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Nr. 507 42.?ahrgakg
1. Seilage öes Vorwärts
vkenstag, 27. Oktober 1H25
Da» Smertw der Kuppler und Kupplerinnen ist[0 alt, wie die Prostitution selber. Jemehr sich der Mensch von der Natur entfernte, semehr dt« Neligionen sein Denke» und Fühlen tu«ine starre, lebensabgewandte Schablone preßten um so häßlicher und unsauberer wurde die Prostitution. War da» schon so im Mittel- alter, wo die Obrigkeit die.Frauenhäuser' kontrollierte, den Pro. stituierten Zunftordnungen' gab, sie unter Etortmeister und Gaukler stellte und ihnen.Gefälle', d. h. Steuern abnahm, so mußten diese Zustände zu einer Misere ohnegleichen werden, mit dem riesenhaften Anwachsen der Städte und ihrer Einwohnerzahl. Und vollends grauenhaft wurden sie nach dem großen Völkermorden, das die Frauen vereinsamte, ihnen mit dem Mann Brot und Per» dienst nahm und das in seinen Folgewirkungen die allgemeine Moral tief unter das Niveau drückte... Und mit dieser für die Volksseele so verderblichen Steigerung der Prostiwtion kam eine schreckenerregende Erhöhung der Krankheitsziffern. verfehlte Maßnahmen. Man kann nicht sagen, daß die Gesetzgeber und Obrigkeiten unserer Zeit auch nur ernsthast nachgedacht hätten über die Maß- nahmen, die zu ergreifen wären, gegenüber dieser immer wachsenden Gefahr. Die von der Sozialdemokratie so dringend befürworteten Vorschläge, die eine allgemeine Anzeige- und heilungspslichl für die Gejchlechlskranken verlangten, wurden abgelehnt. Nach wie vor kann der Verseuchte seine Mitmenschen und sich selber schädigen, wie es ihm bshagt. Die bürgerliche Gesellschaft in sozialer Hinsicht kurzsichtig, wie stets, glaubte mit den vorhandenen Mitteln die Vesitzendsn auch ohne allgemeine Aktion schützen zu können. Für die nicht" besitzenden Klassen wurden öffentliche Beratungsstellen und Ambulatorien errichtet, die doe>' niemals imstande sind, das Uebel von Grund aus zu erfassen. Geschah denn nun wenigsten« das Nötigste, um die Prostituierten, die Träger und Verbreiterinnen der Gefchlechlstrankheiten, hinreichend zu überwachen? Ganz im Geaenicil! Was behördlicherseits geschieht, und nach den heutigen Vestimmungen geschehen kann, wird der venerischen Ansteckung nur verinqen Abbruch tun. Was hilft es, die fünf- oder sechstausend in Berlin   reglementierten Frauen zu untersuchen und ihnen dieSitte' auf den Hals zu hetzen, d. h sie an der Frequenz bestimmter Straßenzüge zu hindern, ihnen das Zusammengehen und-stehen, das Sprechen miteinander auf der Straße zu verbieten etc. wenn mehr als dreißiatausend(die Zahl entspricht einer Schätzung, kann aber sein und ist wahrscheinlich viel höher!) Mädchen und Frauen beimliche Prostitution treiben, von denen weitaus die meisten jeder ärztlichen Kontrolle entbehren!
halb- und Ganzprostitution. Hierbei ist zu unterscheiden zwischen einer Halb- und Ganz- prostilufton. Was die letzte anbelangt, so gibt e» außer den Re­glementierten eine überwiegende Zahl von Frauen, die«» verstehen. sich der behördlichen Ueberwachung längere oder kürzere Zeit zu entziehen. Diese bevölkern die Cafös und Konditoreien, ebenso die össentlichen Vergnügungs- und Tanzlotale. Manche von ihnen be- suchen nur Theater, Varietes und Kinos: während wieder andere buchstäblich der.Venu, vulxivas-s'(der umherstreifenden Liebe) huldigen. Und diese sogenanntenRcisedirnen' sind die gefährlichsten. Diese Reisedirnen sind zu 30 Prozent und mehr krank. Solche Reisedirnen gibt es in groger Zahl, sie sind natürlich über das ganze Land oerbreitet und ihre tatsächliche Menge ist schwer abzuschätzen. Sie hallen sich sellen länger in einer Stadt auf, als bis sie sich melden müssen. Irgend eine Wirtin findet sich immer, die sie kurze Zeit beherbergt und sich dafür doppelt bezahlen läßt. Oft haben sie gar keine Wohnung: begleiten entweder des Nachts ihren Kavalier ins Hotel oder nächtigen bei einer anderen Prostituierten. So sind sie. auch beim Anknüpfen von Bekanntschaften auf der Straße oder sonstwo, äußerst vorsichtig, nur schwer zu fassen. Bleiben sie eine Zeitlang in den großen Städten, so wechseln sie hier dauernd ihr Quartier. Und sie reisen aus verschiedenen Gründen. Einmal scheinen manche von ihnen an demselben Wanderbetrieb zu leiden, der die.Kunden', ehemalige Handwerksburschen und Vaga­bunden. so ruhelos durch die Lande treibt: dan» haben sie heraus- gefunden, daß aus Märkten, Messen, Ausstellungen usw. ein besseres Geschäft zu machen ist: in der Hauptsache aber wissen sie, daß sie krank sind und wollen nicht ins Krankenhaus, wo eine langwierige, anstrengende und zeitraubende Kur ihrer harrt. Lieber vergiften sie so und so viele Männer, die dann ihrerseits das Gift weiter, in die Familie und sonstwohin tragen.
