Nr. 431 ♦ 42.?ahrgaug
7. Seilage öes vorwärts
Soanabevö, 12. September 1923
Wie märkiMe KleinMöte aussehen: jßüsbben.
weist. Ein moderner zwischen Ständehaus und Schwß aufgeführter Bau ist Sitz des Katafteramts: von ihm aus hat man guten Blick auf die Giebelfront. Weitergehend gelangt man bald"zu der in stattlicher Breite dahinfließenden Spree. » Dos.Gondole! Gondole!' der venetianifchen Barkenführer hat kein Gegenstück bei dem schweigsamen Norddeutschen. Der Boots- führer wartet, bis du deine Wünsche zu erkennen gegeben hast. Die flachen Boote, in die die Sitze eingehängt werden, so daß man stets nach vorn sieht, fahren sehr angenehm dahin: die Fortbewegung wird bekanntlich nicht durch Rudern, sondern durch Staken mit einer langen Stange bewirkt. Auf der Fahrt erblickt man schon die für den Winter aufgestapelten cheuoorräte: Der Schober hat die Form
*-4 Der in den Spreewold will, eilt meist achtlos an Lübben vor- über und strebt Lübbenau zu. das zudem als Stapelplatz der von den Spreewaldbewohnern gewonnenen Gemüseprodukte gilt. Dem Lübbenauer.Betrieb' hat aber die Stadt Lübben manche andere Vorzüge entgegenzusetzen, und zudem ist ihr auch der Spreewald- charaktcr nicht ganz abzusprechen. ütt alter und neuer Zeit. Wie noch heut« die Schienenwege Berlin — Lübben — Görlitz und Uckro— Lübben— Beeskow lehren, ist Lübben stets der Schnittpunkt von haudelswegen von Norden nach Süden und von Westen nach Osten gewesen. Die Loge der Stadt, die auf einer allerdings nicht bedeutenden, von der Spree umflossenen Erhebung liegt, zwischen den beiden Spreewaldteilen erklärt diesen Dorteil, der namentlich die Stellung zu dem benachbarten Luckau , dem Havptorte der Nieder- lausitz in älterer Zeit, beeinflußte. 1007 wird Lübben bereit» al« wichtiger Ort genannt, Nachfolger der alten wendischen Siedlung. in der die Gottheit.Liubo " verehrt wurde. Bald sächsischer, bald brandenburgischer Besitz, geriet die ausblühende Stadt später in die Gewalt der die Niederlau'sitz beherrschenden böhmischen Krone. Der Dreißigjährige Krieg vernichtete ihren Wohlstand: nach dessen Beendigung erholte sie sich unter nunmehriger sächsischer cherrschast, die bis 1813 dauerte. Dann kam Lübben in preußischen Besitz. Das 19. Jahrhundert bracht« eine langsame, aber stetige Entwicklung: die Devölkernng ist aus 6000 Einwohner angewachsen: neue Stadt- viertel sind entstanden, mit großen, boumbcwachsenen Straßen, die sich, ebenso wie die der Altstadt, durch peinliche Sauberkeit auszeichnen. Als Sitz des Landratsomts, Realgymnasiums, der Brovinzialirrenanftalt usw. hat sie Bedeutung für einen großen Umkreis, und wenn auch Acker- und Gemüsebau die Haupttätigkeit ausmachen, so fehlt die Industrie(Trikotagen) nicht ganz: weithin bekannt ist auch das Lübbener Braunbier. Die Ruhe und Gepflegt- heit der Stadt, die bequemen Spaziergänge und die anmutige Um- gegend haben ihr auch den Besuch vieler Sommerfrischler verschafft, zumal solcher, die sich gern auf dem Wasser vergnügen. Gute Fluß- bäder und ein Warmbad sind vorhanden. Ein Sang durch die Stadt. Die in vielen Kleinstädten vorhandene, meist unschöne Bahnhos- stroh« wird hier durch einen promenadenwcg ersetzt, der den Ein-
