Nr. 527 ❖ 42. Jahrgang
1. Heilage öes Vorwärts
Sonnabenö, 7. November 7925
Me märkisihe Kleinstädte aussehen.
dem Grafen von Lindow verpfändet, der das ganze Ruppmer Land beherrfcht-r Bis 1524 teilte Granfee die Geschicke RuppinZ, dann fiel es als erledigtes Lehen an die drandenburgifchen Kurfürsten zurück. Nach der Einführung der Reformation wurden die beiden bestehenden Klöster fFranziskaner- Mönchs- und Benediktiner - Nonnenkloster) aufgehobeni elfteres 15Sl fn eine Schule ver- wandelt. Der Dreist'gfährige Krieg brachte Elend und Fcucrsbrünste: durch den Großen Kurfürsten wurden holländifchc Kolonisten heran- gezogeil. Der Siebenjährige Krieg(Besetzung durch die Schrvedenl und die Franzosenzeit störten wohl noch zeitweise den Wiederauf- stieg, der msttlerweile die Bevölkerung aus 4SlX> Seelen brachte. * Der starte skandinavische Verkehr rauscht an Gransee vorüber: die D-Züge halten hier nicht. Wenn trotzdem der Ort ein Aufblühen zeigte, so sprechen hierfür zwei Momente mit, das gute agrarische Hinterland und die Lage als Ausfalltor für den Besuch von Rheins- berg, Ruppin, Neu-Glebsow usw. Seine idyllische Ruhe und die Nähe von Wasser und Wald lassen es als Sommcraufenthaltsort geeignet erscheinen und es wäre wohl angebracht, wenn in dieser Hinsicht etwas mehr getan würde. Politisch ist ein so rein agra- risches Städtchen stark nach rechts orientiert, aber die Tatsache, daß
Zu den märkischen Städten, die ihre alte Mauer-Umwallung noch bewahrt haben, gehört auch das an der Nordbahn gelegene Gransee . Wenn der Feldsteinkranz schon verschiedene Lücken auf- weist, so rührt dies nicht davon her, daß der Leib der Stadt von sich aus den Panzer gesprengt, sondern Altersschwäche und die Lust, das vorhandene Baumaterial zu verwenden, haben diese Einbußen gezeitigt. Was sich erhalten hat, zeigt noch manches malerische Bild. Oas Silü See Staüt. Tritt man aus dem Bahnhofsgebäude heraus, so bietet sich ein interessant gegliedertes Panorama. Zur Rechten Häuser und Bäume, zur Linken eine hochanlteizende, langgestreckte, bewaldete Kupp«, tn der Mitte das Stadtbild sich lang hinziehend und von der doppeltürmigen Kirche überragt, und tm Vordergrund e.n tiefer liegendes fruchtbares Land, dem die Abwechselung von grünender Saat und dunklem Boden und einzelnen roten Ziegeldächern in der Reihe der Scheunen einen frohen Farbenton geben. In einer großen Bagenlinie führt die Straße vom Bahnhof zum Fuß des uns gegenüberliegenden Berges: der tm Stadtinnern liegende Teil dieser Strahenlinie führt den Namen Friedrich-Wil- Hestn-Straße. Dos Eintritts-(einstige Zehdenicker) Tor ist seit 1838 nicht mehr vorhanden, nur zwei Adler holten auf den Enden der hier offenen Mauer Wacht. Don der Hauptstraße gehen nun einige Querstraßen ab— m-g man auch noch so gen'>gt sein, bescheidene Reize zu loben: angesichts dieser sehr nüchternen Architektur kleiner und kleinster Häuser wäre ein Lob nicht angebracht. Ts war eben eine karge Zeit, in der die im 17. Jahrhundert stark mitgenommene Stadt sich neugestalten mußte. Eharakterislisch ist, daß das Rathaus, da« sonst in Kleinstädten stets zum Mittelpunkt wird, hier sich eben- falls sehr bescheiden gibt. Auch der 1324 errichtete Neubau, Erb- geschoß und erster Stock mit kleinem Giebel, offenbart die Not unserer Zett. Erfreulich isl. daß es an versuchen, durch prohige Neubauten zu wirken, fehlt—. derartige seidene Lappen m........ lichen Kleide wird es hoffentlich auch in Zukun Eine der Nebenstraßen, die Kirchstraße, Kirche inmitten eines Platzes, an dessen einer Ecke Post und der Komplex von Sparkosie, Amtsgericht und Rathaus befinden. Von hier aus rechts haltend, gelangt man zum Rest eines ebemaligen fUosters. fetzt Schul, zwecken dienstbar gemacht, dessen Längsseite einen weilen Platz begrenzt, von dem aus Promenaden an der Mauer und zum nahen Gehrenfee sich erstrecken. Zur Friedrich-Wilhelm- Straße zurückkehrend, kommen wir am Luisenplatz mit Denkmal W»rbei, zum Ruppmer Tor. Kurz vor ihm befindet sich in der