Von den Prostituierten selbst und auch wohl im urteklslosen Publikum wird viel über die Sittenpolizei geklagt und spektakelt. Und es sind gewiß auch nicht die zartesten Seelen, die geneigt sind, auf dies trotzalledem tiefbeklagenswerte Menschenwild Jagd zu machen. So lange wir aber in dieser wilden, vom Götzen Mammon gepeltschcn Welt leben, so lange die kapitalistisch eingestellte Gemeinschaft die Prostitution unvermeidlich macht, so lange ist die.Sitte' und die Sittenkontrolle eine staroe Notwendigkeit. Und die Männer, die sie ausüben, verdienen wenn anders sie sich im Nahmen ihrer Be- fugnisse halten und nutzlose Härten vermeiden statt Schmähung Dank und Anerkennung. Hans Hyan  .
Ee maß betrügen. Der Alaun mit der fixen Idee. In Gefängniskleidung wußte der Sausmann L. auf der Anklagebank Platz nehmen. Sein« blasse Gesichtsfarbe, das m»- ruhige nervöse Benehmen verrieten einen Menschen, den innere Krankheit und lange Hast an den Rand des Abgrundes gebracht hatten. Noch nicht allzu lange liegt eine dreijährige Gefängnisstros« hinter Ihm, zurzeit verbüßt er wieder eine und mußte sich jetzt er- neut vor dem Schöffengericht Berlin- Mitte wegen fortgesetzten Rückfollbetruge's vorantworten. Sein Vater war Hauptlchrer. Weder die nie verjagende Hilfe der Mutter, noch die vielleicht etwas zu strenge Erziehung seines Vater» vermochten den Jungen auf den rechten Weg zu bringen. Ernste Krankheiten in der frühesten Jugend haben seine freie Wiliensbestimmung sehr beeinträchtigt. Hemmungen gegen die Lockungen des Lebens kannte er nicht, und als die erste Verurteilung zu einer Gefängnisstrafe bei ihm ausgesprochen wurde, er sich nicht mehr zurückfand, sah er in sich selbst nur noch ein Opfer seiner ständigen Not. Erfolgten Beurlaubungen aus der Strafhaft wegen seiner schwächlichen Gesundhell, wies B. alle Wege, die man ihm zu ehrlicher Arbeit ebnen wollte, von sich. Ständig glaubte der Angeklagte ausgenutzt und auf eine Stelle gedrängt zu werden, die er nie und nimmer bei seinem leidenden Zustand ausfüllen könne. Und so wandte er sich in der kurzen Zell   seiner Freiheit stete neuen Betrügereien zu, wunderte sich, wenn er wieder ein» gesteckt wurde und machte jetzt nun den Staat dafür verantwortlich, der ihn nur ganz allein durch seine Rechtsmaßnahmen auf diesen Weg gebracht hätte. Bei seiner letzten Entlassung aus dem Gc- fängnis, die auch wieder der Krankhell wegen erfolgte, Hot er sich die Adressen von Fachzeitschristen besorgt und verschiedene Medi- ziner und Juristen lim die fälligen Bezugsgelder betrogen, in Ge- samthöhe von ungefähr 433 Mark. Der Sachverständige, der B. im Irrenhaus genau beobachtet hat, hält ihn nicht für geisteskrank im Sinne de»§ 61. muß aber in dem Angeklagten einen geistig minderwertigen M'e n s ch e n sehen, der jede Beherrschung über sich selbst verloren Hobe. Mit Vernunft sei bei B. nichts mehr zu erveichen. Daß er in jeder angebotenen Arbeit immer nur eine unrechtmäßige Ausnutzung seiner Person sehe, sei bei ihm scbon zur fixen Idee geworden. Der Staatsanwalt beantragte eine Zucht- Haus strafe von einem Jahre. Zum letzten Wort ver- stattet, hielt B. mit oft von Tränen erstickter Stimme eine schwung- volle Verteidigungsrede. Er schloß mit den Marten:Wessen Ver- brechen sind größer, die meinigen, die ick) immer nur aus Not be- gehe, oder die des Staates, der mich immer wieder einsperrt?' Das Gericht trug der Minderwertigkeit des Angeklagten Rechnung, berücksichtigte auch eine gewisse Notlage und ließ noch einmal
II
Die Passion.