treffenden vom Bahnhof zur Stadt führt. Es ist der Hauptweg eines zirka 80 Morgen großen Parks, der den poetischen Namen .Der Hain' trägt. Bei einer Brücke, die über die von Luckau kommende, bei Lübben in die Spree mündende Berste führt, ilt rechts der Eingang zu dem alten, nicht mehr benutzten Kirchhos, der namentlich zur Fliederzeit einem Märchenpark mit seinen engen Gängen gleicht. Weiter führt uns der Weg an Denkmälern(das eine ist dem in Lübben geborenen bekannten reaktionären Minister- Präsidenten Otto von Manteuffel gewidmet) und an einem die Erinnerung an die jagenhaste Göttin.Liuba' wachhaltenden Ge- denkstein vorüber zu der hospltalkirche. einem malerisch im Grün gelegenen Fachwerksbau, vor dem sich«ine sächsische Postsäule von 1714 erhebt. Rechts geht eine Straße nach dem nahen Dorfe Stein- kirchen, dessen Kirche die Grabstätte der Familie v. Heuwald ziert, deren eines Mitglied, Ernst Christoph(1778— 1845), das Amt eines Landesdeputierten der Niederlausitzer Stände mit dem Beruf eines seinerzeit auf ein lränenseliges Publikum große Wirkung erüelenden Dramendichters vereinigte. Wenden wir uns von der Postsänle links, so nimmt uns die Breite Straße auf, die zur Spree führt. Dort liegt links zwischen zwei Spreearmen die Psaueniusel, von der aus die Fahrt nach dem Unterspreewald angetreten werden kann. Ueber die Spres hinweggehend, betreten wir das Gebiet der Alt- stadt: rechts die Hauptstraße, links die Poststraße, die zum ge- räumigen Markt führt. Hier gibt die hanpt-(oder Nikolai-) Kirche. ein hoher, spätgotischer, dreischiffiqer Bau mit zierlicher Turmspitze, einen wirkungsvollen Abschluß. Bor der Kirche dos Denkmal Paul Gerhardt », der von 1668 bis zu seinem Tod«(1676) in Lübben als Archidiakonus wirkt«. Er ist unter dem Altar beigesetzt: sein Bild befindet sich im Chorraum. Di« Flächen des Denkmolsockels tragen Liederverse Gerhardts, der der unter den Schrecken des Dreißig- jährigen Krieges leidenden Menschheit dichterische Trostworte ge- spendet hat.— Hinter dem Chor erhebt sich in Straßenfront die schlichte wendische Kirche, die von der nicht zahlreichen wendischen Bevölkerung der Stadt und der nächsten Umgebung besucht wird. Geht man von der Kirche rechts weiter, so kommt man an dem ehemaligen Ständehaus vorbei zu dem interessanten Renaissance- schloß, einst Sitz der Landesoögte. Die Anlage ist äußerst originell: um einen freistehenden, sehr breiten Turm gruppieren sich die drei Flügel des Schloßbaues, die 1680 ihr gegenwärtiges Aussehen er- hielten. Sehr schön ist das von 1682 oalierte Portal des Mittel- baues, das auch im Osten einen prächtigen Renaissancegiebel auf-
Barockportal am Schloß zu Lübben . einer umgestülpten Tulpe und steht des winterlichen Hochwassers halber auf einem Holzrost. Zurückgekehrt, wird man trotz des Nichtstuns auf dem Boot Hunger verspüren— Sprecluft zehrt!— und verständigerweise grünen Aal mit Spreewaldtunke zu sich nehmen. Etwas Spreewaldpoesie muß doch auch bei diesem prosaischen Geschäft sein! Eine geheimnisvolle Torte. Eine Enttäuschung erleben leider die Berliner Waisenkinder. denen die Kriminalpolizei die aus Salzburg hierher gesandte, mir einer merkwürdigen und unverständlichen Adresse versehenen, a u t o- radgroße Torte zugedacht hatte, in der man auf dem Anhalter Bahnhof zunächst eine Höllenmaschine vermutete. Ein Be- amtcr stand gerade im Begriff, das wunderschöne Backwerk nach dem Waisenhause zu bringen, als die Streife des Anhalter Bahnhofes durch den Fernsprecher anrief, die Torte dürfe auf keinen Fall ab- gegeben werden. Die Eisenbahnvcrwaltung— nicht die Post« Verwaltung—, die die Kiste zunächst der Kriminalpolizei übergeben hatte, hatte unterdessen bei dem Konditor Fürst in Salz- bürg angefragt, was mit der Torte geschehen solle. Die Kondi- torei erwiderte, sie solle sofort expreß an sie zurückgesandt werden.
