Itc. 521 ♦ 42.�ahrgang
1« Heilage öes Vorwärts
Mittwoch, 4. November 1425
Sie vierte Klaffe.
Die deutsche Reichsbahn kann sich nicht entschließen, mit dem System der vier Wagenklassen zu brechen. Sie scheut den Wider- stand jener Leute, deren Vornehmheit die Berührung mit den weniger Vornehmen, den Minderbemittelten, nicht verträgt. Darum teilt sie ihre Passagiere nach wie vor in Erst-, Zweit-, Dritt- und Vicrtklassige ein. Die Eisenbahn ist also überall ein Klastenstaot im Kleinen. Jedem ist nach Maßgabe seines Geldbeutels die ihm gebührende Stellung zugewiesen. Daher hat jede Dogenklasse ihr besonderes Gesicht. Und zwar hat die erste Klasse ein vollkommen nichtssagendes(da sie gewöhnlich leer ist), die dritte Klasse aber das zweifelhafteste, da sie die Klasse der verschämten oder verlogenen Armut ist. Sie ist daher auch die unbequemste. Den Leuten in der dritten Klasse merkt man es fast stets an, daß sie gern die billige Vierte benutzt hätten, und daß nur die Furcht, etwas von ihrem Ansehen einzubüßen, sie zu der höheren Geldausgabe bewogen hat. Sie wollen mehr erscheinen, als sie sind. In keiner anderen Klasse ist es so schwer, mir den Mitreisenden in ein Gespräch zu kommen. Etwas wie Mißtrauen liegt zwischen den Leuten. Jeder denkt daran, daß er nichts besitzt: der Andere ober.hat vielleicht noch weniger! Do ist es schwer den rechten Ton zu finden. In der zweiten Klasse dagegen ist der Besitz still- schweigende Voraussetzung, denn der Preisunterschied gegen die anderen Klassen ist so erheblich, daß selbst die Eitelkeit ihn nicht erschwingen kann. Und in der vierten Klasse herrscht die gleiche Sicherheit. In beiden Klassen wissen die Passagiere, was sie in der dritten nicht wissen: Du hast ebensoviel wie ich(das heißt, genug!) oder du hast ebenso wenig wie ich(das heißt, nichts!). In der einen schlägt die Solidarität des Besitzes, in der anderen die Solidarität der Armut die Brücke zwischen den Leuten und knüpft die unsichtbaren Fäden von Mensch zu Mensch. In die zweite Klasie gehöre ich nicht hinein, obwohl ich ihrer Sprache mächtig bin. Aber sie würden es bald merken, daß nur noch dies« Sprache mich mit ihnen verbindet. In der vierten Klasse aber rede ich mit den Leuten von ihren Sorgen, die auch die meinen sind, von ihrer Rot, die auch die meine ist. Sie verstehen mich, wie ich sie verstehe. Und darum ist Klarhett zwischen un». Wollte ich in der zweiten Klasse bekennen, wie mir ums Herz ist, dann würden mir erworbene Bildung und Gewandtheit garnichts nützen. Dielleicht würde man mich höflich anhören, ober innerlich würde man abrücken von mir. In der vierten Klasie ober darf man bekennen,— muß bekennen, wenn man Vertrauen gewinnen will. Darum fahre ich vierter Klasie, wo nicht gelogen wird. Wo jeder die Wahrheit weiß, ob der andere schweigt oder redet.....
