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Nr. 419 42. Jahrgang

1. Beilage des Vorwärts

Cheberatung Clame!

Sie alle, die da fommen, um sich in der Eheberatungs, ftelle der Stadt Wien   Rat zu holen, für die Sehnsucht nach her ehelichen Gemeinschaft, nach Glück überhaupt, nach Freude,

Friede und Lust. Eine Sehnsucht, die gerade in tranfen, in früppel­haften Menschen oft am stärksten ist aber freilich auf dieser schönen Erde so selten befriedigt werden kann.

Wer kommt?

Es kommen Leute aus allen Berufen, Arbeiter, Angestellte, Hausgehilfinnen. Auch reiche Leute, die sich einen Privatarzt leisten fönnen. Sie glauben mit Recht, daß fie vom Beamtenarzt die volle Wahrheit erfahren, während der Privatarzt vielleicht doch von dem Gefühl beeinflußt wird, daß er seinen Batienten verlieren könnte. Die Eheberatungsstelle steht unter der Leitung des Genossen Dr. Karl Kautsky  , eines Sohnes des großen Borkämpfers der Sozialdemokratie. Die Cheberatungsstelle verfolgt vor allem einen hygienisch- pädagogischen Zwed. Es tommt dem Eheberater nicht Barauf an, so und soviele Ehen zu verbieten, sondern vielmehr die Leute zu erziehen. Sie sollen sich ihrer Verantwortung bewußt werden: der Verantwortung gegen sich selbst, weil sich ihre Krankheit verschlechtern kann; der Verantwortung gegen den Gatten, der an gesteckt oder sonst gesundheitlich bedroht werden fann und schließlich der Verantwortung gegen die Nachkommenschaft, die durch lleber­tragung von Krankheiten oder durch Vererbung von Krantheits­anlagen( Geistesfrankheiten) geschädigt werden tann. Die Ehe­beratungsstelle leiftet auch wertvolle Aufklärungsarbeit. Sie hat ein Merkblatt herausgegeben, in dem es unter anderem heißt: Die Gesundheit der Ehegatten ist für das Glück der The wichtiger als Geld und Gut..." Auch die Fürsorgeräte sucht die Cheberatungs­stelle für ihre nützliche Tätigkeit zu interessieren. Sie hält auch Vor­träge in Versammlungen und in der Wiener Urania   ab.

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Das unbegreifliche Ich.

Geschichte einer Jugend.

Roman von Tom Kristenjen. ( Berechtigte Ueberlegung aus dem Dänischen von F. E.   Bogel  .)

Samuelsen hatte eine Dame, ein Fräulein Laurigen, mit fich, und als sie bei Tisch saßen, fonnte ich merken, daß Mutter merkwürdig gereizt war. Sie war bitter in ihren Bemerkungen, aber verbarg das unter einem unbeherrschten Gelächter. Ihre Stimme tiang lauter als gewöhnlich, und hin und wieder schien es, als ob sie jeden Augenblick in Weinen übergehen könnte.

Samuelsen saß unerschütterlich und freundlich da. Ich ritt auf seinen Knien, aber nur ganz in Betrachtung der fremden blonden Dame versunken, die Rreibe auf der Rase hatte und Alter Junge!" zu Samuelsen sagte, wenn sie ihm auf die Hand klopfte.

Ich hatte das Gefühl, daß nicht alles in Ordnung wäre. Samuelsen war gut Freund mit Fräulein Laurigen; aber er war auch gut Freund mit Mutter, und Mutter hatte auf Fräulein Laurigen Die, Kröte" gesagt, bevor sie tam, und Ich freue mich sehr, Sie zu sehen", als sie zur Tür herein trat; und Samuelsen lächelte, er faß und schmorte", wie Mutter zu sagen pflegte. Es war alles verkehrt, und ich widersprach deshalb allen dreien, wenn sie mit mir sprachen. und während wir Kaffee tranfen, grinste ich die ganze Zeit. Sutter griff nicht ein; sie schien meine Ungezogenheit und die Nervosität der Gäste zu genießen.

Na, Waldemar, mas macht die biblische Geschichte?" fragte Samuelsen, um mich zur Ruhe zu bringen.

,, Die biblische Geschichte," lachte ich, das ist der richtige Quatsch."

Ich sagte das mit unerschütterlicher Ueberzeugung, denn es war nicht meine, sondern die Entdeckung eines anderen. Nämlich Charles hatte diese überlegene Behauptung auf gestellt.

Samuelsen schien bekümmert zu sein. Er hatte ein mert mürdiges Interesse für meine geistige Entwicklung. Und langsam murmelte er:

" T

Wenn er bloß nicht dumm wird!"

