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Sonnabend 13. Juni 1925
Unterhaltung und AAissen
Seilage des vorwärts
Die Saöehose.
Don Kurt Schumann  . Gestern war ich zum ersten Male mit meinem Vierjährigen im städtischen Schwimmbad. In der Annahme, daß es bei noch nicht schulpflichtigen Kindern noch keine sündigen Körperteile gibt, hatte ich für das Kerlchen kAne Badehose mitgenommen. Ich wurde aber bereits an der Kasse daraus aufmerksam gemacht, daß der Kleine eine Badehose tragen und ich eine borgen müsse, und ich war nicht schlecht erstaunt, an der Wäscheausgabe tatsächlich Badehosen in Liliputformat vorzufinden. Obwohl mein Sohn zu den ebenso interessanten als beschwer- lichen Kindern gehört, die mehr fragen, als zehn Weise beant- warten können, ließ er sich ohne Widerstand dos ungewohnte Be- kleidungsstück anlegen. Die Badehose gehört eben schon zu den Institutionen, die sich von Generation zu Generation fortpflanzen wie die Sitte, den Hut abzunehmen, im Frühling mit Kreiseln zu spielen, sich konfirmieren zu lassen und denAnzeiger" zu lesen, ohne über die Zweckmäßigkeit dieser Maßnahmen nachzudenken. Ich wäre auch in böse Verlegenheit gekommen, wenn mich der Junge nach dem Sinn dieses Bekleidungsstückes gefragt hätte. Was bätte ich ihm sagen sollen? Vielleicht daß die ollen Griechen und Germanen sich ihrer Nockthell freuten und dafür von denselben Till- lichkeitssanatikern, die heute am liebsten auch noch das Gesicht zu- deckten, sehr gelobt werden? Oder davon, daß bei den reinsten Völkern Europas  , dje man uns gern als Vorbild hinstellt, sogar Männlein und Weiblein nackt zusammen baden? Oder von einer Religion, die der Ouell des Segens für die Menschheit hätte werden können und die von ihren Pfassen genau in ihr Gegenteil verkehrt wurde, von den Missionaren, die den noch nicht verunstalteten Körper der Neger und Polynesier in geschmacklose Kottunsäcke zwängten, was die Einführung der Schwindsucht sehr begünstigte, von den Verheerungen, die dadurch angerichtet werden, daß Leute, die künftig miteinander Kinder zeugen, vor der Kontrakt- schließung, die ihnen dazu die Erlaubnis gibt, sich nie in natür- lichem Zustande sehen dürfen; daß bei unserer Zuchtwahl nicht der siegt, der den gesundesten bestgebauten Körper, sondern der den besten Schneider hat, daß jeder Schweinigel einen Menschen, der in einem stillen Wiesental ein Luftbad nimmt, wegen Erregung öffentlichen Aergernisses ins Gefängnis bringen kann, daß es aber erlaubt ist, bei Hof- und anderen Gesellschaftsbällen sich so anzu­ziehen, daß die alkoholgeheizten Seelen in lüsterne Schwingungen geraten müssen, usw.? Mein Junge wird es noch früh genug erfahren, wie verrückt die Well ist, in die ich ihn hineingestellt habe wie gut, daß er es nicht merkte, als sie ihm ihr« ersten Boten entgegensandte in der Gestalt der ersten Badehose!
Goethe unser Reiseführer. In mannigfachen Gestallen tritt uns Goethe auf seinen Reisen entgegen, den Dachsranzen aus dem Rücken, die Umgegend Frank- fiirts ourchstürmend und seltsame Hymnen zur Musik von Wind und Regen singend, auf Lahn   und Rhein   im Schiff in Herz und Sinne erfreuender Fahrt dahinfahrend, oder auf dem Pferd, den Mantelsack hinten aufgeschnallt, dann wieder in stattlicher Reisekutsche dahin- rollend. Mag man auch heute im Eisenbahnzug, Kraftwagen oder gar Flugzeug anders reisen die seelische Haltung, auf die es allein ankommt, sollten wir doch von ihm, dem großen Lebensmeister, lernen..Goethe legte auf die äußeren Dinge beim Reisen durchaus Wert. Lange bevor er den großen Entschluß zur Fahrt nach Italien  jaßt<, sammelte er eine treffliche Ausrüstung und lieh sich von Frau von Stein gern etwas zu seiner Reise schenken. Noch im Alter macht er seine Betrachtungen über einen praktischen Reisekorb, den er aus Marienbod mitgebrocht:Sie sehen: wenn er leer ist, legt er sich zusammen und nimmt wenig Raum ein; gefüllt dehnt er sich nach allen Seiten aus und faßt mehr, als man denken sollte. Er ist weich und biegsam, und dabei so zähe und stark, daß man die schwersten Sachen darin fortbringen kann." Aus der Reise selbst läßt er sich den Genuß durch keine Unannehmlichkeiten verkümmern. Mag ihn der Wirt prellen oder die Unterkunst schlecht sein, er nimmt es von der guten Seite. Fährt ihn der Vetturin in dem elenden, beständig
Mostauer Ketzergericht über öranöler, Thalheimer und Raöek
Sold so
Hc's trefft.
