Nr. 38942. Jahrgang
1. Beilage des Vorwärts
Mittwoch, 19. August 1925
Durchfahrt verboten. Der Magistrat
Zum Spandauer Bock und nach Spandau über Kirschen Allee und Reichsstraßes
Fuhrwerfen, die heute über den Spandauer Berg zum Bod and weiter nach Spandau wollen, versperrt auf der Höhe der Wasser werke eine Verbotstafel die Weiterfahrt. Aller Verkehr wird über die Kirschenallee und Reichsstraße umgeleitet.
t Objekt eines großen Straßenbauprojektes geworden. Den Bejuchern der Bockbrauerei und der Rennbahn Ruhleben, den Auslüglern nach Spandau und zur Havel wird sich die Straße in nicht allzu ferner Zeit mit vollkommen veränderter Physiognomie zeigen. Augen und Nase werden sich dann ähnlicher Dinge wie auf dem Raiserdamm und der Heerstraße erfreuen. Wo heute eine ländliche Chaussee mit altem Baumbestand, Kastanien und Erlen, durchsetzt von Kiefern des ehemals bis hier reichenden Grunewaldes, dann eine Allee mit Bepflanzung, wie alle neuen Ausfahrtstraßen Berlins , ber Freude jedes malerisch Beförderten. Schrebergärten und Kolonien werden Villen weichen müssen. Die jetzt 18 Meter breite Chauffee soll 38 Meter breit werden. Zur Blanierung und Verbreiterung des Straßenzuges wird zurzeit eine umfangreiche Erdbewegung ausgeführt. Der Höhenrüden, über den die Chauffee vom Wasserwerk bis zur Brauerei führt, wird abgetragen. Eine 1000- Meter- Strede, 8 Meter im Maximalpunkt, ergibt rund 120 000 Rubikmeter Boden. 120 Erdarbeiter, von 3 Uhr morgens bis 9 Uhr abends auf zwei Schichten verteilt, legen Feldbahngleife,
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fällen Bäume, graben Erdleitungsneßen, den Eingeweiden der Großstadt, ein neues Bett. Wie Truppen im Stellungskrieg verschwin den die kleinen Häuflein der Arbeiter. Die Hauptarbeit leistet ein 2- Kubikmeter- Cöffelbagger, der das ganze Bild beherrscht. Hier wie überall die Maschine, die den Menschen ersetzt. Ein finsteres, schwer fällig scheinendes Ungeheuer, schnaubend und dampfend, das sich durch die Erde wühlt, mit jedem Hieb 2 Rubikmeter Boden losreißt und in bereitstehende Loren entleert. 200 Fäusten nimmt sie Arbeit und Brot, befördert allein bei sechzehnstündigem Betrieb 2400 Rubit meter Erde, 150 Kubikmeter pro Stunde. Drei Lorenzüge schaffen die abgetragenen Erdmassen nordwärts ins Spreetal . Hier wird Bauland vorbereitet, ein Straßenzug aufgeschüttet, die Dahlemer Wiesen, der ehemaligen Domäne Dahlem gehörig, zwischen der Berlin- Hamburger Bahn und dem alten Fürstenbrunner Weg werden planiert. Historisches Land wird dort zugeschüttet; wie heute Berlin nach Spandau . Die Straße zog der erste Kurfürst, von der Fürstenbrunner Weg, lief bis 1870 die einzige Verbindung von Nürnberg fommend, und auch später haben die Zollern mit ihren Knechten noch oft die Gegend beglüdt, Heerlager, Jagden, alles Dinge, die der Spießer schwer entbehrt.
Heute macht das ganze Gebiet den Eindrud eines Schlachtfeldes. 300 Bäume, 50-60jährig, sind schon gefällt. Um die der Chaussee anliegenden Kolonien ziehen sich immer dichter die Sandwälle. Viel Freude haben die kleinen Leute nicht an der Veränderung des Straßenbildes. Der Wind trägt den befreiten Sand über ihre Pflanzungen, Rauch und Lärm der Maschinen zerstören ihnen ihre
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furze Erholung. Die über die Chaussee nach Spandau verkehrende Straßenbahn lief die ersten Monate auf einem zu dem 3wed gelassenen Damm, nicht breiter als zwei Schienenpaare. Aber furchtsamen Gemütern famen hier bei jedem kleinen Regen Vorstellungen von Dammrutsch und abstürzenden Zügen. Für den auf der Sole Stehenden wuchsen Damm, Straßenbahn und Oberleitungsmasten in phantastische Höhen. Bis zum Jahresende hofft man die Erdarbeiten durchgeführt zu haben. Dann wird nach Fertigstellung des Straßenoberbaues der Terrainspekulation Gelände in Massen zur Verfügung stehen. Aus ift's dann mit dem Idyll um die Trabrennbahn und dem Spandauer Bock der Berliner , Avus und Heerstraße werden eine würdige Parallele haben.
