Nr. 407 ♦ 42. Jahrgang
!♦ Seilage öes Vorwärts
SonnabettS, 20. August 1025
wie märkisthe Kleinstädte aussehen:
seinem Neffen Emil Busch wurde der Betrieb an die jetzt dem Groß- gefchäst dienende Stätte in der Berliner Straße verlegt: zwei Gedenktafeln am Haufe belehren über die beiden Begründer der Rathenower optischen Industrie. Die Geschicke der Stadt vor 1700 waren die üblichen der märkischen Städte: auf der Haoelinsel, die eine Wendenburg trug, machte sich die Niederlassung der Deutschen breit, die auf der Höhe der Insel die St.-Marien-Andreas-Kirche > erbauten. Otto mit dem Pfeil gab 1295 der Niederlassung da? Stadtrecht, er und sein Nachfolger, Markgraf Waldemar, statteten sie mit Landbesitz und dem 7000 Morgen großen Stadtforst aus. 2m Dreißigjährigen Kriege stark mitgenommen, begann die Stadt unter Friedrich Wilhelm I. sich zu erholen, da dieser Soldatensreund für sein Lcibkarabinierregiment die Neustadt begründete. Diese füllt jetzt die ganze Fläche zwischen dem Bahnhof und der Altstadt. An dem guten Willen der Rathcnower, sich dank- bar zu zeigen, ist nicht zu zweifeln, da sie. als ihr Patriotismus sie trieb, den Großen Kurfürsten 1738 ein Denkmal zu setzen, auf der Hauptinschristtafel eine Huldigung für den Gamaschenkönig mit ein- flochten und so„zwei Fliegen mit einer Klappe" schlugen. Neustaöt and filtftaöt. Mit einem kurzen Haken vom Bahnhof ausgehend, führt die Bahnhofstraße— rechts das Amtsgericht, links die Resterkaserne (jetzt mit einem Regiment Kavallerie belegt)— zum Kaiser-Wilhelm- Plag, über dessen Anlagen hinweg man das moderne gotische Kreishaus erblickt, 1893— 1895 von Franz Schmechten erbaut und von den Lokalchronisten als„Ehrendcnkmal der Rathenower Baustein- industrie" bezeichnet. Dem heutigen Geschmack kommt es furchtbar kitschig vor: eine Monumentalwirkung geht von dem unruhigen Portalbau nicht aus. Dort, wo die Bahnhofstraße auf den Ploi; mündet, ist jetzt das Duncker- Denkmol aufgestellt worden, das früher am Äirchplatz stand. Links einbiegend, führt uns die Dunckerstraße an den Monumentalbau der größten optischen Fabrik weiter ins Innere der Neustadt: wir gelangen zur Post, dann in der Berliner Straße an dem Duncker-Busch-Hause und dem Neustädtischen Rat-
Die stark befahrene Strecke Berlin — Stendal — Hanno. ver führt zunächst durch flaches, mehr oder minder fruchtbares Land, nur bei Rathenow , wo der Uebergang über die Havel statt- findet, ist der Charakter der Landschaft weniger eintönig. Wälder und bewaldete Kuppen werden sichtbar und bilden den Abschluß zu dem Bilde weiter Wiesengründe und im Sonnenlicht blitzender Wasserflächen. Bon den Schnellzügen halten allerdings nur wenige in Rathenow , aber neben der Hauptstrecke bieten Kleinbahnlinien nach Brandenburg a. d. H., Neustadt a. d. D. und Paulinenaue — Nauen bequemen Zugang von allen Seiten. Bor dem Kriege war Rathenow in dreifacher Hinsicht berühmt: als Sitz einer ausgedehnten optischen Industrie und als Herstellungsort der Rathenower Mauer- steine. Die Staüt Oer öriUen. Natürlich ist dies nicht buchstäblich zu nehmen: denn nicht nur Brillen, sondern alle Gegenstände unserer hochentwickelten optischen Industrie: Operngläser, Ferngläser, Mikroskope, Linsen sür andere wissenschaftliche Apparate, Schiffslaternen und Leuchtfeuer usw. wurden erzeugt. Nahezu 200 Betriebe sind vorhanden, in denen etwa 6000 Arbeiter, davon