Das unbegreifliche Ich. . GefchichteeinerIugend. Roman von Tom kriflenfen. (Berechtigte llebersetzung aus dem Dänischen von F. E. Bogel .) In Nanking ereignete sich das Merkwürdige, daß sie ihm vertraut wurde wie eine Frau seiner eigenen Rasse, denn ihm schien« al» ob er dort in eine phantastische Hölle von gelben Gesichtern gestürzt wäre. Sie drängten sich an seinem Wagen vorbei, sie schimpften, sie lachten, sie schwitzten, und er fürchtete sich beinahe, auszusteigen. Würde er nicht verschwinden, wenn er es tat, würde er sich nicht plötzlich in einem ganz anderen Dasein befinden?� Gehörte er trotzdem nicht zu jener Welt, aus der er kam, gehörte er nicht zu seinem europäischen Anzug, zu dem europäischen Wagen und zu May Darling? Draußen bei den Minggräbern schlug die ganze Trost- losigkeit dieser fremden, gelben Welt ihm entgegen. Die roten Hügel, die lange Allee von Steintieren, Kamelen, Tigern und Elefanten, die wimmelnden Scharen der Bettler waren ihm unverständlich. Es stimmte, was ihm einmal gesagt worden war: nach China zu kommen ist ebenso illusionraubend und großartig wie der Tod. � �. Sie gingen bis zu dem Grabe selbst herauf und standen vor dem hohen, viereckigen Bauwerk, ein schwarzer Block mit einer Türe in der Mitte und oben auf diesem ein roter Block mit drei Türen. Sie leuchteten im Sonnenschein: doch keinerlei Zierrat glitzerte an ihnen: die Dächer waren verbrannt. Da loa das alte Bauwerk vor ihnen. Auf ein« unbegreif- liche Art bekräftete es, daß der Raum aus Leere bestand und daß das endgültige Ziel des Lebens die Ruhe war. die in der Leere liegt. Es würde so selbstverständlich sein, da heraufzu- gehen, ganz hoch herauf und sich ohne Lebensüberdruß von dort herabzustürzen. Als sie wieder nach Hause in das klcme Hotel kamen, das außerhalb der Mauer lag, griff Waldemar nach May als dem einzigen Lebendigen in der Nähe. Er glaubte, er liebte sie. Mutter war aus dem Krankenhaus nach Hause ge- kommen: aber sie war auf einmal so ruhelos geworden. Wir müßten durchaus umziehen, sagte sie: sie könnte Oesterbro nicht mehr vertragen. �nd wir zogen wieder um. Wir bekamen eine Wohnung im vierten Stock eines Eckhauses, dos in einer dunklen und in einer hellen Straße lag. Eine eigen tümllche Traurigkeit hiest mich gefangen. Ich
war in eine neue Schule gekommen, zu neuen Kameraden, und ich wohnte in einem neuen Haus zwischen neuen Jungen: aber ich empfand es als überflüssig, noch mehr Menschen kennen zu lernen. Weshalb sollte ich auch? Wenn ich mit einigen von ihnen Freundschaft schloß, würde es bloß schmerz- lich sein, wenn wir wieder umzogen. Und ich war über- zeugt davon, daß wir auch hier nicht zur Ruhe kommen würden. Mutter war eine ganze Woche lang beglückt über die neue Wohnung. Hier hatte sie keine Erinnerungen, denn sie floh die Erinnerungen. Aber eines Tages fing sie an, sich über die hohen Häuser zu beklagen. Ihr kam es vor, als ob sie hier noch dichter als auf Oesterbro ständen, und sie bekäme Stadtangst, sagte sie. „Warum ist das alles so steinern. Kleine und große Pflastersteine auf der Straße, und Mauersteine an allen Seiten und nur solch Stückchen Himmel!" sagte sie und starrte mit ihren krankhaft leuchtenden Augen zum Fenster hinaus. Ich empfand unseren ganzen Aufenthalt hier nur als vorübergehend, und mir kam es vor, als ob ich gar nicht zu Hause wäre. Und wenn ich die Möbel betrachtete, beruhigte mich das auch nicht. Sie standen nicht richtig auf ihrem Platz. Es war dies kein unverrückbares Heim, wo Schränke und Tische gleichsam aus den Wänden oder vom Boden heraus- wuchsen, und