vas ausgelieferte Sorkumlleö. Auf Borkum gibt sich bekanntlich alles, was blond und blau- augig mit völkischem Knall ist, ein Stelldichein. Dort haust der Postor Münchmeycr mit seiner Klique, dort singt man nach dem Gedeck als Nachtisch sozusagen das stimmungsvolle Barkumlied mit dem Refrain:„Diese Stadt ist judenrein, verdammt soll jeder Jude sein.. Mit der Zeu haben es die arischen Aktivisten mtt ihrem völkischen Karneval gor zu bunt getrieben, der grimmige Gottes- streiter Münchmeyer schüttelte die ganze Insel durcheinander und selbst dqr durchaus, deutschstämmigen Badeverwaltung begann. es cor der.Erneuerungswut der Münchmeyerianer zu graulen. Schließ- lich griff der Regierungspräsident von Aurich ein und machte dem Unfug der badenden Rowdies dadurch ein Ende, daß er den Borkum - sang verbot. Run erhoben die Teutonen, der Diener des Höchsten an der Spitze, ein wildes Wehgeschrei, und das Resultat: Ein deutsches Gericht verbot dem Regierungspräsidenten bei Geldstrafe, die Flegeleien des völkischen Mobs zu stören. Die Regierung gab sich natürlich nicht zufrieden. Vor dem besonderen Gerichtshof zur Entscheidung von Koinpetenzkonrlikten kani die Affäre nochmals zur Verhandlung und das Gericht sah einen Kompetenzkonflikt als ge> geben an. Somit ist den Behörden in der Ausübung ibrer Pflichten wieder freie Hand gegeben. Di« „Deutsche Zeitung" ist darüber so entsetzt, daß sie aus Verzweiflung in die Schlagzeile ausbricht„Das B.orkumlied der Polizei
ausgeliefert". Nicht auszudenkende Katastrophe. Haken- kreuzler Borkums , wahrt eure heiligsten Güter! Nebenbei: wenn dcutschnationale Richter unschuldige Republikaner ins Zuchthaus werfen, völkische Verbrecher frei ausgehen lasten, so findet das völkische Organ das ganz in der Ordnung. Wenn aber die vier Hetz- strophen, die die geistig Minderbemittelten als Barkumlied in die Lüfte schmettern, in„Gefahr" sind, erhebt sie ihre biedere Bier- stimme. Vieüer ein fibtreibungsprozeß. bll Frauen unter Anklage. 40 verurteilt. Ein Prozeß, der ein Seitenstück zu dem Heiser-Prozeß bildet, fand vor dem großen Schöffengericht Neukölln statt. Nicht weniger als vier Vsrhandlungstage waren für den Prozeß, bei dem nicht weniger als Sl> Frauen und Mädchen unter der Anklage der Ab- trcibung standen, vorgesehen. Dennoch ging er aber bereits am ersten Tage zit� Ende. Die Hauptangeklagte ist die ehemalige Hebamme Marie Schmidt, die schon einmal wegen desselben Verbrechens zu Z Iahren Zuchthaus verurteilt wurde. Es muhte Befremden er- regen, daß für eine so große Ansammlung von Menschen nicht ein größerer Verhandlungsraum vorgesehen war. Die Folge war, daß verschiedene Frauen und Mädchen infolge der unerträglichen Atmn- sphäre, die im Saal herrscht«, ohnmächtig wurden. Das Treiben der Hebamme Schmidt wurde durch den Tod eines bei ihr in Behandlung gewesenen jungen Mädchens aufgedeckt. Bei der Durchsuchung der Schmidtschen Wohnung fanden Kriminalbeamte ein Notizbuch, in welchem etwa ZSO Adressen von Frauen und Mädchen verzeichnet waren, die bei ihr in Behandlung standen. Diese„Buchführung", bei der selbst genaue Daten und die bezahsten Honorare nicht fehlten, wurde der Schmidt sowohl wie auch vielen Frau«» und Mädchen zum Verhängnis. Der erste Teil der Verhandlung war ausgefüllt mit der Vernehmung von 38 angeklag- ten Frauen und Mädchen, die zum großen Teil aus der Provinz ge- kommen waren. Einige versuchten zu leugnen, während andere, unter Hinweis auf ihre große Notlage, ihr« Tat e i n g e ft a n d e n. Der verhättnismäßig kleine Saal des Neu- köllner Amtsgerichts, in dem die Verhandlung stattfand, wurde wieder und wieder erfüllt vo» Weinen und Schluchzen. Hin und wieder fällt eine derA n a e kla g�l e n o h.n m ä cht i g hin, eine Folge der fast unerträglichen Lust im«aal. Abgesehen von den 60 Angeklagten, befinden suh noch etwa 40 Personen in dem viel zu kleinen Saal. Bereits in den Abendstunden des gestrigen Tages wurde in dem unter Ausschluß der Oeffentlichkeit verhandelten Prozeß das Urteil gesprochen. Die Angeklagte Hebamme Schmidt, die wegen Verstoßes gegen§ 218 bereits in einer früheren Ver- Handlung zu 9 Monaten Gefängnis verurteilt worden war, erhielt eine Gesamtstrafe von 2 Zahren 2 Monaten Zuchthaus, unter Ab- «tennung der bürgerlichen Ehrenrechte auf Z Jahre. Drei ange- klagte Frauen erhielten wegen vollendeter Abtreibung Gefängnis- strafe.» von je 3 Monaten, während 37 Frauen wegen versuchter Unterbrechung der Schwangerschaft zu je 7 Wochen Gefängnis verurteilt wurden. Mit Ausnahme der Haupt- angeklagten Hebamme Schmidt wurde allen anderen Frauen eine Bewährungsfrist von 3 Jahren zugebilligt.