ein Viertel weibliche, beschäftigt sind. Zwei große Zlktiengesellschasten nehmen hiervon die Hälfte in An- spruch. Die kleinen Fabriken arbeiten meist für einen bestimmten Abnehmer: ein großer Teil treibt neben der Herstellung auch Groß- Handel. Aber neben den eigenen Werten, die diese Industrie schafft — aus Glas im Werte von 12 Mark holt sie beim Mikroskopbau einen Wert von 1900 Mark heraus—, wirkt sie auch noch befruchtend aus andere gewerbliche Tätigkeit: Lederetuifabriken, Hornsabriken sind entstanden: Maschinenfabriken stellen die notwendigen Werk- zeugmaschinen her, und eine rege Banktätigkeit ist ebenfalls«ine
Folge der hohe Werte schaffenden Deredlungsarbeit. Da diese nawr- gemäß mehr Anforderungen an die Intelligenz, als an die mechanische Kraft stellt, ist auch die soziale Stellung des Arbeiters eine besiere als in sogenannten Fabrikstädten. Mit Vergnügen liest man in der demokratischen„Rathenower Zeitung" das Programm des Arbeiter- kultur- und Sportkartells Rathenow für die Veranstaltungen des Reichsarbeftersporttages: da fehlen neben Schwimmen und Turnen nicht Konzerte. Aufführungen, Volkstänze, freier Schachverkehr. Und die Fsstkarte für die über zwei Abende und einen Sonntag sich erstreckenden Veranstaltungen kostet nur 20 Pfennig. Großstädtisches Leben spürt man in der Hauptstraße der Stadt, ohne den fatalen Anblick hoher Mietskasernen zu haben. Leider hat sich bei den Bauten, die die aufstrebende Stadt entstehen ließ, ein ästhetischer Sinn vielfach nicht betätigt, und der auf einer Höhe aufgeführte Bismarck -Turm zählt zu den geschmacklosesten Werken dieser Art. Prächtiger Baumschmuck— namentlich Linden— entschädigt und verdeckt manches Unschöne. JXü» üer Vergangenheit. Rathenow hat zwei historische Moment«: IS. Juni 1675, da Derfslinger in den Mauern der Stadt ein schwedisches Regiment überrumpelte und dadurch die Vereinigung der beiden in Havelberg und Brandenburg a. d. H. stehenden schwedischen Truppenkörper vereitelte, eine Tat, die den darauf folgenden Sieg bei Fehrbellin ermöglichte,— und 1800, in welchem Jahre die„Königlich privi- legierte optische Industrieanstaft" begründet wurde. Und zwar durch den Prediger August Duncker, der damals zusammen mit seinem Dater das Pfarramt versah und den gemeinsam erhaltenen Sold durch diese Tat aufbessern wollte. Mit Hilfe eines von einem Amtsbruder erhaltenen Darlehen» begann nun im pfarrhaufe mit Kriegs- invalide» und Soldatenwaisen da» Schleifen von Brillen. Unter
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Jenseits der Brücke noch geringe Reste der einstigen llniwallung. Die Steinstraße führt zum Markt, der eigentlich keiner ist, sondern sich nur als verbreiterte Straße darstellt. Hier das alte, unschöne Rothaus, jetzt Sitz des Finanzamtes. Links zur Kirche emporsteigend. steht man bald vor dem prunklosen, aber gut gegliederten, stattlichen Bau, der im 16. Jahrhundert ans der alten romanischen Basilika gotisch umgestaltet wurde. Der 77 Meter hohe Wcstturm ist im Jahre 1801 errichtet worden. Im Inneren hat man die frühere weiße Tünche beseitigt und durch teilweife Färbung der Steine eine warme Stimmung erzeugt. Auch die stark dekorativ wirkende Kanzel fügt sich gut in das Gesamtbild ein. Vom Rathaus führt die Havelstroße in der bisherigen Richtung zum Havcltor, das aber köine architektonische Bedeutung mehr hat: auch hier noch einige Mauerreste. Dann über die Lange Brücke auf Promenadcnweg ziir
