Nr. 225 ❖ 42. Jahrgang
7. Heilage ües vorwärts
Voauerstag, 14. Mai 1425
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Der Einzelrichter in der Dirckseastraß« arbeitet nach wie vor unter Dampf. Allein im ersten Vierteljahr 1925 wurde von diesem Eilgericht der Wt. 197 in S89 Fällen Anklage erhoben. Davon wurden in das ordentliche Verfahren 77 Sachen überwiesen — zwecks weiterer Aufklärung, wegen§ 51. um Rückfall festzustellen, zwecks Verbindung mit anderen Sachen usw. Es ergingen S14 Ur> teile, von denen 512 sofort rechtskräftig waren— ein Beweis, daß die Einzelrichter in der Dirckjenstraße im großen ganzen im Rahmen des allzu oft unzulänglichen Gesetzes- human Recht sprechen. Diesen Eindruck erhält man auch, wenn man eine Reih« von Sachen an sich vorüberziehen läßt. Jeder Fall ein Ausschnitt aus dem Lebe». Ein« unerschöpfliche Quell« von Lebenserfahrung ist solch«in« Ge< richtssitzung. Man gehe hin und lerne. Hier die Ausbeut« zweier stunden. »Auch ich bin au» Pommern !" Restaurant in der Dorotheenftraße. Ein»recht ländlich" aussehendes Mädchen vor einem leeren Bierglas. An dem onderen Tisch ein behaglich, bürgerlich anmutender gutbebäuchter 58jährig«r Schlossermeister.»Fräulein, so einsam? Bon wo sind Sie denn?" .Aus Pommern.".Da sind wir ja Landsleute. Auch ich bin aus Pommern . Setzen Sie sich mal zu uns." Dann, bereit» tüchtig angeheuert, per Droschke i n» ch o t e l. plötzlicher Verzicht de» Herrn Schlossermeisters auf die Dienste der.Landsmännin", fehlende Brieftasche, verschwundene 29 M.. Stockhiebe für die Verdächtige, Polizeiwach«. Einzelrichter Dirckfenstraße. Die be» streitet, das Geld an sich genommen zu haben— die Brieftasche hat
sich am Fußende des Bettes gefunden. Di« Angeklagte ist 30 Jahre alt, unbestraft. Arbeiterin, arbeit»- und obdachlos. Ein« Woche Gefängnis. Tränen. Bewährungsfrist. Was geschiehr dem Schloffermeister, der das Mädchen.abgeschüttelt" hat?.Es schmerzt mich noch das ganze Kreuz." Er:.Herr Richter, man kann doch so wütend werden." Und ob, Herr Landsmann. Der Fahrraddieb. Ein Fabrikarbeiter spricht am Freitag nach erledigter Nachtschicht von 6 Uhr morgens bis 1 Uhr mittags tüchtig dem Alkohol zu. Taumelt dann auf dem Weg« zum Bahnhof Gesund- brunnen an einem fremden Rade vorbei, glaubt plötzlich sein eigenes vor sich zu haben, taumelt weiter, das fremde Rad mit sich führend, dem Bahnhos zu und wird hier gestellt. Auf der Wache behauptet er, das Rad gebäre ihm, verwickelt sich in Widersprüche, wird unflätig. Vor Gericht kann er nicht sagen, wie er zu dem Rad gekommen sei. 48 Jahr« alt, Da ter von vier Kindern, nicht vorbestraft, besitzt ein eigenes Fohrrad. Der Staatsanwalt beantragt zwei Wochen Hast. Das Urteil lautet auf 29 M. Geldstrafe wegen Diebstahls. Wegen Diebstahls? Für die Trunkenheit mag er die 29 M. bezahlen. Dielleicht zieht er aus dem Vorfall eine Lchrel Der reiselustige Lebemann. .Ich habe mich mit den Rüttgers-Derken geeinigt: ich sollte die 159 M. zurückzahlen und sie wollten mich nicht anzeigen." Das kommt davon: hätten sie ihn doch bester angezeigt! Der kaum 18jährige F. dient bei den Rüttgers-Werten, unterschlägt 15 9 M., macht eine Vergnügungstour nach Hamburg , kehrt dann nach Berlin zurück, einigt sich mit der Firma, findet durch den Arbeitsnachweis eine Anstellung al» Bote, unter- schlägt auf» neue 169 M., wiederholt seine Spritztour nach Hamburg und wird nach seiner Rückkehr nach Berlin verhaftet. Elegant gekleidet, mit weltmännischen Allüren und sicherem Auf- treten, begreift er noch immer nicht, welch« Gefahr ihm droht. Wird aber jungenhaft lleinlout, wischt sich mit dem Taschentuch die Tränen, als der Richter väterlich milde und gleichzeitig streng ihm ins Ge- wissen redet:.Eine minimale Summe, sagen Sie? Eine Arbeiter» samilie muß davon einen ganzen Monat lebenl Weshalb vertragen- Sie sich nicht mit Ihrem Stiefvater und leben außerhalb des Hauses?" Drei Monate Gefängnis, Bewährungs- frift. Ein« Fürsorgerin vom Jugendamt, die anwesend ist, will sich des Jungen annehmen. Weshalb aber nicht Wiedergutmachung als Bedingung für die Bewährungefrist? Geige und Verlobung. Der 22jShrige, noch ziemlich jugendhast aussehend« Schriftsetzer M. kommt zum Freunde und bittet ihn, ihm seine Geig« zu borgen: er feiert heute In seinem Elternhaus Verlobung. „D » kommst doch hin, bitte?" Der Freund zieht seine Feiertags- kleider an und begibt sich zu den Eltern des Freunde» zur Ver- lobung...Verlobung? Was!? Der wohnt ja gar nicht mehr bei uns." Die Geige ist bereit» für 29 M. verschärft. Der An- Seklagte, ein langer, blasser, psychopathischer Jüngling, still und be» Heiden..Die Eltern haben Sie hinausgeworfen? Er nickt..Wer weiß, woran da» liegen mag. Was soll nun aus Ihnen werden?"