Roman von Clara Bicbig. 1. Der Gutsherr von Kleln-Bukowitz, Hermann Bcrndorff. ging mit großen Schritten in dem saalartigen Zimmer zu ebener Erde auf und ab. Seine langen Schaftstiefel, die er sich eben angezogen hatte, um draußen durch die aufgeweichten Aecker zu trapsen, knarrten: die Lodenjoppe, die er morgens immer trug, hatte er aufgerissen, seine breite Brust keuchte, als wäre ihr das Atmen gehemmt. Die ganze mächtige Ge- statt zitterte vor Erregung. Schon wieder Aerger mit dem Bengel! Lieber hundert Gäule ausziehen, als einen einzigen Sohn. Verfluchte Zucht!" Er schlug mit der Faust heftig auf den runden Tisch, hinter dem die Dame saß, einen Brief in der Hand, und sich die Tränen wischte, die sie nicht zu unterdrücken vermochte. Aber Hertmann, ich bitte dich!" Ihre klagende Stimme hatte einen kleinen gereizten Unterton:Du nimmst wirklich wenig Rücksicht. Mein Golt. wie hast du mich erschreckt!" Wer ninimt denn Rücksicht auf mich? Dein Sohn am allerwenigsten. Er weiß doch, daß unsere Verhaltnisse nicht glänzend sind, daß er zusehen muß. mir bald von der Tasche zu kommen. Zlber er?! Ein Windhund. Ist es nicht un- erhört, daß er nun nochmal vom Abiturium zurückgestellt werden soll?! Sitzt zwei Jahre in Prima, ein langer ausge- wachsener Kerl zwanzig Jahre, sage und schreibe zwanzig Jahre ist so blau ums Kinn, wie der Edle von Mielczynski auf Mieleczyn, und kann noch nicht das bißchen Examen machen!" Das bißchen Examen?" wiederholte sie.Was du dir denkst! Das Abiturienteneramen ist das schwierigste Examen von all denen, die er im snäteren Leben noch zu machen hat." Ach was. Blödsinn!" Der unwirsche Ton des Mannes wurde noch unwirscher, eine jähe Zornwclle stieg ihm rot in die Stirn, er ballte die Fäuste:Ich bin wütend, wütend. Muß man sich diesen Wisch von dem vertrockneten Schul­meister, dieser Mumie von'nem Menschen gefallen lassen! Zu viel Zigaretten geraucht, dem weiblichen Geschlecht leider zu viel Beachtung geschenkt" lies doch mal vor, was der Esel von Direktor darüber schreibt!" Ach nein," sagte sie und steckte den Brief in die Tasche.
