Einzelbild herunterladen
 

Sonnabend

7. November 1925

Unterhaltung und Wissen

Schreifogel sucht die Madonna.

Erzählung von Mar Barthel.

( Schluß.)

Die zuviel geschminkte Sängerin, die jetzt erschien, lebte nur von der Gnade ihrer Borgängerin, die das Volk erhitzt hatte. Was bleibt einer Frau, wenn sie verblüht ist und in das grelle Lampenlicht trit, anders als schmerzhafte Resignation? Es sei denn, sie leuchte in ihrer Stube daheim als Mutter oder Kameradin. Das Lächeln, mit dem diese Sängerin für den dünnen Beifall dankte, war bitter und hilflos.

Dann tam der Mann. Ein Jüngling ganz in Schwarz   erschien, unbeholfen, täppisch, puppenhaft. Doch das war nur Maste. Plöglich, als die Mufif endete, straffte er sich, begann zu singen und besiegte das dumpfe Murren des Saales mit machtvoll strahlender Stimme. Immer stolzer und blühender wurde er. Mufit war der Sturm, der in seine Segel blies und ihn auf das verwunschene Meer der Töne nach himmlischen Rüsten zutrieb. Das Volf sah wehmütig und beglückt das fingende Schiff vorüberschweben.

Die Brücke, die das fleine Mädchen gebaut hatte, stand jetzt mit hundert Pfeilern in den Herzen der kleinen Leute, der Bürger, Arbeiter, Frauen und Soldaten. Die Verzauberung war da, das hundertfache Auf und Ab des Herzschlages, das Licht im Dunkel, die Erhebung aus dem Alltag, Gelächter, Wollust, die Freude. Auch die Brücke schwankte auf und ab und war unzerbrechlich und wundervoll. Das tönende Schiff verschwand im Feuer einer hinschmelzenden Arie, verging im füßen Seufzer endlicher Erlösung. Auch das Volk feufzte und verging. Graue Gesichter schimmerten wie von inner­licher Glut. Drei Gongschläge riffen den Vorhang herunter.

Als das Spiel zum zweitenmal begann, standen japanische Artisten auf der Bühne. In ihren gelben Gesichtern bewegten sich die schrägen Augen wie in den Köpfen schöner Tiere. Auch ihre Spiele waren tierhaft, Zauberspiele voll unerhörtem Rhythmus, Springen und Schleudern der Leiber, wie vielleicht nur in indischen und sibirischen Urwäldern die großen Tigerfagen springen fönnen. Doch in den ganz fernen Gefichtern stand der Abglanz eines Lächelns, wie es Buddha lächelt, der in goldener Ruhe in den Tempeln thront. Nach diesen Artisten, die das Hers langsamer fchlagen machten, erfchien mit schamlofem Tänzerinnenschritt eine halbentblößte Frau, ein roter Fleischberg, das Männerverberben, das Ungeheuer, das Jünglinge frißt. Sie rollte die Augen und fang zu ihrem Tanz mit gemeiner Stimme ein schamloses Lied und wiegte sich im Tafte einer graufigen Melodie, die taumelnd das Herz packte und betörte. Eine Melodie war das, wie sie nur ausgedacht, aber niemals ge= fungen werden darf. Vielleicht haben die Sirenen so gesungen, die unfruchtbaren Weiber, die am Strande liegen und die Schiffer an­locken. Die gewölbten Brüste triefen vom Licht. Die nackten Leiber blenden die Augen. Goldener Flaum zittert zärtlich über schnee­meißer Haut. Die Münder sind zersprungene Granatapfel. Du mußt in die lockenden Umarmungen stürzen, da gibt es teine Rettung. Für einen lasterhaften Kuß verschentst du gern und willig dein Leben.

Die Frau auf der Bühne berauschte sich an ihrer Gewalt. Den entblößten Leib warf sie wollüftig in das grelle Licht der vielen Lampen. Sie warf sich selbst hinunter in das bebende Bolt, fie wurde hundehaft und gab sich den Männern hin, die nach Auß und Umarmung gierten. Auch sie lächelte, aber sie lächelte mie ein Tier, das sich am Blutgeruch in immer neue Rasereien hineinsteigert. Weißes Licht schoß aus ihren schwarzen Augen.

Da sah ich die Madonna.