Hauptstraße das Spital zum heiligen Geist mit kleiner Kapelle-, zur Rechten des Tores, die Mauer verfolgend, gelangen wir zu dem runden Puloerturm. Jenseits des Tores dehnen sich Neubauten, fruchtbare Gärten, Edelobstanlogen, Scheunen aus, und darüber er-
Neubauten,
hebt sich die schöne Waldlandschäst, ein ideales Terrain für den Er- Holling suchenden Großstädter. Die Steigung ist nicht übermäßig, Nebenwege führen wagerecht weiter und bieten schöne Ausblicke: für Bänke, Schutzhütten ist in diesem Stadtwald gesorgt. Die Sehenswürüigkeiten. Das Tor und die Kirch« sind unstreitig der Beackstung wert. Die gotisch« St. Marienkirche, ein drsischissiaer Hallenbou, stammt f au, d«m Anfano des 14. Jahrhunderts. Gewaltige Mauern,«in > Turm bis hoch hinauf au« Feldstein, an den hohen Seitenwänden in Mauerstein, zeigen die Solidität des allen Bauens. Das Dach steigt hoch auf, der Chorgiebel ist reich ornamentiert, der massige Turm endet in zwei Spitzen, die voneinander in der Form ab- weichen. Im Innern, das 1862 bis 1865 renoviert wurde, herrscht daher die weiße Tünche vor: Gestühl und Kanzel sind in sehr ein- fachen Formen gehalten. Interesiant ist der Barockaltar von 1739 mit Teilen eines sigurenveichen gotischen Altars, sowie das in der
Wölbung zum Chor eingebaute überlebensgroße Kruzifir. Ein alter eisenbeschlagener Ablaßkasten und etliche Gratynäter finden sich vor. Das Ruppiner Tor ist ein viereckiger Bau mit hübschen Ornamenten auf den der Stadt zugekehrten Flächen. Die Mauer geht dicht an das Tor heran, ist«der auf beiden Seiten durchbrochen, rechts(von der Stadt aus gesehen) für Fuhvwerke und Fußgänger, links nur für letztere. Mit diesem Durchbruch hat es folgende Bewandtnis: Da der„falsche Waldemar* durch dos Tor in die Stadt eingezogen war(1348— von Willibald Alexis im.Falschen Waldemar ge- schildert), mußte es auf Befehl Ludwig des Römers zugemauert werden. Man verschasste sich daher einen neuen Eingang, und als später der Verkehr sich vergrößerte, wurde die eigentliche Durch- fahrt wieder aufgemacht, und so ist das nun mit zwei Fahrstraßen versehene Tor dem Schicksal, als.Verkehrshindernis* beseitigt zu werden, glücklich entronnen. der Geschichte üer Staöt. Der Ort wurde Ende des 12. Jahrhunderts als Grenzfeste ans slawischer Siedlung errichtet, erscheint 1262 als Granzayge und bekommt das deutsche Stadtrecht: 1319 werden Burg und Stadt von Markgraf Waldemar, der hier drei Jahr« früher eine empfindliche Niederlage im Kampfe mit den nordischen Nachbarn erlitten hatte, an
das Reichsbanner jetzt zur Bannerweihe schreitet, zeigt doch, daß die Reaktion das Terrain nicht ganz beherrscht. Der Buch- und Popierhändler hält auch in kluger Neutralität rechts- und linksgerichtete Zeitungen feil, während in der Berliner Ilm- gegend bekanntlich solche Urbanität des Geistes nicht anzutreffen ist. Daß der agrarische Einschlag zur Berbilligung des Lebens nicht bei- trägt, wird von der Bevölkerung„ohne Ar und Halm* wohl empfunden. Der Agrarier will auch am Ursprungsort die„Der- liner* Preise nehmen. Gerade diese materielle Entwicklung wird einem späteren Umschwung der politischen Anschauung den Weg ebnen.