Salö so-
»Schmeißt sie'raus!" »Sraoo, bravo, sehr richtig!"
»Schmeißt sie wieder'rein!" »Sravo, bravo, auch sehr richtig!"
schaukelnden zweirädrigen Wägelchen statt 3 Stunden deren 4 von Vicenza   nach Padua  , so freut er sich, daß er den köstlichen Tag unter freiem Himmel länger genießen kann. Gucken durch das schadhaste Dach des Gasthauses die Sterne herein, so ist ihm das ein glück- verheißendes Zeichen. Der Segen des Rcisens liegt ja nicht in äußeren Dingen:Der Genuß auf einer Reise ist, wenn man ihn rein haben will, ein abstrakter Genuß. Ich muß die Unbequemlichkeiten, Wider­wärtigkeiten, das was mit mir nicht stimmt, was ich nicht erwarte, alles muß ich beiseite bringen, in dem Kunstwerk nur den Gedanken des Künstlers heraussuche» und ihn wieder rein in meine Seele bringen, abgeschieden von allem, was die Zeit, der alles unterworfen ist, und der Wechsel der Dinge darauf gewirkt haben. Dann habe ich einen reinen bleibenden Genuß, und um dessentwillen bin ich gereist, nicht um des augenblicklichen Wohlseins oder Spaßes willen. Mit der Betrachtung und dem Genuß der Natur ist's ebenso. Trifft's dann aber einmal zusammen, daß alles paßt, dann ist's ein großes Geschenk. Ich habe solche Augenblicke gehabt." Es ist eine Steigerung des Lebeusgefühls, eine Befreiung aus alltäglichen Verhältnissen, die Goethe im Reisen sucht. So ward ihm die Reise nach Italien   zur großen Erneuerung und Umformung seines Daseins, und es paßt im Grunde auf alle seine Reisen, wenn er von ihr schreibt:Ich mache diese wunderbare Reise nicht, um mich selbst zu betrügen, sondern uni mich selbst an den Dingen kennen zu lernen."
Im Reisen lernt er leben, im Ausnehmen der Eindrücke wächst seine Schöpferlrast.Wie glücklich mich meine Art, die Welt anzusehen macht, ist unsäglich!" ruft er aus.Und was ich täglich lerne! und wie mir doch fast keine E�ssten�z ein Rätsel ist.' Es spricht eben alles z» mir und zeigt sich mir an." Alles erscheint ihm in neuem Licht: ..Das ist dos Angenehme auf Reisen, daß auch das Gewöhnliche durch Neuheit und Ueberrafchung das Ansehen eines Abenteuers gewinnt. Wo zeichnen die Nationen und die Individuen derselben sich wohl inehr aus als auf Reisen? Jeder bringt eine gewisse einheimische Urteilsweise mit; jeder hat eftien gewissen Maßjtab des Guten, Würdigen, Wünschenswerten oder Vortrefflichen; und auch der Zeil- charakter, den die Reisenden an sich tragen, spricht sich aus." Er bezeichnet es als seineMaxime" aus Reisen,mich soviel als möglich zu verbergen und das Ochekt so rein, als nur zu tun wäre, in mich aufzunehmen." Aus diesem Streben erwächst dem alten Goethe eine Systemaiik des Reisens, bei der die Aufzeichnungen eine große Rolle spielen. Ueberall schreibt erein klein Diarium" voll; nichts entgeht seinem Blick, weder die Wolkcnbildung. noch der Stein, auf dein er steht. So rät er denn jungen Leuten, aus Reisen vor allem die Augen offen zu halten.:Beobachten Sie mit Unbefangeirheit, legen Sie den Dingen nichts von dem Ihrigen bei und unter. Es gibt nichts, über das sich nicht interessante Beobachtungen anstellen ließen. Das alles bringt innere Bereicherung."
vie öegegnung.