Sie saß in der ersten Reihe des Saales in einem der roten Plüschseffel und hatte mit unbeschreiblichem Lächeln dem kleinen Mädchen zugehört, das die Brücke baute. Sie hatte der geschminkten Sängerin gedankt und ihre Bitternis verstanden. Auch sie war mit dem singenden Schiff nach der Unendlichkeit gefahren. Ihr Lächeln wetteiferte mit dem Lächeln der japanischen Turner um die Krone. Wie eine Arbeiterin war sie gekleidet und hatte das große Umschlage­tuch der römischen Frauen um ihre Schultern gelegt. Unter dem Tuch lag an der weißen Bruft ihr Kind und schlief und tranf. Auch Der Joseph saß an ihrer Seite.

Als die Frau auf der Bühne zu singen und zu tanzen begann, hatte die Mutter ihr Kind zart zugedeckt, als wolle sie es behüten vor dem Lärm der Stunde. Die Glut der vielen Hundert Männer flammte nach der tanzenden Frau, nach dem Tier da oben, der Blut­fäuferin. Da nahm die Mutter das Kind fester an ihre Brust, da stand sie auf und ging stolz und selbstbewußt durch den erhitzten Kampf der Geschlechter und verließ mit ihrem Mann den Saal. Leichter Schmerz krümmte ihre Lippen und lag wie eine Frühlings­wolfe auf der weißen Stirn.

Da barst die Brücke, die das Mädchen gebaut hatte und auf der die wüste Sängerin tanzte! Ein Pfeiler hatte sich empört, war aus dem Herzen geriffen, trug nicht mehr, verweigerte sich. Und mit dem Zusammenbruch der Brücke fiel auch die Tänzerin, tanzte in der Luft, am Abgrund hin und hatte teine Gewalt mehr. Matt und falt wurden die Lieder und Gebärden, hilflos alle Schritte. Mit einem weinerlichen Schrei schloß sie ihren Gefang. Keine Hand

rührte sich, als sie mit erstarrtem und abgeschminktem Gesicht

hinter die Auliffen flüchtete.

Auch ich bin gegangen, als die römische Frau mit dem Kind bas Theater verließ. Die Madonna! Die Mutter mit dem Kind! Der bezwingende und stumme Proteft gegen die unfruchtbaren Beiber, die aus der Liebe Brunst   und Geschäft machen. Geburt! Geburt! Die ewige Geburt!

In der nächsten Zeit war ich aufgewiegelt wie damals, als der Thomas Endermann seine Gespräche mit mir führte und um den Ginn des Daseins fämpfte. Ueberall suchte ich die Madonna. Die heidnischen Göttinnen lebten nicht mehr, sie ergriffen nicht das Herz, sie machten es nur ehrfürchtig. Aber die Mutter mit dem Kind braucht man nicht zu fürchten. Von dieser Zeit an lebten für mich die mystischen Bildwerke und Gemälde der alten und der neuen Bölfer, in denen das große Mysterium der Mutter mit dem Kinde dargestellt wurde. Die Unruhe des Blutes warf mich durch viele Länder. Die Madonna blieb mir fern, die Mutter mit dem Kind, doch ihrer Schwester bin ich einmal begegnet.

Amfterdam funtelt manchmal wie ein großer schwarzer Diamant. Das Licht, das aus ihm zudt und strahlt, tommt vom Judenviertel her, aus den Augen und von den Stirnen der jüdischen. Mädchen. Dort in diesem Ghetto bin ich der Schwester der Madonna begegnet. Der Mensch tann sein Einsamsein nicht ertragen. Eine alte Sage erzählt, daß früher der Mensch Mann und Weib zu gleicher Zeit war, daß ihn ein strenger Gott geteilt habe. Um vollkommen Bu fein, um mich zu verdoppeln, ging ich an jenem Abend in Amster

Spartag.

15lUBH

Jede unnötige Ausgabe ist zu vermeiden, sagt Herr Luther  , halbe Mark für eine Witwen- und Waisensammlung vertan."

dam durch dunkle Straßen. Als ich eine Gracht erreichte, in der die Lampenreihe der Straße wie eine Tränenfette zitterte, sprach mich ein Mädchen an. Ich hungerte nach Kuß und Umarmung, vielleicht auch nur nach der Illusion zärtlicher Liebe, und ging mit ihr nach dem schwarzen Häuserkasten, in dem sie wohnte. Das Haus lag an ber dunklen Gracht mit dem traurigen Widerschein der Laternen. Das Haus war ein Freudenhaus.