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Das Gesundheitszeugnis.

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Sonnabend, 5. September 1925

Die Untersuchungen sind oft sehr mühenoll, und die, die sich ihnen unterziehen, müssen viel Geduld aufbringen. Aber die Menschen, die in die Eheberatungsstelle kommen, beweisen damit schon, daß sie Verantwortungsgefühl haben, und also nehmen sie auch gern einige Mühe auf sich. Auf Grund der Befunde wird dann das Gutachten abgegeben. Es darf dabei freilich nicht nur der rein medizinische Be­fund in Betracht kommen, denn auch die wirtschaftliche und soziale Lage des einzelnen ist von größter Wichtigkeit. Bei einem Lungenkranken zum Beispiel würde man nicht nur nach seinem Befunde fragen, sondern auch danach, ob seine wirtschaftliche Lage die Ehe gestatte, ob diese ein geregeltes Leben verspricht, und nicht zulegt muß das rein seelische Verhältnis der Ehegatten zueinander in Betracht gezogen werden. Für lungenkranke Frauen wird die Ehe infolge der Mehrarbeit und der Gefahr der Schwangerschaft in vielen Fällen faum eine Erleichterung bringen.

Schwierige Fälle.

Ein Mädchen, das vollkommen vereinsamt ist, hat einen häß­lichen Krüppel gefunden, den es heiraten will. Er hat eine schwere Berbiegung der Wirbelsäule und wahrscheinlich eine Lungenfrankheit, wenn auch feine offene Tuberkulose. Aber das Mädchen will einen Menschen haben, für den es sorgen kann. Da ist es gewiß schwer, geradezu von der Verbindung abzuraten. Ein junger Mann, der schon mehrmals( wegen Tobsucht) in der Irrenanstalt war und immer wieder gesund entlassen wurde, will eine Frau heiraten, die ihn wegen seiner sonstigen Vorzüge sehr schäßt. Beide sind sich ihrer Verantwortung bewußt und wissen, was sie von einander zu er­warten haben. In beiden Fällen muß aber zur Vermeidung von Nachkommenschaft geraten werden. Das kann durch Unfruchtbar. machung des Mannes geschehen. Die Frau soll die Möglichkeit haben, doch noch ein Kind zu erhalten; nur von diesem Manne darf es nicht sein. Die Unfruchtbarmachung des Mannes wird durch die Unterbindung des Samenstranges( eine Operation, die Steinach zum Zwecke der Verjüngung ausgeführt hat und die in Amerika   an Gewohnheitsverbrechern ausgeführt wird) erzielt. Eine ähnliche, wenn auch gefährlichere Operation: die Unterbindung der Eileiter  , fann bei der Frau ausgeführt werden. Aber dazu wird nur ge­raten, wenn die Frau schon Kinder hat. Die Berufsvormundschaft schickt ein Paar; sie ist neunzehn, er vierundzwanzig. Beide sind taubstumm, allerdings nicht von Geburt an, sondern infolge einer Hirnhautentzündung. Sie ist überdies halbblind, aber überaus in­telligent, amüsant, sprühend. Weil die Mutter, die scheinbar eine fleine Tyrannin ist, der Tochter einmal irgendeinen Wunsch ver­weigerte, ging diese ins Wasser. Sie wurde herausgezogen, in einer Irrenanstalt beobachtet und alsbald als geistig gesund entlassen. Sie droht wieder mit Selbstmord, wenn man ihr den Poldl" nimmt.

PP

Welche Kranke kommen am meisten?

Tuberkulose, Geschlechtskrankheiten und nervöse Störungen, vor allem Störungen der Potenz, beschäftigen den Cheberater am häufigsten. Am schwierigsten ist eine Entscheidung bei den Syphili tifern zu fällen. 3m allgemeinen ist ein Syphilitiker, der dauernd unter ärztlicher Kontrolle steht, und die höchst ansteckenden ersten Stadien hinter sich hat, ungefährlich und fann, unter gewissen Bor­aussetzungen, heiraten. Aber allgemeine Richtlinien lassen sich hier nicht aufstellen. Insbesondere muß vor dem Irrtum gewarnt werden, als ob eine negative Wassermannsche Reaktion im Blute gleichbe­deutend mit Heilung wäre. Unter den nervösen Störungen spielt eine besondere Rolle die Homosexualität. Diese Kranten glauben oft, daß sie durch die Ehe von ihrem Leiden geheilt werden können. Damit sind sie leider im Irrtum. Homosexuellen muß von der Ehe abgeraten werden. Unter den Potenzstörungen sind viele, die nur aus der Eingebildetheit der Kranten entstanden sind, und andere, die ihren Ursprung in den Entbehrungen der Kriegsgefangenschaft haben. Den meisten, dieser Leute ist zu helfen.