Dankbarkeit proletarischer Patienten. Welcher Wertschätzung sich die Ambulatorien der B«r- liner Ortskranke n k a s s e n bei den breiten Massen in der kurzen Zeit ihres Bestehens erworben haben, zeigt die. Huldigung, die d i e P ati e yre n de s We b d i n g d e» A e rz te n und Schwcstern'des Ambulatoriums Mül.ierftraße das am 1. November auf sein einjähriges Bestehen zurückblicken konnte, dargebracht haben. Der Worierouin des Ambulatoriums war an diesem Tag« in ein Meer von Blunien gehüllt, in deren Mitte eine große, künstlerisch ausgeführte Plakette mit der folgenden Inschrift stand:„Den Aerzten und Schwestern des Ambulatoriums die dank- baren Patienten des Wedding ." Dieser Danksagung hatten sich über tausend Patienten durch eigenhändige Unterschrift angeschlossen. Das dankbare Interesse des Pro- letariats zeigt also, daß die Krankenkassen durch Schaffung der Am- bulatorien einem dringenden Bcdürinis der breiten Masten nach guter ärztlicher Versorgung in weitestem Maße gerecht werden und daß die Kasten auf dem besten Wege sind, das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient wieder herzustellen.
Unzüchtige Silüer. Eine Auseinonderfehung über den Legriff„Kitsch". Der Maler und Radierer Max Brüning , ein Meisterschülcr von Prof. Franz v. Stuck , seinerzeit auch Zeichenlehrer des ehe- nialigcn Kronprinzen in dessen Hauptquartier in Charleville , stand in der Berufungsinstanz vor der 2. Strafkammer des Landgerichts I , nachdem er im Mai dieses Jahres vom Schöffengericht Berlin-Mitte wegen Verbreitung unzüchtiger Bilder zu 600 M. Geldstrafe ver- urteilt worden war. Es handelte sich um 3 Bilder des Künstlers:„Ambrarausch", „Kleidcrnot" und„Abendtoilette", bei denen das Schöffengericht die Art und Weise, wie der Künstler weibliche Oberkörper darstellte, als unzüchtig bezeichnet hatte. In der Verhandlung, bei der- Land gerichtsdirektor Tolk den Lorsitz führte, betonte Brüning, daß er sich bei diesen Bildern lediglich von seinem künstlerischen Empfinden habe leiten lassen. Die Sachverständigen, die vom Gericht und von der Verteidigung geladen waren, gaben völlig verschiedenartige Gut- achten ab. Der Kunsthistoriker Prof. Amersdorfer lehnte Brüning als Künstler überhaupt ab und bezeichnete die inkrimi nierten Bilder als Kitsch. Der Maler Hans Baluschek hiell die drei fraglichen Bilder ebenfalls für Kitsch, erkannte aber an, daß sowohl mehrere Studien und Entwürfe zu diesen Bildern, wie auch sonstige Radierungen Brünings in vieler Hinsicht Talent und künstlerische Fähigkeiten verrieten. Der Graphiker Prof. Frenze! schließlich lehnte die Bezeichnung Kitsch überhaupt ab, weil nach seiner Ansicht heutzutage anerkannte Künstrichtungen gegenseitig ihre Werke mit dem Ausdruck Kitsch belegten, so daß gerade