»Ich möchte gern zu den Eltern zurückziehen. Mutter ist bereit, mich auszunehmen, Vater will nicht."— Drei Wochen Ge- fängni», Bewährungsfrist. Auch hier: Weshalb nicht wieder gutmachen— die Geige tostet 59 M.— und Stellung unter Schutzaufsicht? Der Schwächling begeht doch wieder eine Dummheit. Der Rechtskonsulent. j .Sie sind Rechtskonsulent?".Ich Hab« vor Vahren einmal im Bureau eine« Anwalt« gearbeitet." ter ist. 2j Jahre alt und hat als IKjähriger leine erste Strafe von 7 Monaten verbüßt. Deshalb nennt er sich Rechtskonsulent. Drei Monate hatte ei wegen Diebstahls, auch wegen Paßvcrgehens ist er' bestrast und aus Deutschland ausgewiesen. Don Geburt Schwe/zer, hat er hier unter falschem Namen gelebt. Gut gekleidet, gute Figur, hübsches, feingeschnittenes Gesicht, tadellose Manieren,.-gewählte Sprache. Eignet sich vorzüglich dazu, um von älteren Frauen ausgeh rlten zu werden. Das erste Debüt aus diesem Gebete endete jedoch mit dem Diebstahl einer Brieftasche und 399 M. Er war mii einem Mädchen befreundet und mochte im Restaurant den Klavier spieler. Die Freundin führt« ibn bei ihren Bekannten ein. Hier überredete man ihn, die für ibn.doch so unpassend« Arbeit" fallen zu lassen. Er tat es. Zog zu seinen neuen Bekannten und will nun entdeckt haben, daß er an eine verkrüppelte. Frau verkuppelt werden sollte. Arbeits- und mittellos, wie er nun war, deprimiert von de» Zumuwngen, die man stcllte,»stahl er die Brieftasche des Liebhabers der Wohnungein haberin— der Mann lebte auch in derselben Wohnung. So sagte er wenigstens. Aus dein Laubenlande, bei seiner kleinen, noch nicht 18jährigen Freundin wurde er verhaftet. SMonate Gefängnis. Und was weiter' Der geborene Hochstapler! .Machen Sie es gleich kurz!" .Sie sind eines Derbrechens angeklagt, wenn Sie wollen, können Sie in Moabit von einem Richter und �zwei Schöffen abgeurteilt werden.".Machen Sie es gleich kurz."—„Sie haben eine Ar beiterin be stöhlen." Schweigen..Sie hat doch selbst nicht viel." Schweigen. Was soll er auch jagen, dieser zehnmal vor bestrafte Z2jährige„Maler" mit dem intelligenten, regelmäßig geschnittenen Gesicht. Er ist Zyniker. Ihm ist alles gleich. Das Zuchthaus hat ihn bereits jeder Moral entledigt. Da wird er von, Gefängnis befreit, mietet sich als Schlafbursche ein, holt in Ab Wesenheit der Arbeiterin R. den Schlüssel unter dem Reijekorb her vor und scheut sich nicht, in Gegenwart des kleinen Sohnes sie um die ganze Wäsche und die mühsam erspartenö9M. zu bringen. Das Gericht erkennt ihm trotzdem wegen seiner Notlage mildernde Umstände zu und verurteilt ihn zu einem Jahr Gefängnis. Da» neue Strafgesetzbuch wird endlich eine Handhab« für solche Menschen geben. Was fall auch hier ein Jahr Gefängnis? Weder ihm noch seinen NAtmenIchcn ist dadurch geholfen. So lösen die„Sachen" in bunter Reihenfolge einnnder ab. Manchesmal geht es doch zu schnell. Selbst der noch so human denkend« Richter, die noch so verständige und nachsichtsvolle Rech:
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Anthony 3ohn. Roman ooo Zerome S. Zerome. (Schluß.)
