem Herrn, den sie Gott nannte. Er wohnte sehr weit fort und sehr hoch oben. Alle guten Dinge famen von ihm. Sie erzählte auch noch anderes, redete über die Herrlichkeit und die Macht dieses

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Billigere Wohnungen.

Aber damit nicht genug. Die Dollarmillion, die von den Gewert­fchaften zunächst für die Errichtung eines Musterhäuserblocks der ge­schilderten Art bereitgestellt ist, wird den Gewerkschaftsmitgliedern nicht nur neue, gefunde Wohnungen schaffen, sondern ihnen diese Wohnungen obendrein noch erheblich billiger machen als die stickigen Löcher in den Slums". Siebzig Prozent der in Groß- New York  lebenden Familien haben ein Jahreseinkommen unter 2500 Dollars, eine Summe, die unter Zugrundelegung der Preisverhältnisse nicht fehr viel mehr bedeutet als 2500 Mart in Deutschland  . Man rechnet, daß die Miete nicht ein Fünftel des Einkommens über­fteigen foll. Jene flebzig Prozent dürften danach nicht mehr als 500 Dollars Jahresmiete ausgeben. Tatsächlich fosten aber Drei­bis Bierzimmerwohnungen felbft in den billigsten Vierteln New Ports 700 bis 1000 Dollars Miete, Zahlen, die sich übrigens alle Auswanderungsluftigen genau betrachten sollten. Es ist nun lediglich mehr ein Problem der Geldaufbringung und der Bautechnik, mittlere Wohnungen zu schaffen, die monatlich nicht mehr als zehn Dollar pro Zimmer Miete tosten und für den Unternehmer dennoch sechs bis acht Prozent Zinsen abwerfen. Die Geldaufbringung ist so großen und starten Organisationen wie ein paar zusammen­gefchloffenen Gewerkschaften nicht schwierig, und was die Bautechnik angeht, so entwickelt sich zurzeit im Lande des Standards, im Lande Des millionenfach über alle Landstraßen laufenden Typenautos, ein Standardbauen, eine Technit des Montagehauses, dessen Einzelteile in Maffenproduffion fabriziert und an Ort und Stelle lediglich auf­einander montiert werden, eine Bauweise, die zu einer starten Ber ringerung der Kosten führen fann, daß es New Porter Bau­leitern gelang, mit den wirklichen Baufosten 100 000 Dollar unter dem Boranschlag zu bleiben. Selbstverständlich fann diese Bauweise nicht auf ein einzelnes Haus angewandt werden. Nach den neuen Richtlinien werden drüben ganze Häuserblods auf einmal in gleicher Ausführung und in gleicher Höhe errichtet.

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In der Berbindung einer genossenschaftlichen Baud grundlage mit dem System höchst gesteigerter Große fabritation- selbstverständlich unter der einheitlichen Leitung eines baumeisterlichen Willens geben die New Yorker Gewert schaften ein Beispiel, das große Organisationen auch bei uns überall da beachten sollten, wo Stadt oder Kommune der Bürde finanzieller, technischer und gedanklicher Probleme des Nachkriegsbau wesens nicht gewachsen sind.

Kriegsopfer! Rundgebung am Montag, 23. März, abends 7, Uhr, in den Milafalen, Schönhauser Allee   130: Für eine beffere Renten versorgung! Für die Ausgestaltung der bestehenden Fürsorge Reichsbund der Kriegsbeschädigten, Kriegsteilnehmer u. Striegerhinterbliebenen.

Herrn, erklärte, alle müßten ihn fürchten und lieben. Dem Pleinen Anthony fiel ein, daß er die Tür offen gelassen habe, und er eilte zurüd. Etwas später zogen die Leute wieder weiter. Das Kind hörte sie singen:

,, Gelobt sei Gott  , von dem der Segen kommt, Lobfinget ihm, Ihr Wesen dieser Erde."

Der Rest des Liedes ging im Getrommel des Tamburins

unter.

Es ist also Gott, den die Mutter so häufig aufsucht und von dem sie immer mit guten Dingen beladen heimtommt. hat sie Anthony doch auch erklärt, er könne nicht mitgehen, meil es ein weiter und steiler Weg sei. Vielleicht im nächsten Jahr, wenn seine Beine stärker find. Anthony verschwieg der Mutter gegenüber seine Entdeckung. Frau Plumberry unter­schied zwei Arten von Kindern: jene, die sprechen und niemals zuhören, und jene, die zuhören und ihre Gedanken für sich be­halten. Eines Tages jedoch, als die Mutter ihren einzigen Hut aus der Umhüllung hervorholte und ihn vor dem halb= blinden Spiegel auffeßte, zupfte sie der Knabe am Aermel. Sie wandte sich um. Er hatte die Strümpfe heruntergelassen, zeigte feine träftigen Beine. Es war charakteristisch für ihn, daß er fogar als Kind niemals Worte vergeudete. ,, Fühl fie an," war alles, was er fagte. Die Mutter erinnerte sich ihres Versprechens. Es war ein schöner Tag, soweit man dies im Rauch von Millsborough sehen fonnte. Sie gebot ihm, seinen besten Anzug anzulegen, und sie zogen zusammen aus. Sie staunte über die Aufregung des Knaben, die ihr unbe gründet vorkam. Der Weg war tatsächlich weit, aber das Kind schten es nicht zu merfen. Sie ließen Millboroughs Lärm und Rauch hinter sich, gelangten allmählich in eine wundervolle Gegend. Das Kind hätte am liebsten die Land­schaft umarmt, so schön war sie. Die Frau plauderte hin und wieder, der Knabe jedoch hörte sie nicht. Am Ende der Wan­derung schritten sie durch ein offenes Tor. Und plötzlich trafen sie Gott, der im Garten spazierte. Die Mutter schien äußerst verwirrt, ftammelte Entschuldigungen, wiederholte sich immer wieder. Sie riß dem Knaben die Müße vom Kopf und tnidste unentwegt, sant dabei fast auf die Knie. Gott   war ein sehr alter Herr in Gamaschen und Jagdrod. Er trug Badenbart und Schnurrbart, stützte sich beim Gehen auf einen Stod. Er ftreichelte Anthonys Kopf und gab ihm einen Schilling. Die Mutter nannte er Nelly" und verlich seiner Hoffnung Ausdrud, ihr Mann möge bald Arbeit finden. Dann sagte er, daß sie ja den Weg kenne, lüftete die Mütze und verschwand. ( Fortsegung folgt.)