Viele Kammern waren durch dünne Wände in drei Verschläge geteilt, in denen die Mädchen ihren Beruf ausübten. Goethe hat in seinem Weltgedicht: Der Gott und die Bajadere  " die harten Lager verklärt, diese Folterbetten der Liebe. Auch diese Nacht, die ich erlebte, mehrt den Glanz in diesen fahlen Stuben.

Die Wände des Zimmers, in das mich das Mädchen führte, waren gefalft. An dem Fenster nach der Gracht zu stand das schmale Bett. Auf einer armen Kommode verfümmerte ein blinder Spiegel. Die Goldverzierung war schon lange abgeblättert. Man sah nur das billige gelbe Holz und darauf wie häßliche Narben ein die Bergänglichkeit aller Dinge noch einmal aufmerksam gemacht wenig Gold von einstiger Bracht. Neben dem Spiegel, als solle auf werden, hing fern und damenhaft die Büßende Magdalena" eines italienischen Meisters, der sich mehr an dem blühenden Fleisch seiner Donna berauscht hatte als an ihrer tränenvollen Reue. Aus der verfinsterten Strenge einer Höhlenlandschaft blühte diese einsame Frau blumenhaft hervor.

"

Auch das Mädchen hungerte, doch sie hungerte nach Brot. Sie nahm das Gelb, das ich ihr gab und verließ mich bald. Sie war ein englisches Mädchen. Sie hieß Annabel. In einer Stunde, darling!" fagte sie. Die ganze Nacht wollte ich bei ihr bleiben und legte mich in das schmale Bett. Auf der Kommode lag noch ein Stück weißes Brot. Auch ich hungerte doppelt. Also nahm ich das Brot und. Ich das Brot und plötzlich begriff ich das neue Mysterium, das des Sakramentes. Wer von diesem Brote ißt, der ist von meinem Leibe!" Und ich von ihrem Leibe!

das zerbrochene Lachen, in dem mehr Tränen rinnen als jemals Durch die dünnen Wände kam das Lachen der anderen Mädchen, Freude geflungen hat. Männerschritte dröhnten an meiner Tür porbei. Marit je! Marit je!" rief eine Stimme, Ein Mädchen weinte. Drohend erhob sich eine Frauenstimme. Nach einem furzen Schweigen begann das Weinen wieder, aber schon in das Schicksal ergeben. Ein Truntener grölte. Klirrende Gläser erklangen zu freischendem Gelächter.

Einmal wurde an meine Tür geflopft, doch der unsichtbare Bucher   verlief fich, als alles stumm blieb. Das war das Haus ohne Wände. Ich sah und hörte in den Minuten, als ich mach lag, humbert Romane und Tragödien. Dann überfiel mein Herz die große Unruhe. Eydermann mit seinem Gespräch war nahe, ich dachte an die römische Madonna, an die Mutter mit dem Kind, an die ewige Geburt.

Die Kerze tanzte und an den fahlen Wänden zudten die Schatten. Der Abend in dem römischen Vorstadttheater stand auf, die Frau mit dem lasterhaften Lied tanzte stumm in den Schattenbildern des Lichts.

Da stand ich auf, verlöschte die Rerze und ging. Annabel, wann wirst du einmal dein Kind an der weißen Brust halten? Annabel, wann wirst du einmal mütterlich lächeln?

Die ganze Nacht lief ich unruhig durch die Stadt Amsterdam  und hatte nur einen Gedanken: Ich habe dein Brot gebrochen, ich habe mit von deinem Leibe gegeffen, ich habe mit deinen Leib zerbrochen.