auf diesem Gebiete eine immer größere Verwirrung herrsche. Nach seiner Auffassung könne man bei allen drei Bildern die künstlerischen Ab sichten Brünings durchaus bejahen, auch wenn die eine Radierung als künstlerisch nicht gelungen bezeichnet werden müsse. Die Ver- teidiger plädierten auf Freisprechung, weil unter Berücksichtigung des heute in Bildern und Büchern Gebotenen kein normal empfindender Mensch durch die künstlerische Darstellung weiblicher Oberkörper in seinem Schamgefühl oerletzt werden könne. Das Gericht änderte denn auch das erste Urteil dahin ab, daß es bei einem der drei Bilder die Unzüchtigkeit ver- n e i n t e und die Geldstrafe auf 300 Mark herabsetzte. Land- gerichtsdirektor Tolk betonte hierbei, daß das Gericht nicht über die künstlerischen Qualitäten Brünings und über den Wert seiner Bilder zu urteilen habe. Revision öes?mpfzwanggesetzes. Auf Antrag der sozialdemokratischen Fraktion des Preußischen Landtages hat der Landtag beschlossen, dos Staatsministsrium aufzufordern, über die Frage, welche Folg«' die Einführung der sogenannten Gewissensklausel nach englischem System bei derImpfung in Deutsch - l a n d hätte, eine Untersuchung vorzunehmen und das Ergebnis der Untersuchung in einer Denkschrift dem Landtag zu unterbreiten. Bor kurzem hat der Landesgesundheitsrat zu dieser Frage Stellung genommen. 23 geschulte Hyaieniter nahmen an der Beratung teil, von unserer Seite die Genosten G r o t j a h n und W e y l. Unsere Freunde legten zwei Anträge vor. Der erste verlangt die Einführung der Gewistensklausel noch englischem Muster in Deutschland . Dieser Antrag wurde mit 17 gegen 7 Stimmen bei 2 Stimmenthaltungen abgelehnt. Im impffreudigen(?) Deutschland doch ein gewister Erfolg. Der zweite An- trag, der eine Schadensersatzpflicht für alle nach- weisboren Jmpfschäden eingeführt wissen will, wurde mit Ä) Stimme» gegen 2 Stimmenthaltungen angenommen. Im Ver- waltungswege wurde dafür gesorgt, daß von jetzt an jeder poli- z ei l i ch e Z wä n g ZU r Do r n o h m e der Impfung unter- bleibt. Es werden also jetzt die beschämenden Schauspiele auf- hören, bei denen ein Polizist den Säugling von der Mutterbrust reißt, um das hilflose Wesen an die Lanzette des Jmpforztes zu liefern. Die Darlegungen der verschiedenen Redner werden demnächst in der verlangten Denkschrift wiedergegeben werden. Die Denk- schrift dürste Veranlassung geben, daß sich der Reichstag in absehbarer Zeit mit einer R e v i s i o n�d« r I m p f g e s e tz e— das sind Reichsgesetze— in neuzeitlichem Sinne befassen wird. I» t>eutiaei> de» Pbilharmsnilchen Orchester«, Dirigent Prof. Prltwrr, gelonqc» zur Aufflibruna: DatlettiMlstk tDluck-Mottl), Bwlin. Konzert E.Dur(Bach), vorzetragei, von Konzertmeister Holst, 2. Sinfonie «Schumann).
