Sonntag
21. Juni 1925
Unterhaltung und Wissen
Unsinnige Brudertämpfe im lehten Jahrhundert haben es ge= fügt, daß die südliche Grenze des mittleren Deutschlands längs einer Reihe von ansehnlichen Gebirgstämmen läuft, so daß diese Grenzen zwar die betreffenden Gebirge halbieren, nicht aber die Eigenart und Eigenschaft der diese Gebirge bewohnenden Bevölkerungen. Sie haben auf beiden Seiten in gleicher Weise um den Lebensunterhalt zu kämpfen, sie haben die gleichen Sommer- und Wintersorgen, fie sprechen nördlich und südlich dieselbe Sprache und genau denjelben Dialekt.
Wenn man Chemnitz nach Süden verläßt, so wird man rasch in das von Bergwelle zu Bergwelle sich türmende Erzgebirge getragen. Am Fuße des Fichtelberges liegt der Sportplag Oberriesenthal, Deutschlands höchste Stadt. Und gleich dahinter, zwischen den Gipfeln des Fichtelberges und des Keilberges, läuft die sächsichböhmische Grenze, von der man erst bei Einsetzen des sogenannten Friedens entdeckte, daß sie überhaupt vorhanden war. Und gleich jenseits jener Grenze, ärmlich und schiefergrau, wie von Stürmen gegen den Abhang des Berges geweht, stehen schüchtern die Häuslein des böhmischen Städtchens Gottesgab , von dem ein Lied ausgegangen ist, dessen Existenz doch ungewöhnlich viel zu denken gibt.
Die Bevölkerung des Erzgebirges spricht natürlich hüben wie drüben deutsch, und zwar bedient fie fich untereinander eines Dialekts, der mit der Weichheit ihres Wesens und der Herbheit der dortigen Lebensbedingungen seltsam in Berbindung steht.
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Der Dichter und Sänger Anthon Günther aus Gottesgab , mit dem ich hier bekanntmache, wurde 1876 als Sohn eines armen Musterzeichners geboren. Er wuchs mit neun Geschwistern bei einer Armut und Entbehrung heran, von der man sich nur schwer eine, Borstellung machen fann, die aber von den Erzgebirgern auch heute noch mit Laute und Ziehharmonika lächelnd und zäh ertragen wird. Schon mit fünf Jahren jaßen die Kinder, am Klöppeljac, damit irgendwo in der weiten Welt schöne Damen sich mit duftigen Spizen schmüden tonnten. Und wenn am Sonnabend die Mutter aus Joachimsthal ein Stückchen Wurst mitbrachte, dann gabs am Sonntag einen großen Topf Erdäpfelbrei und obendrauf bekam jedes Kind einen dünnen Schnitt Wurst. Der Junge geht hinaus in die Fremde und lernt in Prag Lithographie. Und hier ist es, wo er seinen Landsleuten sein erstes Lied vorsingt:„ Drham is drham" ( oder to Hus is to Hus" würden wir Ostpreußen sagen.) Text und Melodie sind ihm zu gleicher Zeit aus der Brust gesprungen war ein neues deutsches Volkslied geboren, das mit hellem Jubel aufgenommen wurde. Er ließ 1000 Liederpoftfarten drucken, die er seinem inzwischen Haufierer gewordenen Bater schenkt, der damit wenigstens eine Kleinigkeit verdiente. Seinen Namen traute er sich nicht unter das Lied zu sehen, weil es ja nur mundartlich war. Und nun entsteht Lied auf Lied, wie wir sie volkstümlicher, ursprünglicher in deutschen Gauen taum antreffen. Es bilden fich fleine Kapellen, die durch die Großstädte ziehen und mit Günthers Liedern ihren Lebensunterhalt verdienen. Der Sänger aber blieb arm, wie er mar. Mehr Freude, als diejenige am eigenen Werk ( und das ist die höchste!), wurde ihm selten zuteil Er fauft sich eine Zither, erlernt fie, gibt Zitherstunden; nimmt seine Brüder zu sich, um sie zu versorgen, und schickt den einen gar aufs Gymnafium. Der Bater stirbt, die große Familie unversorgt zurüd laffend. Anthon fehrt heim, nimmt seine Boftfarten und seine Laute und geht fingend auf die Straße. Und das wurde seine Rettung, sein Ruhm. Günthers Lieder waren in fürzester Frist im ganzen Erzgebirge in aller Munde. Und so ist es geblieben. Jedes Kind fennt dort die schlichten, innigen Lieder Günthers. Man singt sie in den Gaststätten und Herbergen. Man tanzt zu ihrer Melodie auf den Bällen. Und die Straßenjungen pfeifen einen mit eben Diesen Liedern an nicht mit den neuesten Operetten. Und wenn irgendwo im Erzgebirge ein besonderes Volksfest stattfindet, dann holt man sich als Krone der Feier Anthon Günther aus Gottesgab . Um den Jubelsturm würde ihn wohl so mancher Boltstribun beneiten. Doch am schönsten wird es nach des Festes Austlang, wenn im engsten Kreise der Becher heller schäumt und die blizende Morgensonne angesungen wird herab von Bergeshöh, indes in den schlummernden Tälern die grauen Rebel zu fließen beginnen.