Der Dichter verlangt nichts als vier Wände und eine echte Leidenschaft. Woher kommt die Idee, daß großer Reich- tum Glück zu erkaufen vermag? Doch nicht von den Reichen? Die müßten es eigentlich schon besser wissen. Die besten Dinge des Lebens sind billig. Sind die mellenweiten Parks mit den vielen Gärtnern denn schöner als der öffentliche Park? Die kleinen verborgenen Ecken, die wir selbst be- p lanzt und gepflegt haben, wo wir jede Blume kennen und lie' en, wo jeder raunend« Baum ein treuer Kamerad ist, dort treffen wir am Abend Gott . Wir wandern al» Fremde durch die„Empfangssäle" unserer Paläste» Der Millionär zahlt zehntausend Pfund für einen alten Meister: wie oft betrachtet er das Bild? Genießt er weniger künstlerische Freude bei dessen Anblick, weil das Gemälde in einer Galerie hängt? Die Freude des Besitzes gleicht der Gier des Geizhalses, der Habsucht des Hundes mit einem Knochen. Sind die schim- mcrnden Birken im Mondschein etwa lieblicher, wenn uns der Hügel gehört, auf dem sie emporragen? Sie entsann sich ihrer Fußwanderungen mit Jim, den Rucksack über der Schulter, vor ihnen der offene Weg. Das Abendbrot im kleinen Dorfwirtshaus, der süße Schlummer zwischen rauhen Laken. Seither liebte sie das Reisen nicht: es war so müh- selig, mit dem vielen Gepäck und all den Umständen. Was werden die Kinder sagen? Run, sie können beide nicht predigen, das zumindest ist ein Trost. Der Junge hatte bei Kriegsbsginn, ohne ihnen ein Wort zu sagen, alles hinge- worfen. war als Gemeiner in den Krieg gezogen. Er hatte gestirchtet, sie würde ihn zurückhalten, ihn, der um eines Ideales willen dem Tod Trotz bot. Er halte wahrlich kein Recht, Einwände vorzubringen. Und Rorah war nicht weniger zu Vorwürfen berechtigt: eine junge Dame, die allen Traditionen der Nefpektabilität erzogen, die sich kühn der Lächerlichkeit aussetzte, ärgeres beging als Verbrechen— nämlich vulgäre Handlungen. Eine wilde Suffragette, die Fanatismus rügt, braucht nicht ernst genommen zu werden. Was immer sie und Anthcrnv unternehmen, wird den Kindern nicht schaden. Norah und Jim können selbstverständlich ihre Wahl treffen. Wie aber wäre e» in einem anderen Fall, wenn eine junge Mutter dem Problem der Zukunft ihrer Kinder gegenübersteht? Welche Antwort hätte sie selbst vor zehn Jahren gegeben? Dieser Gedanke bemächtigte sich ihr«.