. Die Passion. Roman von Clara Viebig . Wenn mein doch die Gedanken los wäre! Sie kamen, besonders des Nachts, wie Mäuse aus ihren Löchern und machten sich an einen heran, als wäre man ein aller Schrank voll Gerumpel; und begannen zu nagen, bald hier, ball) da. Man hörte ihr Nagen, es machte einen verrückt.— Nun war bald Weihnachten, die Mutter erwartete bestimmt, daß er zu ihr kommen würde. Ach ja, er wäre auch gern gefahren, hätte wieder einmal eine sorgende Hand gespürt, aber er konnte doch nicht. Er konnte doch nicht dort sein, wenn Olga noch da war. Und wenn die schon hier war? Dann auch nicht. Denn der alte Wiltowski würde ihm auf den Leib rücken, ihn zur Rede stellen, würde die Hände ringen und schreien:„Was hast du aus meiner Tochter gemacht?" Und die Leute würden sich umdrehen nach ihm auf der Straße. mit Fingern auf ihn zeigen, und wenn er nach dem Kirchhof kam, seines Vaters Grob zu besuchen, dann rührte der sich unten zwischen seinen Brettern— er war ja noch nicht ver- fault— schüttelle die Erde von sich ob. stieg herauf und schlug ihm mitten ins Gesicht. Nun jährte es sich bald, daß er zum erstenmal in die Heiligkreuzgasfe geschlichen war. Andere taten gleiches; viele. Es ging ihnen gut, Nur er halle Pech gehabt— nein, Un- glück. O, solches Unglück! Er neigte den Kopf in seine Hände und weinte bitterlich. Warum er nur noch immer diese Angst nicht los werden konnte? Er brauchte jetzt doch gar keine Angst mehr zu haben. Die Neuralgien, die Gliederschmerzen hatten aufgehört, seine frühere Gesichtsfarbe war wieder da, er halle Appetit, ihm war nicht mehr übel, die Augen taten ihm nicht mehr weh; und was ibn zuweilen besonders ge- quält halle , er sah nicht mehr doppelt. Es ging ihm gut, sehr gut, sogar ausgezeichnet. Ein hübscher junger Mann. Das sagten ihm täglich Mädchen, die auf der Straße an ihm vorübergingen mit ihren Blicken. Wenn er noch einmal nach ihnen umblickte, hatten sie auch oft sich nach ihm um- gedreht. Waren sie alle käuflich? Alles solche, vor denen sein Vater ihn gewarnt halle? Nein, es gab auch harmlose, junge Geschöpfe, Mädchen, die unbewußt ihr Wohlwollen zeigten, freundliche Blicke verschenkten, die liebende und ge- liebte Frauen werden würden, blühend ihren Mann de- glückten. Ob er auch einmal solch eine Frau bekommen würde? Sicherlich— warum denn nicht? Er mußte nur erst
zusehen, daß er sein Examen zustande brachte, und daß er dann bald etwas wurde. Was? Das wußte er selber nicht. Alles war langweilig, aussichtslos, kostete Geld. Die Mutter schickte ihm sowieso schon mehr, als sie ihm eigentlich schicken konnte; er hatte sie mehrmals um Aushilfe angehen müssen, die hundertfünfzig Mark hatten nicht ausgereicht, es reichten ihm nicht zweihundert, die Kuren hatten immens gekostet. Besonders Süßkin hatte ihn hochgenommen, an ihm gehangen wie ein Blutsauger. Aber das hatte er ja nun hinter sich, er konnte ein neues Leben beginnen. Mit einem Seufzer hob der junge Mann das Gesicht aus den Händen: und fleißig wollte er sein, so fleißig, daß alle Welt Achtung vor ihm hatte, und vor allein er selber vor sich. Daß der tote Vater nicht mehr anfstehen konnte und ihm ins Gesicht schlagen. Ach. daß er diese Erinnerung doch gar nicht los werden konnte! Die war fast eine fixe Idee. Um Gottes willen nur keine fixen Ideen, keine Wahnvor- stellungen, keine neurasthenischen Zustände! Er Halle sie geschildert gesunden in einer der letzten Broschüren, die er gelesen hotte. Ach was, Unsinn, das paßte doch alles nicht auf ihn! Er versuchte ein lautes, seine Nervosität verspotten- des Gelächter. Er hatte eben viel zu viel gelesen, sich, indem er Aufklärung suchte— nein, nicht Aufklärung, Rettung— richtig blöde gelesen. Er war ein Dummkopf, ein kindischer Tor!" Er lachte