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Die Erdarbeiten am Spandauer Bock.
Das unbegreifliche Ich.
Geschichte einer Jugend.
Roman von Tom Kristensen.
( Berechtigte Ueberfeßung aus dem Dänischen von F. E. Vogel) ,, Na, na, nun mußt du verständig sein, du weißt nicht, mas du sagst, du bist noch viel zu flein."
,, Ach, Samuelsen ist auch nicht besser, der ist ein Schuft!" Hast du gelauscht?" und gleichzeitig wurde mir eine Ohr feige versetzt. Sie tam so unerwartet, und ich hielt sie für so ungerecht, daß es mir Grund genug schien, laut zu schreien, obgleich es gar nicht mehgetan hatte. Und ich fing an zu heulen und mit den Beinen zu stoßen. Ich fühlte erst Erleichterung, als ich in bewußter Raserei ein Stück von meiner Schürze zerriß.
Bist du denn vollständig verrückt?!" schrie Mutter und griff nach mir, doch ich entschlüpfte ihr, und bevor ich es recht wußte, stand ich ohne Erlaubnis auf der Straße.
Dieses Gefühl von Vogelfreiheit überwältigte mich, und als Harry von ,, Suomi" angelaufen tam und mit mir spielen wollte, hatte ich feine Kraft dazu. Ich konnte mich nur auf eine Treppenstufe segen und mit ihm plaudern. Wenn ich mit ihm gespielt hätte, wäre es unartig von mir gewesen; doch wenn ich still faß wie ein artiger Junge, war es, als ob ich eigentlich gar nicht auf die Straße hinausgelaufen wäre,
,, Da kommt die Kirchendienerin!" sagte ich ernst. Ich hatte ihre schwarzgekleidete hohe Gestalt erblickt. Sie fam über den Platz gegangen.
,, Sie mauft aus der Armenbüchse," flüsterte Harry. ,, Was tut sie?"
"
,, Sie ist ein scheinheiliges Diebsstüd," sagt Mutter. ,, Was ist sie?"
Sie wird bald rausgeschmissen werden von dem frommen Bad."
Ich sah ihn entsetzt an. Er war ein hübscher, friedlicher Junge.
,, Das sagt Mutter," behauptete er. st sie eine Diebin?" fragte ich.
Harry nickte und schielte verstohlen zu der Kirchendienerin hin; doch ich stierte ihr gerade ins Gesicht. Sie sah wie Diebe haben
immer aus.
Das glaube ich nicht," antwortete ich. immer einen schwarzen Strich auf der Stirne.
,, Aber Mutter sagt es doch! Du fannst ja mit rüber tommen und fie fragen."
Wir standen auf und gingen über die Straße zu dem schmalen dreistöckigen Haus mit der Steintreppe. Auf den Stufen saßen einige finnische Jungen und schwagten mitein ander. Wir lächelten höhnisch über ihre unverständlichen Worte und gingen in die Schantstube herauf, mo einige See leute faßen. An der Wand hing das Bild eines Segelschiffes in startem Seegang.
,, Hallo, Jungens!" rief ein Mann in blauer Jacke und Sweater. Wir blieben vor seinen Knien stehen.
,, Wenn ihr diese Hand aufmachen könnt, sollt ihr jeder zwei Dere haben," sagte er und legte seine geballte Faust auf das Knie.
Im Nu warfen wir uns über sie, schüttelten sie hin und her, steckten die Finger bei seinem fleinen Finger herein und versuchten sie so aufzubohren.
Am selben Tisch saß ein zweiter Mann mit einer Dame, deren eine Schulter entblößt war. Sie lachte laut und trieb hörner!" uns an: Feste, feste, was seid ihr für ein Paar Spließ
Schließlich waren unsere Finger fest eingeklemmt, und wir wanden uns so, daß wir mit den Köpfen aneinanderstießen.
,, Nun wollen wir's genug sein lassen!" lachte der Mann und nahm uns auf den Schoß. Ich lag überm Tisch und begudte mir die großen Gläser mit gelbem Bier und die fleinen mit etwas Wafferähnlichem darin.
,, Willst du mal toften?" lachte die Dame und reichte mir ihr Glas.
Ich nahm einen träftigen Schlud, aber wie der im Munde brannte! Die Tränen stiegen mir in die Augen, und ich spie den Branntwein über den Tisch.
,, Seht mal den fleinen Sprengmagen an," höhnte die Dame, und beide Seeleute lachten.
,, Könnt ihr nicht die kleinen Würmer zufrieden lassen. Weil ihr selbst ein paar betrunkene Schweine seid, braucht ihr fie doch nicht mit Branntwein vollzugießen, versteht ihr? Hier ist mein Haus!"