Die Passion. Roman von Clara vicbig. „Wenn em Brief an mich kommen sollte, schick ihn mir
gleich," bat dringend die Schwester. Ihr war ganz dumpf im Kopf, sie dachte nicht mehr wie zuerst: was soll nun werden? Sie war apathisch dieser Frage gegenüber. Auch keine Angst
waren sie ausgestellt, auf der Mittelpromenade der breiten Straße, in langen waldduftspendenden Reihen, an jeder Ecke, auf jedem nur ein wenig freien Platz. In Lichtenberg waren
kam sie an vor der schweren Stunde: die mancherlei Be schwerden, die sie hatte, beachtete sie kaum, sie dachte nur: ein Brief, ein aufklärender Brief von ihm, der muß kommen! „Wenn du nur sagen möchtest, wer der Kerl ist," sagte der Bruder.„Ich sag's ja meiner Frau nicht. Keinem Menschen. Du kannst es mir ruhig sagen." Aber sie preßte die Lippen zusammen und schwieg. „Sie sagt es nicht." sagte WUkowski zu seiner Frau, die ihn verhörte.„Aber wenn ein Brief an ste kommt, mach ich den auf. So ungehörig das an sich auch ist. Der gibt mir aber doch vielleicht' ne Handhabe, damit ich den Kerl zu fassen kriege." „Man kann das ganz gut mit'nem dünnen Bleistift oder 'nem Hölzchen machen: wenn man vorsichtig ist, merkt's kein »ensch . Und dann klebt man wieder zu." meinte die Frau. Olga Wilkowski wartete jetzt schon acht Tage. Roch immer kein Brief. Ich muß gehen und nach ihm sehen, dachte sie, etzt kann ich's noch. Aber als ste auf die Straß« kam. merkre .le, daß sie es doch nicht mehr konnte. Der Lärm, der Trubel auf den Straßen ängstigte sie. Daß Berlin voller Menschen «ar, das hatte sie gleich bei ihrer Ankunft gemerkt, daß es aber so viele Menschen hier gab, das hatte sie doch nicht ewußt. Als sie aus ihrer stillen Seitenlmcht in die Haupt- /raße einbog, prallte sie förmlich zurück. Ein Strom von Menschen wälzte sich auf sie zu, sie wich bis dicht an die Häuser zurück lmd hielt schützend die Hände vor ihrem Leib. Niemand nahm Rücksicht auf sie, alles rannte, puffte, drängte. Leute, mit Paketen schier überladen, stürzten auf die Elektrische zu. die kaum an der Haltestelle anhielt, als sich auch schon ein regelrechter Kampf entspann. Wer sich am besten seiner Ell- bogen bedienen konnte, kam hinein, die anderen blieben schimpfend zurück. Droschken wurden gestürmt, Leute, die sonst nicht an Droschtefahren dachten, leisteten sich heute einen Wagen. Der Kutscher bekam die Weihnachtstanne vorn auf den Bock, er selber konnte kaum mehr sitzen, nur noch so daneben kleben. Große Bäume, wahre Prachtbäume. Ueberall
K
S' fr
die Weihnachtsbäume billiger als in der Stadt, darum kauften viele Berliner hier. Und auf dem Trottoir ließen ausschreiende Verkäufer ihre Wägelchen aus bunt angemaltem Blech, ihre Schimmel, ihre Ramien, der wandernden Menschheit zwischen die Füße rennen. Hampelmänner zappelten, Puppen nickten, Lämmer blökten, Pfeifen trillerten, Vögel quietschten, Trom- peten tuteten. Jeder Händler führte ein anderes In- strument voi". ein Höllenlärm. Ganze Knäuel von Zuschauern ballten sich. Es wurde Olga schwindlig, sie haste nicht den Mut mehr, sich weite? In dies Ehaos zu stürzen. Ach. sie hatte gänzlich vergessen, daß das große Fest der Freude vor der Tür war, das Fest beglückender Geschenke. Ein bitteres Gefühl durch- zuckte sie: für sie gab es keine Freude, für sie gab es kein Ge» schenk. In einer Schwächeanwandlung, die mebr ihre Seele als der Körper ihr verursachte, schlich sie in die stillere Straße zurück. Run traute sie sich nicht mehr fort aus der kleinen muf- figen Hinterstube, in der unterm