Es wird oft die Einführung eines obligatorischen Gesundheits- g zeugnisses, das vor jeder Eheschließung ausgestellt werden muß, ver­langt. Dagegen, erklärt der Cheberater, sprechen einige Bedenken. Sunächst sind die Menschen noch nicht reif genug dazu. Sie würden ein Cheverbot durch das Konkubinat umgehen oder die Ehe im Aus­land schließen. Aber auch die Medizin ist noch lange nicht soweit, daß fie in allen Fällen mit voller Sicherheit entscheiden tönnte, ob einer gefund oder frant ist. Man fann natürlich mit Sicherheit bei offener Tuberkulose oder Syphilis die Ehe verbieten, aber bei einem Menschen, der vor zehn Jahren Syphilis   hatte, ist die Entscheidung außerordentlich schwierig, ebenso bei den Grenzfällen von Nerven­leiden. Verlangen tönnte man höchstens die obligatorische Unter­fuchung durch einen Arzt, der einem Kranten das Gewissen schärfen, es aber im übrigen diesem überlassen müßte, ob er die Ehe eingehen will. Es tommen nicht nur Leute, die heiraten wollen, sondern auch solche, die schon lange verheiratet sind und etwa Auskunft wünschen, wie der Unfruchtbarkeit( oder auch dem Gegenteil) abzuhelfen wäre. wie der Unfruchtbarkeit( oder auch dem Gegenteil) abzuhelfen wäre. Die Eheberatungsstelle erteilt eben Rat in allen Fällen, die mit der Hygiene des Geschlechtslebens irgendwie zusammenhängen. Manch einer sucht bloß Aufflärung über hygienische Fragen und findet sie ebenfalls in der Cheberatungsstelle. Nur über juristische Fragen ( Chefcheidung, Alimentation) wird keine Auskunft gegeben.

Der Gang der Untersuchung.

Zunächst wird die Borgeschichte erhoben, um etwaige Krankheits anlagen festzustellen. Herz und Lunge untersucht der Eheberater selbst. Benn aber ein genauer Befund nicht zu ermitteln ist, werden die Leute in ein Ambulatorium oder zur Krankenkasse geschickt. Die meisten Krantentassen, auch die unter bürgerlicher Leitung, haben sich bereit erklärt, Untersuchungen für ihre Mitglieder durchzuführen.

zu einem schallenden den Teufel auch". Zu meiner größten Verwunderung lachte Mutter wieder.

" Du bist aber mal unartig geworden!" stieß Samuelsen hervor; doch ich drehte mich auf seinen Knien um und sah ihm gerade ins Gesicht.

Das ist Gott   furchtbar egal, ob ich zum Teufel noch mal" fage.

,, Du weißt ja gar nicht, was du redest."

Doch, das weiß ich. Neulich fiel ich hin und stieß mir das Knie und schrie: Au, zum Teufel nochmal; aber ich habe trotzdem fein schlechtes Zeugnis bekommen. Ich traue mich alle passenden Worte zu sagen."

Hör mal, Nina, du solltest beffer auf den Jungen auf­passen!" fagte Samuelsen streng. Es ist ja nicht dein Junge, also kann es dir ganz egal fein," antwortete sie scharf.

Nicht, wenn er in mein Geschäft eintreten soll." Mutter stand so hastig auf, daß die Kaffeetassen flirrten und ging ins Schlafzimmer.

,, Du, wollen wir nicht lieber meggehen, hier ist es nicht sehr gemütlich!" flüsterte Fräulein Laurizen böse und eine tiefe, wagerechte Falte sprang zwischen ihren schwarzen Augenbrauen hervor.

Im gleichen Augenblid tam Mutter wieder zur Tür herein.

,, Es war bloß etwas Wasser draußen am Ueberkochen", fagte fie, aber ihre Stimme zitterte. tommst du ins Bett", fügte sie hinzu. " Und du, Waldemar, haft den Mund zu halten, sonst

Nun war sie munter und liebenswürdig. Mit raschen Bewegungen schenkte sie mehr Kaffee ein, und sie sprach die ganze Zeit. Alle natürlichen Pausen füllte sie mit einer Menge fleiner Ausrufe aus. Sie widelte fich ein ins Geschwäß und verstedte sich hinter fleinen Anekdoten und schlechten Wizen. Aber ich konnte den reißenden Wortstrom Deshalb froch ich von Samuelsens Knien nicht leiden." herunter und ging an meinen Tisch, um Blumen und Gesichter zu zeichnen. Das letztere war eine neue Fähigkeit, die mir ganz unerwartet in die Finger gekommen war. Ich konnte die Gesichter ähnlich machen.