ich, der stets mehr in Bildern als in Gedanken gelebt, hatte deswegen kein feststehendes Bild von dem Ort. wovon ich ausgegangen war. Der Ausgangspunkt flimmerte hin und her. An der Wand hing ein Oeldruck: ein Hafen mit Fabrik- schornsteinen und Packhäusern und Menschen. Der hatte auch auf anderen Wänden in anderen Stuben gehangen. Er hatte niemals eine feste Umgebung gehabt, sondern war von Wohnung zu Wohnung geirrt, von Möbelwagen zu Möbel- wagen. Ich hatte das Bild sehr gern, denn es war auf ihm ein Mann im Nordergrund, und wenn ich den lange anstarrte, konnte ich ihn zum Gehen bringen. Und meine Borliebe für dieses Bild war wohl die Ursache, daß sich meine heimlose Traurigkeit darauf übertrug. Am Abend saß ich stets am Fenster und starrte auf das gegenüberliegende Eckhaus. Unter den Fenstern des vierten Stocks befand sich ein schräges Gesims, das mir Schwindel- gefühle verursachte. Selbst wenn ich versuchte, meine Phan- tasie zu zügeln, drängte sie sich doch wieder hervor. Wohl saß ich in Sicherheit hinter meinem Fenster: aber gleichzeitig ging ich auch dort drüben entlang: ich mußte das tun, und ich sollte um die Ecke herum. Schritt für Schritt. Der Wind blies, und ist fror vor Schwindelgcfühl, und dann glitt ich aus und stürzte
herab.— Ich mußte bisweilen ausstehen und vom Fenster fortgehen, um wieder Ruhe zu bekommen. Ich mußte einen sicheren Boden unter mir und sichere Wände um mich haben, an denen ich mich halten konnte, so daß ich den tiefen Raum der Straße vergaß. Ich mußte etwas Festes unter mir fühlen. Das einzige, was mich ablenkte, war der Verkehr in der hellen Straße, von der ich gerade anderthalb Hänser, ein Stück des Bürgerstciges und den Fahrdamm sehen konnte. Durch die großen Ladensenster fiel das Licht flimmernd �über den Asphalt. Menschenschatten kamen von der einen tzeite und verschwanden auf der anderen, und mein Interessis zog von dem einen Schatten zum anderen, ohne Freude über ihr Auf- tauchen, ohne Trauer über ihr Verschwinden. Es waren bloß Bewegungen: aber dieser ewige Wechsel hypnotisierte mich stundenlang. Es war, als ob man auf Meereswellen sah, es war, als ob man wogendes Korn, als ob man treibende Wolken sähe. Die Straße, die Lichter, die Menschen, das war die Natur für mich.> „Was siehst du dir denn an. Waldemar?" fragte Mutter aus der Dunkelheit des Zimmers her. „Die Menschen." „Macht dir denn das Spaß?" sagte sie traurig. „Ja, das macht mir Spaß." Wieder wurde es still. Ich lehnte den Kopf gegen die Scheibe und fuhr fort, hinauszustarren. Ein Straßenbahn- wagen fuhr vorbei, und ich lauschte auf den summenden Ton, der sich unten in der Straße verlor. „Waldemar, hast du deine Mutter lieb?" Ich fuhr zusammen. „Warum frägst du danach, Mutter?" „Ja, warum?" Ihre Stimme klang so müde. Sie vermochte nur eine einzige Frage zu stellen: dann hielt sie ein, als ob sie etwas Verkehrtes getan hätte. Doch ich war unruhig geworden. Meine ganze Fremd- heit ihr gegenüber war verschwunden, als ich sie hatte Blut brechen sehen. Ich wäre so gern freundlich zu ihr gewesen: aber was war freundlich? Was sollte man einer Mutter sagen, die man früher nicht gekannt hatte? Ich stand auf und lief zum Tisch hin. In der Dunkel- heit konnte ich ihr weißes Gesicht leuchten sehen mit zwei dunklen Flecken, ihren Augen, die so voller Trauer und Müdig- keit und wie die Nacht selbst blickten. Und aus meinem tiefften Innern arbeitete sich eine schluchzende Frage hoch. Etwas Vergessenes nahm langsam Form an: doch diese wach- werdende Erinnerung bereitete mir einen starken Schmerz. (Fortsetzung folgt.)