Das unbegreifliche Ich. 20i Geschichte einer Jugend. Roman von Tom krisiensen. (Berechtigte Uebersetzung aus dem Dänischen von F. E. Bogel .) „Er wollte dich beißen? Und du hast gesehen, wie er aussah?" „Ja, er hatte keine Augen. Bloß zwei Höhlen. Und ich schrie. Aber dann kamen die anderen und zogen und zogen, und die Hand, eine Totenhand mit langen Fingern, kam ganz mit aus dem Loch heraus. Du kannst dir denken, wie gräßlich das war. Dann ließ er los, und wir liefen aus Leibeskräften." „Du traust dich nicht mehr dahin?" Sejr schüttelte den Kops. Wir waren an die Ecke der Straße gekommen, wo ich wohnte. „Da unten wohne ich. Lebewohl; aber wollen wir nicht Freunde sein?" Er nickte und so wurden wir Freunde. Ich hing sehr an ihm, denn er erlebte mehr als ich. Seine Erzählungen erweiterten und vertieften die Welt, ober machten mein eigenes Ich klein und arm. Selbst meine Fähigkeit, etwas zu erleben, verlor seine Stärk«, schien mir, und des- halb mar ich ihm als Zuhörer verfallen. Ich fragte ihn recht anspruchsvoll aus und verlangte immer mehr von ihm. Er sollte etwas erleben, das war das. was die Grundlage unserer Freundschaft bildete....�„ Im Hause erzählte ich von Sesr. Ich nahm chn auch mit nach oben, und Mutter konnte ihn gut leiden. „Er ist aber ein kleiner Schwindelmcyer!" sagte sie. als er gegangen war. Sie saß am Fenster und nähte Hüte für Geschäfte. Ihre Augen blinzelten nervös und überanstrengt. „Nein, das ist er nicht. Er hat selbst den Toten gesehen, und er ist die Treppen heraufgekommen und hat geklingelt. Sejr hat selber aufgemacht; aber dann kam sein Vater und da ist er weggelaufen." „Das redet er dir bloß vor."....._. Aber ich blieb unerschütterlich. Ich hing mehr an Se,r als je. Ich brachte ihn immer weiter nach Haufe. Ich sah, «o er wohnte. Es war ein weißes Haus, und ein paar Bäume standen in der Nähe. Ich war mit oben und lernte se'ue Brüder kennen, dünne, blasse Jungen, die mit Eifer und Phantasie spielten.
Ach, wenn ich doch Sejr wäre, dachte ich oft. Als ich zu feinem Geburtstag eingeladen wurde, ging ich voll gespannter Erwartung hin. Große Erlebnisse mußten mir bevorstehen. Vielleicht würde ich selbst den Toten treffen und würde durch und durch geschüttelt werden und nur mit knapper Not entschlüpfen können. Wir spielten Versteck und stürmten über Boden- und Kellergänge. Besonders war da ein dunkler, winkliger Keller. und als ich den entdeckt hatte, versteckt« ich mich darin. Dunkel und mit zwei Ausgängen, das war das Richtige! Einige der anderen versteckten sich auch hier unten. Wir konnten einander nicht sehen. Unversehens ftieß man an etwas Weiches und konnte abfühlen, wer es war. Wir waren still, um uns nicht zu verraten. Wenn wir dann im Keller- hals auftauchten und mit den Augen blinzelten wegen des starken Tageslichts, konnten wir uns verwundert ansehen, als ob wir vergessen hätten, wie wir eigentlich aussahen. Aber als etwa ein« Stunde vergangen war, sahen wir Sejr gegen ein eisernes Gitter im Hofe gelehnt stehen. Er stand vornübergebeugt und es war etwas los. was er uns nicht erzählen wollte. Wir scharten uns langsam um ihn. Das Spiel hörte von selbst auf; und wir starrten unruhig auf uns und ihn. „Habt ihr nichts unten im Gang gesehen?" fragt« er ganz leise. Nein, keiner von uns hatte etwas