Sie prüfte ihn von allen Seiten, nicht als persönliche Sache. sondern als die einer Gemeinschaft. Muß man denn reich sein, um das Glück der Kinder zu sichern? Die Kinder selbst würden diese Frage mit„nein" beantworten. Der kleine Knabe verlangt nicht den Samtanzug und den Spitzenkragen. Das kleine Mädchen will nicht das Elfenbeintor verschließen, das in den Wald führt. Die Kindheit bedarf der Reichtümer nicht; ihre Freuden sind billig. Und auch die Freuden der Jugend kosten um weniges mehr als Gesundheit und Käme- radschaft. Der Kricketschläger, das Tennisrackett, das Boot mit einem Leck, das man für wenig Geld kauft und selbst repariert, ja sogar die Krone der jungen Wünsche: das Motorrad— für all dies« Dinge braucht niemand seine Seele verkaufen. Und Erziehung und Bildung hängen nicht von der„vornehmen" Schule, sondern vom Lehrer ab. Wird das künftige Wohl unserer Kinder durch den großen Reichtum gefördert— oder gehindert? Wenn wir unsere Kinder nicht mehr im Glauben an Reichtum erzögen, wenn wir sie lehrten, das bescheidene Da- sein, die Liebe im kleinen Haus nicht zu fürchten? Nicht zu glauben, daß sie w einer zwölfzimmrigen Dilla doppelt so glücklich wären? Wenn wir sie derart vor der Jagd noch dem Geld bewahrten, vor dem Kummer jener, die es nicht erlangen, beschützten? Die Liebe zum Geld, der Glaube an das Geld, sind sie nicht die Wurzeln von neun Zehnteln unserer Leiden und unserer Sünden? Wie wenn man die Kinder lehrte, nicht vor dem Geld auf die Knie zu fallen, es nicht anzubeten, ihm nicht Jugend� Gesundheit und Freude zu opfern? Würde es den Kindern in diesem Fall nicht auch materiell besser gehen? Jählings siel ihr ein, daß sie noch gar nicht die religiöse Seite überlegt habe. Sie lochte; es hieß ja immer, die Frau sei praktischer, der Mann sei der Träumer. Und hatte sie nicht etwa recht? Ist es nicht unser großer Fehler gewesen, daß wir zwischen unsere Religion und unser Leben einen Trennungsstrich gezogen, unsere Taten dem Cäsar, unsere Taten Gott geweiht haben? Da« wahre Christentum.muß die höchste Vernunft, die reinste weltliche Weisheit sein. Auf eine einzige Sache versteht sich der Mensch— auf den Krieg. Sein größter Erfolg sind die Kriegsmaschinen. Diese Institution hat die Probe bestanden: nur eines ge- staltete der Mensch vollkommen— den Krieg. Und vom Soldaten verlangte er die christlichen Tugenden des Opfer- mute» und des Selbstvergessens. Hier ward der Ort des Leidens zum Ort der Ehre, der verlorene Posten ein Ehren- posten. Dem Soldaten wurde beigebracht, den Kameraden wie sich selbst, nein, wehr al» sich selbst zu lieben, nicht als
leere Formel, sondern als notwendige Pflicht. Brach ein Krieg aus, so erkannte jedes Land, es sei nötig, Christi Lehre« zu befolgen. Da Anthony zu ihr sprach, erschien iht seinc Forderung, sie möge ihren Reichtümern entsagen, eine un klare, unpersönliche Menschenliebe über die Ljxtze zu den .Kindern und sich selbst stellen, ungeheuerlich. Hätte er aber dabei von England gesprochen, wäre dies währemd des Kriegs geschehen, sy hätte sie sein Vorhaben gebilligt, würde selbst zu größeren Opfern bereit gewesen sein. Und- die Menschen. deren Hohn sie jetzt fürchtete, hätten ihr Befall gespendet. Hatte etwa jemand dem jungen Freiwilligen gesagt, er möge zuerst an seine Frau und seine Kinder, an deren Behagen, an deren Luxus denken— und erst dann an die Heimat? Anthonys Beschluß, in die rauchige, traurige Stadt zu ziehen, dort unter den armen Leuten zu leben, erschien ihr törichl phantastisch. Er hätte den Armen von Mlllsdvrough weil besser helfen können, wenn er seine Reichtümer behalten, sie mit Gaben überschüttet hätte. Derart würde er Gott besser zu helfen vermochtchaben, mächtig und reich,' ein Führer unter den Menschen."Was aber knnn er als ärmlicher Rechts anmalt in Bruton Square tun? Hatte sie während des Krieges derart an die Menschen gedacht, die zwar Geld gaben, sich aber vor dem Schützen- graben, dem Schmutz und dem Blut drückten, an die Schreier, die onderen das Tot des Dienstes wiesen? Weder reich, noch arm, weder vornehm, noch gering. Kameraden und Brüder— wann wird der Sieg errungen sein, der allen Kriegen ein Ende bereitet—, der Sieg des Menschen über sich selbst? Die Rauchwolke über der traurigen Stadt war in der Rächt versunken. An ihr« Stelle leuchtete ein dumpfer roter Schein gleich einer Flammensäule. Eleanor wandte sich ab und blickte in den großen Steh- spiegel mit vergoldetem Rahmen. Sie ist noch jung, im Vollbesitz ihrer Kraft und Schönheit; vor ihr liegen Jahre mit einer Verheißung von Macht und Freude. Und plötzlich erkannte sie, dies sei das gewaltigste Abenteuer der Welt, das die Kühnen und Hoffnungsfreuoigen ruft, einerlei, wohin — dorthin, wo Gottes Trompete ertönt. Irgendwo— vielleicht fern, vielleicht nah— liegt das gelobte Land. Bielleicht werden sie es finden, oder aber zumindest von ferne schauen. Wenn nicht— so sollen wenigstens ihre Fußtapfen den Weg weisen. Ja. sie wird ihren Reichtümern entsagen und alle Angst verbannen. Gemeinsam, Hand in Hand, werden sie freudig vorwärtsschreiten.