Ich war mitten in einer Wust von Gesichtern und Mar­unterbrochen wurde, die am Fenster standen und über ein Liebespaar unten auf der Straße lachten.

Aber ich lachte höhnisch und antwortete, so dumm wie garetenblumen, als ich von Mutter und Fräulein Laurigen er mürde ich doch nicht werden."

Und darüber lachte Mutter auch.

Als das glatt ging, entfaltete ich meine neuen verborgenen Fähigkeiten. Ich wagte ein fleines verdammt nochmal bis

Bott, was er ihr da nun vorlügt!" sagte Mutter böse. Du bist wieder fo zynisch!" bemerkte Sammelsen lang=

*

Sie rühren an die tiefsten Probleme des menschlichen Lebens, menschlicher Sehnsucht, menschlichen Leidens, die Bilder, die sich an jedem Beratungsabende vor dem forschenden Auge des Arztes ent­rollen. Und die Beratungsstelle cine von den vielen nüßlichen Einrichtungen, die die rote Gemeinde Wien   geschaffen hat leistet die wertvollste Arbeit im Dienste der Allgemeinheit.

Die Männerfchwimmhalle des Stadtbades Neukölln ist vom 7. September d. J. für die Zeit von etwa vierzehn Tagen wegen Ausführung von Instandießungsarbeiten geschlossen. Alle übrigex Abteilungen bleiben wie bisher geöffnet.

sam und salbungsvoll von seinem Stuhie aus, das Erlösende in der Liebe fannst du nicht sehen."

Nein, und ich bedanke mich auch dafür," lachte Mutter. Fräulein Laurigen sandte Samuelsen einen warmen Blick zu, und ich wollte gerade loslachen, als einige schmutzige Gedanten in mir aufstiegen.

Fräulein Lauritzen strich sich mit den Händen über Brust und Hüften, und alle die Bilder und Phantasien, die mich erfüllten, strömten auf mich ein. Ich versuchte, mich durch ihr gelbes Kleid hindurchzudenken; aber alle Bersuche waren ver­gebens. Es gab Männer und es gab Frauen. Da war Samuelsen und Fräulein Lauritzen. Und die Männer gingen in Jacke und Hose und die Frauen in Röden, und das hatten sie stets getan, denn das mußten sie. Nein, nein, das mußte eine große Lüge sein, die alle Schuljungen übereingekommen waren, sich gegenseitig vorzuschwindeln. Das war so eine Milchjungenlüge

Aber der Gedanke fam wieder und mit ihm zusammen alle die phantastischen Worte, die schlimmer als zum Teufel" waren. Ich bekam einen heißen Kopf; aber es war etwas an den Worten, worüber ich Klarheit haben mußte, und ich murmelte sie vor mich hin, ich wiederholte sie, um zu ver­suchen, ab das Häßliche nicht beim Gebrauch sich abnugen könnte, so, wie die Wolle sich am Stoff abmußte. Es waren vielleicht nur schmutzige Worte, die die Jungen hier in der Gegend gebrauchten.

Ich starrte wieder auf Fräulein Laurizen. Ich fannte sie nicht, und deshalb war es feine Entweihung, an sie zu denken. War sie, wie die Jungens sagten? Ich starrte, und plötzlich war es, als ob meine Phantasien Fleisch und Blut erhielten und eine schreckliche, unsaubere Wahrheit die ganze Welt zer­sprengte. Ich ahnte ein Verbindung zwischen Samuelsen und Fräulein Laurigen, und in weiter, weiter Ferne stieg mir eine Nacht auf, wo ich in unserem Schlafzimmer von Samuelsens Stimme geweckt worden war; aber was war das denn, nein, was war das denn?

Wieder richtete ich meine Aufmerksamkeit auf Fräulein Lauritzen. An alle die Geschichten, die ich auf der Straße und in der Schule gehört hatte. mußte ich denken. Ich riß sie alle an mich, alle; aber trotz ihrer Menge verflüchtete die neue Wahrheit sich wieder.

Auf meinem Tisch lag das einzige Resultat, das mir aus der Welt der Erwachsenen in die Finger geraten war. Mit einer scheuen Bewegung sah ich auf eine Zeitung, in der sich ein Bild befand, über dem folgende Zeilen standen: ( Fortjegung folgt.)