Harry sprang ängstlich dem Matrosen vom Schoß. Das war seine Mutter, die das gerufen hatte, eine große dicke Dame mit einem großen weißen Gesicht.
,, Rommt mit mir, hier dürft ihr nicht bleiben! Solche verdammte Schweinerei! Wenn ihr euch nicht zusammennehmt, und du, Thyra, wenn du dich das noch einmal unter
Der große Bagger.
Manjer Zeichner an der Durchstichstelle zeichnete, fam eine Kolonne Notstandsarbeiter an seinem Standort vorbei. Ihrem furzen Verweilen und ihren Freudenäußerungen darüber, daß man fich fünstlerisch am Ort ihrer anstrengenden Arbeit interessiert, machte ein barsches:„ Los, Leute!" ein rasches Ende.
Sonntags- Sonderzug nach Hamburg .
Der große Erfolg, den die am Sonntag, den 14. Juni d. J., nach Hamburg veranstaltete Sonderzugfahrt hatte, veranlaßt die Reichsbahndirektion Berlin, diese Fahrt am Sonntag, den 23. August, zu wiederholen. Die Fahrpreisermäßigung beträgt 33% Proz., der Fahrpreis 4. Klasse ab Berlin für Hin- und Rückfahrt 12,80 m., Don Spandau 12,30 M., von Nauen 11,30 M. Der Sonderzug ver läßt den Lehrter Bahnhof um 6,20 vorm. und trifft um 11,17 in Hamburg ein. Die Rückfahrt ab Hamburg erfolgt um 6,53 nachm.. die Ankunft in Berlin 12,20 nachts. In Hamburg sind Führun gen durch die Hauptverkehrsstraßen der Stadt, Hafenrundfahrten mit Besichtigung der Hafenanlagen und ein Besuch von Hagenbeds Tierpart in Aussicht genommen. Reisende, die an diesen Veranstaltungen, einschließlich Mittagessen, teilnehmen wollen, müssen bei Lösung der Fahrkarte
| stehst, werdet ihr rausgeworfen. Das ist ein anständiges Haus hier, verstanden!"
Harrys Mutter schritt aus dem Lokal, und wir folgten ihr dicht auf den Hacken. Ihr breites schaufelndes Hinterteil überwältigte mich ganz; doch Harry, der weniger Respekt vor dessen Umfang hatte, hielt die Hände ganz weit auseinander, um mich auf seine Ausdehnung aufmerksam zu machen. Hinter uns tönte ein dröhnendes Gelächter.
Wir gingen durch neie rußichte Küche, wo drei vollbusige Mädchen standen und abmuschen.
,, Mutter, Waldemar will nicht glauben, daß die Kirchendienerin ein Diebsstück ist!" schrie Harry.
, irst du stille sein!" sagte die Mutter. Doch die Mädchen lachten laut, und eine von ihnen sagte: Du hast ganz recht, kleiner Walde!"
,, Was weißt du denn davon?" bemerkte die Mutter scharf. ,, Das weiß doch jeder!"
eine außen angebrachte Treppe herauf. Der Hof war dunkel Die Mutter ging weiter auf eine hölzerne Galerie und und feucht.
Ganz oben auf der Mansarde gelangten wir in eine kleine Stube, wo Harrys Bater auf einer Chaiselongue Mittagsruhe hielt. Sein langer ehrwürdiger Bart lag ihm über den Schultern, und er stant nach Schweißfüßen.
Zum Teufel noch mal, daß euch die dummen Biester auch nicht ,, Wenn ihr euch stille verhaltet, könnt ihr hier spielen. zufrieden laffen fönnen!" brummte fie.
Man hörte raschelnde Röcke draußen auf der Treppe. Eine junge Dame mit einer hinten offenen Bluse tam herein. ,, Mutter," sagte sie ,,, kannst du mir nicht die Bluse zumachen helfen?"
Ich tomme sofort, Schäßchen. Du bist verdammt spät auf den Beinen. Hier habt ihr ein paar Kuchen und das Familienjournal; aber ihr dürft Bater nicht weden."
,, Ist das deine Schwester?" fragte ich Harry. Wir saßen beide auf der Erde und schlugen uns mit einem gebundenen Jahrgang des Familienjournals herum.
Nee," grinste Harry ,,, das ist bloß so'ne Dame." Bir blätterten etwas in dem Buch.
,, Es wohnen so viele Damen hier; in der Nacht freischen sie, so daß ich nicht schlafen fann. Ich darf des Nachts nicht aus dem Zimmer gehen. Es ist zugeschlossen. Bater und Mutter gehen spät ins Bett."
Meine Mutter geht zeitig ins Bett," bemerkte ich. ( Fortsetzung folgt.)