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von Max herrmann-veiße. (CopjTixKt 1925 Elena Eottschalk Berkas, Berlin  .) Aufs Gymnasium mochten Sie ihn nicht schicken?"Er wollte ja nicht. Und wozu denn auch! Er soll doch bloß das Lokal über- nehmen. Mein Mann war übrigens ggr mal auf Schule: er sollte zumindest das Einjährige kriegen. Zweimal blieb er gleich in Sexta sitzen; da hat ihn der Alte doch abgemeldet."Ich hatte inir steif und fest vorgenommen: mein Sohn soll's weiter bringen als ich! Ist er mal soweit, verkauf ich's Geschäft, für uns beiden Alten langen die Zinsen, und Artur ist nicht an das Nest hier gebunden." Als der Klempnermeister schon ziemlich in Rage ist, kehrt der Gastwirt Kaps heim. Er kommt wieder einmal von der Jagd und liefert erst draußen in der Küche das Wildbret ab, ehe er sich's bequem macht. In seiner Begleitung ist ein fremder Herr mit einem merkwürdigen Gesicht, halb wie ein Bauer, halb wie ein Schau- spieler, und Kaps stellt ihn vor, nennt irgendeinen Namen mit A. natürlich nimmt man den genauen Wortlaut nicht recht ins Bewußt- sein auf. Der Herr ist Besuch in der Villa Goschin, beim Herrn Ober- amtmann, und da der heute nicht selber mitkonnte, hat er mir seinen Gast geschickt." Worbs ärgert sich, daß er so im besten Fahrwasser seiner Herzensbeichte von den beiden unterbrochen wurde, aber er schwingt sich doch zu der höflichen Anfrage auf:Und wie long« gedenken Sie hier zu bleiben?"Morgen früh muß ich.schon wieder fort." erwiderte der Fremde,ich war nur ein und einen halben Tag hier." ,Das lohnt sich ja kaum."Der Amtmann und ich. wir waren früher zusammen auf Schul«. Da ich jetzig grob durch die Gegend kam, wollte ich ihn dach einmal umstoßen."Schatz, laß uns'nen ordentlichen Happen braten! Die Jagd macht hungrig," ruft der Gastwirt. Der Fremde bestellt eine Flasche Wein.Und vier Gläser dazu, wenn ich bitten darf. Herr..."Worbs" beeilt sich der Klempner zu helfen..... Herr Worbs, Sie mache» mir doch das Vergnügen?" Dann trinken wir aber erst noch vier Allasch." Wie das im Leben doch merkwürdig kommt." beginnt nun wieder der fremde Herr,hätte ich mir doch vorgestern abend nach nicht träumen lassen, daß ich heute würde hier auf die Jagd gehn!" .Bon woher kommen Sie, wenn ich fragen darf?".Aus BerNn."
Kennen Sie da die Firma Hecht   und Giller? Mil der steh' ich geschäftlich in Korrespondenz."Bedaure,»ein. Die schönsten Erlebnisse sind eigentlich immer die gewesen, die einen ganz unvor- gesehen überraschten. Ich hatte die meiste Freude an Ereignissen, die gar nicht vorbereitet waren, so wie heute an der improvisierten Jagd." Der Klempnermeister fühlt, er darf jetzt auch mitreden, und er gibt sein Iugenderlcbnis mit dem unbekannten Mädchen zum besten. Dröhnend lacht der Gastwirt:So eine unschuldige Liebesgeschichte Hab' ich mein Lebtag nicht gehört!" Tlber der fremde Herr be- kündet ein regeres Interesse für die Erzählung.Haben Sie Kinder?" fragt er dann.Einen Sohn. Er geht grad in Sekunda  . Wir sprachen vorhin eben von ihm. Cr hockt mir zuviel zu Hause und schmökert." Der fremde Herr lächelt unmerklich..Was liest er denn?" Das weiß ich eben nicht! Ich verstehe doch nichts von derlei Dingen." Und plötzlich, wider seinen Willen fast, sprudelt Worbs noch einmal olles heraus, was ihn bedrückt, und legt vor dem Fremden seine Umstände bloß, mehr als er eigentlich erst zu sagen beabsichtigt hatte. Und wundert sich über seine eigene Stimme, mit der er sich gierig fragen hört:Und was soll ich nun tun?" Der Gastwirt macht seine Witze dazu, Frau Kaps begütigt jovial, und schon will eine neue Woge Trunkenheit des Klempnermeisters Kummer wegschwemmen und ihn auf einer