abermals, aber das eigene Lachen klang ihm so schauerlich, daß er, sich erschreckend, die Hand vor den Mund hielt. Aus den Ecken des Zimmers kam es heran wie Gespenster— geheimnisvolle Wesen, die eigentlich tote Dinge waren und doch lebendig, denn sie waren es, die sich dem Tod entgegenstemmten— einem langsam schleichenden, elenden Tod. Ob sie den wirklich siegreich abwehrten? Ha, da— Quecksilber und Jod inllollcm Derein! Führten sie nicht einen Tanz auf vor seinen Augen? Arsen gesellte sich zu ihnen und Chrom— Salben, Mixturen, Injektionsspritzen und Tabletten. Wie sie tanzten, wie sie tanzten! Tabletten drehten sich dahin wie kleine Rädchen, Pillen rollten wie Perlen. Durch seine Adern fühlte er es wieder rinnen, wie unter den Händen des Doktor Süßkin, seine Muskeln krampften sich schmerzhaft zusammen, er glaubte den gleichen Schwindel, das gleiche Würgegefühl hu spüren wie damals. Seine Augen tränten, seine Ohren sausten. Gott , was doch die Einbildung tot? Und hier war ja niemand außer ihm im Zimmer und nichts, gar nichts war da, was ihn schrecken konnte. Doch horch, da raschelte etwas draußen! Bor seiner Tür. Run pochte es leise.................■....___
Die Bergmann klopfte ganz anders an, die schlug an die Tür wie mit einem Hammer. Wer war es? Wer pochte so unirdisch leise? Und doch klang es so laut an sein über- reiztes Ohr. Run wieder— und nochmals. Da schrie er, sich besinnend:„Herein!" „Olga—?!" Das schrie er noch lauter. Da war sie. Da stand sie zögernd auf der Schwelle und schob sich dann langsam herein. Ein Strahl von Freude glitt über ihr blasses Gesicht.„Manfred," sagte sie,„guten Tag." Und fiel ihm dann aufweinend um den Hals. Er sagte kein Wort. Er war so erschrocken, daß er nichts mehr herausbrachte. Was sollte er auch sagen? Eine sehr große Verlegenheit, die an völlige Ratlosigkeit grenzte, hatte ihn befallen. Er hielt still und ließ sie sich ausweinen an seinem Halse. Himmel, wie sah sie aus! Es konnte nicht lange mehr dauern, dann kam sie nieder. Wenn er ihre Stimme nicht gekannt hätte, so hätte er sie kaum wiedererkannt. All ihre Zierlichkeit war verloren gegangen, die Anmut, die ihr eigen gewesen, die ihm so gefallen hatte, ihn gelockt, sein Blut so erregt, daß er sie an sich gerissen in einer Stunde, die jegliche Besinnung über den Haufen geworfen hatte, war jetzt dahin. Ihr Gesicht war völlig in die Breite gegangen; der Mund, der groß geworden mit dicken Lippen, hatte nichts mehr von seinem Reiz. Nur das schöne Haar war noch da, aber auch das bauschte sich nicht mehr locker und sorgfältig frisiert, sie hatte es alles nach hinten gestrichen und in einen festen Knoten gedreht. Er half ihr beim Ablegen und schob ihr einen Stuhl hin. Ihre Bewegungen waren schwerfällig. „Wenn es am Ende ein Ehristkindchen wird?" sagte sie mit einem kläglichen Lächeln. Er sagte noch immer kein Wort, das Herz stand ihm still bei ihren Worten— wirklich so bald schon?! Aber er kniete vor ihr nieder und legte seinen Kopf auf ihre Knie. Es fiel lange kein Wort mehr, beide schwiegen, man hörte nur das bedrängte Atmen des jungen Mannes. Das Mädchen strich mit zitternder Hand über das dunkellockige Haar auf ihren Knien— immer wieder— es war eine mütterliche Gebärde. Und sie war es auch, die zuerst wieder sprach:„Ich bin noch nicht bei Stefan gewesen, ich bin zuerst zu dir gekommen. Gerade von der Bahn. Ich bin die ganze Nacht durchgefahren. Meinen Reisekorb habe ich vorerst an der Bahn gelassen. Kann ich mich ein bißchen bei dir zurecht machen? Ich sehe gewiß toll aus?" Ihre Stimme bat um Entschuldigung.„Und dann gehst du mit mir zu Stefan, nicht wahr? Mittags; er wird zum Essen nach Hause kommen. Bor seiner Frau habe ich ja ein bißchen Angst— und gerade jetzt! Sie seufzte._(Fortsetzung folgt.)