Was willst du dich nochmals darüber aufregen, das wissen wir ja selber, daß Wanfried   ein bißchen flott ist. Ader von wem hat er das? Von mir nicht." Trotz ihres betränten Ge- sichtes kam ihr ein ganz leis wehmütiges Lächeln.Bist du nicht auch einmal flott gewesen?" Das ist keine Entschuldigung. Aber du hast den Bengel ja eben immer entschuldigt, ihn verzogen in einer Weise mein lieber Sohn, mein Sähnchen" na, da haben wir's ja nun!" Der Zorn flammte wieder hell auf.Ich sage dir, wenn der Junge nicht bald macht, daß er von der Schule runter kommt, ich haue ihm alle Knochen kaputt. Hier soll er sich dann nicht mehr sehen lassen, ich schmeiße ihn raus. Und das werde ich ihm auch sagen jetzt gleich ich fahre hin." Ach nein, lieber nicht!" Sie sprang auf und hing sich an ihn: ihre zarte Gestalt war wie eine spärliche Ranke, die sich vergebens um einen mächtigen Stamm zu ranken versucht. Fahre" jetzt nicht. Hermann, ein andermal später! Die weite Fahrt du bist jetzt auch viel zu aufgeregt. Du kennst doch Manfred, er läßt sich nichts sagen, es gibt eine Szene wozu?!" Ich fahre. Ich ersticke!" Er ächzte.Mich rührt der Schlag, wenn ich dem Lümmel jetzt nicht gleich eins auswische. Der alte Wilkowski ist auch so ein Schlapijeh, der sich ihm nichts zu sagen getraut. Konnte der nicht besser aufpassen? Er hat ihm doch früher das Abc beigebracht, warum denn jetzt nichts? Mußte der uns nicht wenigstens schreiben:.Der Manfred faulenzt?' Ra, aber ich werde dem auch einheizen. Keinen Pfennig bezahle ich mehr für die Pension bei ihm, ich bringe den Vengel wo anders unter." Aber nicht so billig," mahnte sie.Wilkowski ist sehr bescheiden in seinen Ansprüchen. Und es wird so gut da für Manfred gesorgt. Ach Hermann, Hermännchen!" Sie ver- suchte ihn nochmals zu bitten, sie streichelte dabei mit ihren beiden dünnen Händen nervös an seinem Ioppenärmel herauf und herunter:Laß das Fahren in der ersten Wut. Tu's mir zuliebe! Ich ängstige mich." Unsinn, Blödsinn, ängstigen warum?" Er ging in die nebenanliegende Stube und kam sogleich mit Mantel, Mütze und Peitsche zurück.Ich werde dann auch mal zum Doktor mit herangehen, ihn fragen, warum ich immer gleich so verdammt kurzatmig bin." Er stampfte auf.Ich habe eben auch nichts wie Aerger, lauter Aerger. Es wird einem ganz schwindlich von all dem Aerger. Lege dich heute abend nur schon zu Bett, ich konune erst spät." Und damit ging er.
Sie sah es ein, sie konnte ihn nicht zurückhalten. Daß er doch gleich so aufgeregt war! Das nahm immer mehr zu mit den Jahren. Und feit es so schwierig geworden war in der Landwirtschaft. Er war ja herzensgut, aber wenn ihni der Zorn zu Kopf stieg, zum Fürchten. Sie seufzte tief und hob beide Hände wie abwehrend. Daß er nur nicht mit dem Sohn zusammengeriet! Der war doch kein dummer Junge mehr, der sich alles gefallen ließ. Es war freilich sehr schade, daß Manfred nun wieder noch später als Student ins Leben hinauskam. Aber es konnte sich ja nur um ein halbes Jahr handeln. Jetzt ging es auf Ostern, wenn er diesmal nicht zum Abiturium zugelassen wurde, machte er es zu Michaeli. Dann war es ohnehin für Berlin   die bessere Zeit; der Sommer war nicht angenehm in der heißen Stadt. Und damit tröstete sie sich. Sie las auch noch einmal den Brief, den der Junge, der alle Tage die Post von der Post- Hilfsstelle im Knig holen ging, heute morgen mitgebracht hatte. Der Brief, den der Direktor des Gymnasiums aus der Kreisstadt schrieb,, war sehr höflich gehalten, sehr schonsam, man merkte es ihm an, daß es dem Schreiber höchst peinlich war, den Eltern angesehenen Besitzern der Umgegend Unangenehmes eröffnen zu müssen. Aber wenn man dem jungen Mann wohlwollte, hielt man es für seine Pflicht, sah sich leider genötigt, mußte sich nach längerer Ueberlegnng zu der Erkenntnis durchringen, daß trotz aller un-weifelhäften Begabung die Reife, die zu dieser wichtigen Prüfung un- erläßlich, auch dieses Mal noch nicht vorhanden, oder vielleicht zurzeit abhanden gekommen war. Und nun kam der Stich mit den Zigaretten und dem weiblichen Geschlecht. Was hatte denn Manfred getan, was war denn weiter Schlimmes dabei? Die Mutter hob die Blicke von dem Brief und ließ sie verloren durch die bunten Scheiben der Glastür hinaus in den Garten gleiten, der noch ganz tot lag. Aber das Bunt der Türe zauberte ihn lebendig. Durch die gelbe Scheibe gesehen, lag er in warmes Sonnenlicht geraucht, und durch die grüne schimmerten alle Sträucher, alle Bäume wie in hoffnungsvoller Frühlingsentfaltung. Das liebte Malvine Berndorff. Sie hatte solch bunte Türe einst bei Gutsnachbarn gesehen, und da sie kränkelte und bei den langen rauben Wintern oft wochenlang das Zimmer nicht verlassen durfte, verschönte ihr ihreFata Morgana", wie sie die Glastür nannte, das eintönige Grau der Umgebung. Besonders als Manfred nicht mehr da war.(Fortsetzung folgt.)