glücklicheren Insel landen lassen, wo alles ein annehmbareres Aussehen hat. Aber aus dem Fremden ringt sich ein Ruf, der auch diese Leute hier innehalten läßt, man weiß nicht, ist es eine Anklage gegen die eigene Unzu- länglichkeit oder gegen andere:Das hat mich noch niemand ge- fragt!" Da geht in dem Kelmpnermeister etwas Merkwürdiges vor, er begreift, daß es sich für ihn gar nicht mehr um den einen be- sonderen Fall der Berufswahl seines Sohnes handelt, auch nicht nur um das Verhältnis zu seiner Frau, sondern daß jetzt sein ganzes Leben in Frage gestellt ist. und er fühlt, daß das dem Fremden zusammenhängt. Er redet sich in immer Unveronlwortlicheres hin- ein und rückt dem Herrn dringlicher auf den Leib:Sie müssen sich das einmal selbst ansehen kommen bei uns... Sie müssen mich besuchen... Vielleicht merken Sie, woran'? liegt... Jetzt haben Sie gehört, was i ch erzählt habe, Sie müssen auch hören, was meine Frau sagt. Dann werden Sie sich ein Bild machen können Lossen Sie sich zeigen, was der Junge liest, der hat schon'ne reine Bibliothek, und dann zeige ich Ihnen auch den Zweig, den mir damals die aus der Droschke zuwarf, dos gehört ja alles doch zu- fammen!"
Der Fremde raffte sich ausIch habe heut allerlei nicht erwartet, aber das vor allen Dingen nicht: daß inich ausgerechnet hier einer meistert! Seh?» Sie, ich bin doch in Berlin   mit ioundso vielen Menschen zusammen, den interessantesten und schwierigsten, ich bin nämlich dort ein bekannter Mann aber so tief hat mich noch keiner erschüttert, wie Sie mit Ihrer Frage vorhin. Man hat also die verdammte Pflicht, jedem daraus antworten zu können. jedem, auch dem Fremdesten noch! Und ich neunmal Weiser wußte sie immer nicht einmal für mich selber zu lösen!" Er nahm einen Schluck Wein wie zur Stärkung. Der Klempner verstand kein Wort davon, dennoch kam ihm, was der Fremde sagte, wie eine große Tröstung vor. Cr schüttelte ihn; herzlich die Hand. Draußen im Garten gingen die letzten Gäste! Die Kellnerin räumte die Tische ab und kam ans Büfett, um Kasse zu machen. Der Fremde beglich seine Rechnung. Worbs bat um nochmalige Angabe des Namens und erhielt eine Visitenkarte, die er in die Tasche steckte. Dann zahlte er auch. Der Fremde sagte noch:Für einen so kurzfristigen Abstecher habe ich mehr als genug erlebt! Herr Kaps, haben Sie nochmals Dank für die Jagd! Guten Abend, Frau Wirttn, lassen Sie sich's gut gehen!"Danke. Gleichfalls!" Man komplimentiert ihn zu Tür.  Jedenfalls für morgen: Recht glückliche Reise! Und weht Sie der Wind wieder mal in die Gegend, vergessen Sie bitte nicht, uns zu beehren! Nochmals einen recht guten Abend wünsch ich. Empfehlen Sie uns dem.Herrn Oberamtmann!" Der Klempnermeister ging mit dem Fremden. Kommen Sie gut heim!" rief Frau Kaps ihn' noch noch. Dann schloß Kaps die Läden mit der Feststellung:Der hat aber heute einen Ordentlichen sitzen!" Dann warteten sie, daß der Bube sich einfände, und schwiegen sich an. Worbs und der Fremde gingen nach bis zur Villa Gaschin  zusammen. Keiner von beiden redet ein Wort mehr: aber der Klempner fühlt sich geborgen. Am Tore der Villa sagte der Fremde mit nüchternem, ja gewöhnlichem Tonsall:Alles gibt sich Im Leben. Morgen, bei Licht besehen, wird sich auch Ihr Tag wieder leidlich ausnehmen. Gute Nacht!" Worbs brachte keine Silbe heraus, ver- beugte sich nur. Dann schrillte die Klingel, Hunde bellten drin im Hase, Schritte nahen, es wird aufgesperrt, und der Fremve war verschwunden. Worbs machte sich jetzt Vorwürfe, die Gelegenheit nicht besser genutzt zu haben. Das Wichtigste hatte er gor nicht gesagt, meinte er nun, er wußte genau, was er alles versäumt hatte. (Schluß folgt.)'