Der Renner fragt: Was wäre aus dem Erzgebirge ohne Anthon Günther geworden?" Die Erledigung dieser Frage müßte den Wert des Boltsbarden ins rechte Licht sehen. In den Jugendjahren Gnüthers war das Erzgebirge noch ein weltfernes und namentlich im Winter unwegsames Gebirge. Einen Fremdenverkehr gab es nicht. Die Erwerbsmöglichkeit ist für die Bevölkerung in allen Jahrhunderten außergewöhnlich bescheiden gewesen. Nach dem Eingehen des Bergbaus rettete Barbara Uttmann in Annaberg durch die Erfindung des Klöppelns die Bevölkerung vor dem sicheren Untergang. Und wiederum stand das Erzgebirgsvolk vor einem Abgrund, als die Klöppelmaschine den Klöppeljac verdrängte und den Heimarbeitern den Wurstzipfel noch höher zog. In diese Zeit fielen Günthers Volkslieder. Nicht allein, daß zahllose Männer und Frauen den Klöppelsack mit der Laute vertauschten oder doch jenen durch diese ergänzten, der Sänger ging mit seinen Liedern direkt auf das Herz seiner Landsleute zu, er erfüllte sie mit Stolz und Liebe vor der Schönheit ihrer Heimat. Er selber lebte ein echt deutsches Leben und sang es seinen Brüdern zu. Und er sang es so fest und innig, sang es in jeden Berg und Wald und in jeden Beruf hinein, daß dieses Bolt und dieses Gebirge merkwürdigerweise eine ganz neue Färbung befamen. Und eben diese seltsame Färbung war es, auf welche die Touristen aufmerksam wurden und Das Erzgebirge zu einem der beliebtesten deutschen Mittelgebirge machten. Das Erzgebirge ist jetzt ohne das Günthersche Lied nicht mehr denkbar. Es hat sich hier etwas ganz Geheimnisvolles ereignet. Während in anderen Boltsstämmen und Böltern das Volkslied der Bergangenheit entrissen werden soll, ist hier plöglich ein neues Bolkslied entstanden in einem Boltsstamm, der bisher nachweis lich noch fein einziges Volkslied gehabt hat. Und es ist mit einer unbegreiflichen Macht in jedes Haus und jedes Herz gegangen, die vermutlich ohne Beispiel sein wird.( Hermann Löns ist bei aller Berehrung nur eine vorübergehende Erscheinung. Sein Schicksal geht tiefer als sein Werk.)
Aus der großen Zahl seiner Lieder eins herauszunehmen, fällt schwer. Jedes ist anders, und jedes ist schön, und jedes ist ganz Erzgebirge . Und den Tert zu lesen, ohne die Melodie zu hören, ist auch nichts Rechtes. Denn beide sind zugleich aus einer Brust gesprungen. Auch sind sie nicht ins Hochdeutsche zu übersetzen. Man muß diese Früchte genießen, wie sie vom Baum tommen, und am besten dort, wo sie gewachsen sind. Doch nimmt dieses Anthon Günther aus Gottesgab teineswegs seine Größe. Im Gegenteil: wir sollten vielleicht weniger emfig nach verschütteten Wegen und Formen suchen, als uns mehr nach neuen Fahrten umtun; es fönnte sonst tommen, daß wir an Herzen, die für uns schlagen, wieder einmal vorübergehen und' s Harz muß verschtandn warn" fingt Anthon Günther:
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Es blüht wuhl mannichs Blüml schu, verstedt on ganz allaa,
es blüht su lieblich zart on fei, en. Hermist¹) gieht dos Blüml ei,
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on ta Mensch hot's gefah.