gesehen! „Doch, hinten, wo der Gang um die Ecke geht, steht ein« Tür noch einem Kohlenkeller nur angelehnt, und da ist es ein ganz klein bißchen heller." Ja, das stimmte, wir tonnten uns darauf besinnen. „Da lag ein Mann. Er log auf der Erde. Ich konnte deutlich fein Gesicht sehen. Er drehte es mir zu. Habt ihr es nicht gesehen?" Wir wurden alle zusammen blaß. In meiner Angst griff ich um das eiserne Geläpder und starrte auf das weiße Haus, das so unheimlich war. und wenn ich meinen Eindruck von dem Haus, so, wie es in meiner Erinnerung lebt, ausdrücken wollte, so würden bleiche, durchsichtige Mauern mit Fenstern und ein dunkler Gang unten, der deutlich wie eine Ader unter der Haut hervortrat, sich am besten damit decken. Wir waren wie zersplittert und verlangten nach einer Kraft, die größer als unsere eigen« war. Keiner von uns wagte es. in den Keller herunterzugehen; doch trotzdem lag die Erscheinung, die nur Sejr gesehen hatte, in uns und quälte uns mit ihrer Umvirklichkeit. Wir erlebten das Entsetzen.
ohne daß es Form annahm, es war kern bestimmtes Bild, vor dem wir ängstlich zurückwichen. Wir liefen nach oben und erzählten Sejrs Eltern alles. Wir drängten uns um fernen Vater, einen grauhaarigen Mann, der in einem Schaukelstuhl am Fenster saß und in unserer Aufregung nahm einer dem andern das Wort aus dem Mund. Der Vater ftagte uns aus und lachte über uns. Wo wir das denn gesehen hätten? Und Sejr mußte das Ganze noch einmal erzählen. Die Worte kamen langsam aus ihm heraus, und er sah müde aus. „Ihr seid eigenttich viel zu groß, um noch solchen Unsinn zu glauben: aber jetzt werde ich mal selbst runtergehen und nachsehen", antwortete der Vater und stand auf. Ich ging an Sejrs Seite, der andauernd gradeaus sah. Ich blickte ihn die ganze Zeit an. Er war es ja, der das Ganze erlebt hatte. Und dann konzentrierten sich alle meine G-e- danken auf ein kleines Loch, was er in der Schläfe hatte, ein winziges Locl war.
ach, das in die Haut ging und ganz unten dunkel
Wir gingen hinter dem Vater in den Keller herunter und fingen an, ihn zu untersuchen. Wir öffneten die Türe zum Kohlenkeller und der Bater steckte ein Stteichholz an, so daß wir sehen konnten, daß nichts da war. „Er muß mittlerweise nach oben gelausen sein", sagte Sejr. Aber selbst nach dieser beruhigenden Untersuchung war die Geburtstagsstimmung verdorben. Alle neuen Spiele wurden immer wieder abgebrochen und wir konnten nicht mehr recht was miteinander anfangen. Wir rotteten uns zu- sammen und drückten uns in den Stuben herum, als ob wir nicht ganz begreifen konnten, daß wir in Sicherheit waren. Sejr ging auf fein Zimmer. Bevor es dunkel wurde, brachen wir auf, und ich ging durch einige Quersttaßen noch Hause. Ich war unruhig: aber obgleich die in unserem Hause gesagt hatten, daß da unten in den Querstraßen ein paar Jungen wohnten, die alle verprü- gelten, die sie zu fassen kriegten, ging ich doch da entlang. Ich dachte immer an den Mann unten im Keller. Da hörte ich eine Stimme aus einem Torweg rufen: „Da ist er!" und ich vernahm wie ein Paar Hvlzfchuhe in««» auf die Steine geworfen wurden. Es durckMckte mich und ich fing schleunigst an fortzulaufen. Ein einziges Mal sah H mim um. Ja, sie liefen mir nach. Sie setzten in rasender Fahrt auf Strümpfen �hinterher. Wie viele es waren, darüber ickr
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(Fortsetzun,