Bett der Schließkorb mit ihren Habseligkeiten stand: gegenüber von ihrem Bett noch ein zweites Bett, in der Mitte ein hölzernes Tischchen und zwei einfache Stühle. Hier saß sie nun vom Morgen, wenn sie auf- stand, bis zum Abend, wenn sie sich niederlegte— todinüde, zerschlagen. Sie schneiderte für die Frau hier— wie sollte ste auch sonst die Wartezeit hinbringen? Der verstand sagte ihr auch, daß es klug war. sich die Frau zu verpftichten Aus zwei alten Kleidern, die sie zertrennte, machte sie der ein neues Kleid. Es wurde sehr hübsch, Frau Lehmann war entzückt: „Nee. Fraulein. Sie haben aber wahrhaftig Schick! Wenn Sie »bieder auf die Beine sind, können Sie rn'n erstet Geschäft onkomm'." Gott sei Dank, daß sie die Geschicklichkeit haste! Sie nähte auch gern, aber jetzt siel es Olga doch unendlich schwer. Mit jedem Stich nähte sie sich an dem Gedanken fest: ein Brief, ein Brief, warum kam von ihm denn kein Brief?! Am Tag vor Heiligahend erschien Stefan. Er brachte ihr von seiner Frau ein Daket, darin waren Windeln und etwas Kleinkinderwäsche:„Das schickt Ella dir zu Weihnachten, vvn unserem Jüngsten: wir brauchen'? nicht mehr." Sie nahm die schlecht gewaschenen Kinderhcmdchen und die zum Teil zerrissenen Windeln. Ihre Lippen zuckten/ aber sie fühlte, sie mußte die nehmen und danke sagen, sie war jetzt zu arm, um etwas zurückweisen zu dürfen.
„Und dann Hab' ich auch noch'nen Brief für dich," sagte der Bruder. Sie fuhr auf: ein Brief! Und das sagte er jetzt erst? „Aber es ist dem eigener." Stefan übergab ihn ihr. Es kam in feinen Blick ein mitleidiges Flimmern.„Er ist zurück- gekommen. Deine Adresse steht ja hinten drauf..Adressat ver- zogen. Unbekannt wohin'. Das ist gut, nun weißt du we- nigstens, woran du bist." „Bas weiß ich jetzt," sagte sie tonlos und senkte tief den Kopf. „Nimm dir's nicht zu sehr zu Herzen." der Mann legte seine Hand auf das blonde Haar. Sie tat ihm sehr leid, aber er war zugleich böse: wie konnte sie sich mit solch einem dummen Jungen einlassen?„Herrn Stud. Manfred Bern- dorft"— einer, kaum der Schule entwachsen! Er glaubte, es ehört zu haben, daß der als Primaner beim Vater in 'ension gewesen war. Wilkowski und Frau hatten Olgas Brief gelesen. Selbst Frau Ella hatte sich dabei eines gewissen Mitleids nicht er- wehren können:,„So'n armes Tier! Hab ich ihr ja gleich gesagt. Wie konnte sie bloß nochmal so dumm sein und noch liebreich an den Bengel schreiben, sich so beunruhigen, daß er krank wäre! Da hätte ich die Olga höher eingeschätzt. Die ist ja dümmer als erlaubt ist." Mit einer gewissen Indignation hatte Frau Wilkowski den Brief neu gummiert und zugeklebt. „Siehste wobl," sagte sie dann triumphierend,„fein, werkt sie gar nich." „Geh hin, geh hin," flehte das Mädchen und umklam- merte den Arm des Bruders.„Es ist ein Irrtum. Es kann nicht sein, daß er fort von da ist. Er geht nicht fort, ohne mich es wissen zu lassen. Er hat gewiß noch einen Brief für mich zurückgelassen. Ich bitt' dich, geh hin!" „Mein Gott, Olga, ich habe doch noch so viel zu tun— im Geschäft— und dann muß ich noch den Baum für die Kinder anputzen, ich habe wahrhaftig nicht Zeit." „Geh hin, geh hin," stöhnte sie. Ihr„Geh hin" klang schrecklich, es wurde Um unbeh«H>ch dabei.„Aber warum denn? Es hat ja doch keine« Z»e< mehr." Hr versucht« ste aufzurütteln:„Hnst du denn>ar keinen Stolz mehr?" „Mir ist bange, er tut sich was an. Er»ar s«»er- zweifelt. Geh hin, sieh nach, frag« die Frnu aus, s»nst gehe ich noch selber!" (Fortsetzung folgt.)