で
Die harte Hand der Junker greift Nach Saat, die nicht den Armen reift, Die Sorge bangt, Gespenst geht um
Das Bild am Kreuz bleibt starr und stumm.
Es sengt wuhl mannichs Böchela set Liedl uhgestärt,
es sengt en Wald en guter Ruh, en Herwist fliecht's noch Südn zu
on fa Mensch hat's gehärt.
Es schleecht in mannicher Menschnbrust
a Herz vull Sorch on Müh,
es schleecht su racht, su fromm on trei. Doch fömmt dr Tud, nort?) is verbei on fa Mensch fonnt's verschtieh.
dar sell net meh begarn,
a Harz , wos schleecht vull Lieb on Trei, werd of dr Walt wuhl's Besta sei,
doch' s muß verschtandn warn.
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hervorzubringen," sagt Anthon Günther. Wer von den Dichtern " Meine Lieder entstehen, ohne daß ich die Absicht habe, solche unserer peinvollen Gegenwart fann ein gleiches von sich glaubend
behaupten??
Schuld an der ganzen Geschichte ist meine Braut, die Resi; sie wollte durchaus den Napoleon I. sprechen. Sie hat ihn was Wichtiges zu fragen. Nämlich, sie wohnte neulich einer spiritistischen Sigung bei, und da erschienen der Reihe nach Friedrich der Große , Julius Cäsar , Plato , das Mädchen aus der Fremde, Schopenhauer , Till Eulenspiegel , Mohammed und der Affe, von dem die Menschen abstammen, und seitdem hat die Resi einen Tisch im Kopf, der rückt beständig hin und her.
Gut", sagte ich schließlich, der Schönere gibt nach!" Und ich veranstaltete eine spiritistische Sitzung, oder wie man auf deutsch fagt, eine Séance. Vorher sah ich noch schnell in der Grammatik nach, wie bon jour auf französisch heißt, damit ich mich nicht blamiere, falls der Napoleon wirklich fommt. Hoffentlich ist er gerade anderswo beschäftigt, denn ich habe da kürzlich ein Buch gelesen " Napoleon und die Frauen", und ich muß jagen: er ist fein Berkehr für meine Refi. Aber vielleicht hat er sich nach seinem Tod gebessert. Ich habe ja auch die Absicht, das zu tun.
Also die Resi, mein Freund Marl und sein Dackl Lumpl tamen abends zu mir. Ich befahl dem Lumpl, sobald er den Napoleon riecht, soll er ein Zeichen geben. Durch Heben seines linken Hinterbeines. Dann rückte ich den Tisch in die Zimmermitte, machte dunkel, und die Rest schreit Au!", weil ich sie gezwickt hatte. Denn, wie das Sprichwort sagt: je dunkler, oefto muntler. Und weil mich die Naje so juckte, flüsterte ich:" Refi, ich spür' schon was! Ich glaub er fommt!"
Und richtig, auf einmal fängt der Tisch an sich zu bewegen. Mir lief's eiskalt über den Rücken, denn mein Tisch ist sonst ein wohlerzogenes Möbel, und ich wünsche nicht, daß er sich das Spazierengehen angewöhnt. Denn wenn ich einmal einen Brief zu schreiben hätte, und mein Tisch machte derweil einen Tagesausflug, nein, dazu habe ich ihn nicht gekauft! Brr!" machte ich, damit der Malefiztisch einhielte, und ärgerte mich, daß ich nicht wußte, wie„ Brr" auf französisch heißt. Aber der Tisch schlepperte meiter, und plötzlich wispert der Tisch mit einer Grabesstimme, als ob der Geist im Hamlet
Beilage des Vorwärts
W.STEINERT
unpäßlich geworden wäre und sie ihn vertreten müßte:„ Wir fühlen deine Nähe, seliger Geist! Wer bist du?"
Und nach einer Weile, in der der Tisch den reinsten Fortrott getanzt hat:„ Es ist der Sokrates!"
Sokrates dort?" rief ich. Falsch verbunden! Läuten Sie ab!" Jetzt wurde die Resi sehr böse. Sie behauptete, ich verscheuc die Geister. Aber ich erwiderte falt:„ Solange ich die Miete zahle und nicht der Sokrates, bestimme ich, wer hier erscheinen darf!" Wir unterhielten uns eine Stunde über diesen Punkt, und wie ich wieder zu Wort fam, sagte ich: Versuchen wir's noch einmal!" Wir saßen also wiederum da wie die Delgößen- es war wirklich schade um die schöne Dunkelheit- und auf einmal das Haar sträubte sich mir hebt der Lumpl das linke Hinterbein: Gesehen habe ich's nicht, aber gehört. Und schon jaust der Tisch im Zimmer herum, von einer Ecke in die andere, holterdipolter, und ich nahm mir vor: beim nächsten Pferderennen lasse ich ihn mitlaufen! Die Resi aber stöhnte:" Diesmal ist es der Napoleon !!"
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Da nahm ich all mein Französisch zusammen und redete ihn an: Bon jour, madame, Eau de Cologne, rien ne va plus, Chambre séparé Louis quatorze!"
Und weil der Tisch gar nicht aufhörte, in meinem Zimmer Karussell zu fahren, drehte ich kurz entschlossen das Licht an, und da sahen wir die Bescherung: der Lumpl war mit seiner Leine an das eine Tischbein angebunden und zog den Tisch im Zimmer umher. Das linke Hinterbein hatte er nicht aus Spiritismus gehoben, sondern nur weil er so stubenrein ist, der gute Hund.
Mein Zimmer aber ist seit dieser spiritistischen Sigung wie verhert. Gestern zum Beispiel, wie ich von dem feuchtfröhlichen Junggesellenabend nach Hause kam und mich auf das Sofa legte, ritt das Sofa mit mir im ganzen Zimmer herum. Fünfmal bin ich heruntergefallen und wie ich aufwachte, saß ich angezogen im Kleiderschrank. Und da kann nur der Spiritismus dran schuld sein oder die Spirituosen?!
Die Erde dreht sich langsamer! Der Tag oder die Periode, während welcher die Erde eine Drehung um ihre Achse ausführt, finsternisse gewonnene Entdeckung wurde fürzlich von Ernest W. wird allmählich länger. Diese, durch das Studium früherer SonnenBrown, Professor der Mathematit und Aftronomie an der YaleUniversität, eingehend dargelegt. Wir brauchen nun nicht zu beErde zu wackeln anfangen wird und schließlich ganz sich zu drehen fürchten," bemerkt dazu das Science News Bulletin",„ daß die aufhören könnte, wie ein abgelaufener Kreifel. Wenn das geschähe, dann jedenfalls erst in äußerst fernen Zeiten, denn Brown tröstet uns, daß die Verlangsamung und daraus entspringende Tagesverlängerung nur ungefähr eine Sehntel Sefunde in tausend Jahren beträgt. Aber die Entdeckung einer, über eine so lange Zeitspanne ausgedehnten, so winzig fleinen Veränderung ist schon an sich ein Triumph der mathematischen Astronomie. Das erste Anzeichen dafür, daß bei der Erdrotation etwas nicht stimmte, wurde vor über zweihundert Jahren durch den großen englischen Astronomen Ballen wahrgenommen, der fand, daß die zu seiner Zeit bekannte Mondbewegung nicht mit der früherer Jahrhunderte in lebereinstimmnug zu bringen war. In der nachfolgenden Zeit wurden zwei Theorien zur Erklärung dieser Unstimmigkeit aufgestellt: die eine, daß die, wenn auch geringe, Anziehungskraft anderer Planeten dafür verantwortlich sei; die andere, daß die Reibung der Meeresgezeiten die Erdbewegung verlangsame. Während der letzten zehn Jahre haben genaue Berechnungen erwiesen, daß die ozeanische Reibung tatsächlich diese Erscheinung erklärt. Seltsamerweise sind zwei Drittel der gesamten hemmenden Wirkung des Wassers auf die Erdrotation in einer einzigen Wassermenge, dem Behrings- Meer, vereinigt."