293

Beilage

des Vorwärts

lioW

- und ich hätte heute beinahe' ne

Wie Charleys Tante" entstand und was der Berfasser mit dem Stud verdiente. Nun ist auch Charlens Tante" verfilmt worden und hat, was nicht anders anzunehmen war, der Film auch denselben Erfolg, wie ihn das Luftspiel hatte. Grnsthaft, wer unter Lausen­den von Menschen hat überhaupt den Namen des Verfassers von jeder schon einmal Tränen gelacht hatte, deren Aufführungszahl Charleys Tante" gefannt? Die Poffe, die jeder fannte, über die Legion war, ftellt ein typisches Beispiel dafür bar, wie ein Autor völlig hinter der Popularität seines Wertes verschwinden kann. Ohne Uebertreibung war diese tolle Farce des Brandon Thomas  der größte Erfolg, den je ein Bühnenschwank erzielte. Er hat seinem erfasser ungeheure Reichtümer eingebracht, und trotz alledem blieb der Name Brandon Thomas im Hintergrund. Literarische Werte wird niemand in diesem zwerchfellerschütternden englischen Schwank gesucht und gefunden haben, nichtsdestoweniger ist seine Entstehungs­geschichte interessant und unbefannt gemug, um in die Deffentlichkeeit zu treten. Gegen Ende des Jahres 1892 machte der bekannte und beliebte Schauspieler Benley Brandon Thomas   den Vorschlag, ihm eine wirksame Rolle auf den Leib zu schreiben. Thomas, selbst Schau für einen Mann zu schaffen, da hier ja die derben, tomischen Wir ſpieler und erfahrener Bühnenpraktikus, verfiel auf den ebenso neu­artigen wie zugfräftigen Gedanken, eine Frauenverkleidungsrolle tungen handgreiflich am Tage lagen. Als Thomas seine Idee Penlen auseinandersetzte, stimmte dieser ganz begeistert zu, obwohl er eine solche Rolle noch nicht gespielt hatte. Mit großer Arbeitsluft ging Thomas zu Werke und schuf in drei Wochen die weltberühmt ge wordene Posse. Der Bühnenerfolg war über alles Erwarten groß Jahre das alleinige Aufführungsrecht, stellte 1466mal den Lord  und ist dem Wert bis heute treu geblieben. Benley hatte für zwölf Babberly dar und verdiente an Charlens Tante" nicht weniger als 4 Millionen Mart. Nach Ablauf der zwölfjährigen Frist war Bran don Thomas wieder im alleinigen Besiz der Autor- und Auf­führungsrechte, durch die er zum Multimillionär wurde. Mehr als 30 000 Borstellungen und die Uebersetzung in 18 Sprachen haben ihm einen Gewinn von rund 20 Millionen Mark eingetragen.

Von alten Brüden. Den lleberlieferungen zufolge soll die älteste europäische   Brücke, die aus Steinen erbaut wurde, im Jahre 1080 bei Dinant   über den Maasstrom geschlagen worden sein. Ein Jahr. Steinbrüde über die Themfe. In Deutschland   ist als älteste, heimische hundert später begannen die Engländer mit dem Bau der ersten Steinbrüde die Donaubrüde bei Regensburg   bekannt, die schon 1135 in alten Urkunden erwähnt wird. Eine besonders interessante Ge schichte hat die alte Rheinbrüde bei Mainz  , die Karl der Große   zu Beginn des 9. Jahrhunderts erstehen ließ. Man baute an dieser Brücke vom Jahre 803 bis zum Jahre 813. In leztgenanntem Jahr wurde die Holzbrücke, vermutlich infolge Brandstiftung  , bis auf die Grundpfeiler eingeäschert. Diese gewaltigen Pfeiler aus Eichenholz stammten noch von der ersten Rheinbrüde bei Mainz  , die zur Römerzeit Kaiser Trajan  ( 98-117) aufführen ließ. Erst Ende des vorigen Jahr­hunderts, im Jahre 1880, begann man mit der Entfernung der bei nahe zwei Jahrtausende aften mächtigen Grundpfeiler, die der Schiffahrt hinderlich wurden. Die Eichenstämme waren durch die Waffereinwirkung hart und fest wie Eisen geworden. Viele Pfeiler und andere Holzteile wurden von der Stadt Mainz   an Antiquitäten händler und Möbeltischler abgegeben, die die Balten Trajans" gut bezahlten. Viele Biermöbel, Truhendedel, Schrankeinlagen, Wand; bretter und Seffet find aus dem alten Holz, das innen noch völlig gefund war, gearbeitet worden und fanden willige Abnehmer.

Menzels Raf an die Duse. Eleonora Dufe, die bekanntlich eine große Berehrerin der Kunst Menzels war, hatte es durchgesetzt, den Meister persönlich zu sehen. Aber da Menzel tein Italienisch und die Duse nicht Deutsch   konnte, war die Berständigung sehr schwierig. Schließlich fagte Menzel zu Albert Hertel  , in dessen Bohnung die Begegnung stattfand: Sagen Sie der Frau, alles in allem hätte sie unflug gehandelt! Wenn einem auch ein paar Blümchen gefallen, die einem in den Weg kommen, so soll man doch deshalb nicht das Mistbeet tennen lernen wollen, auf dem sie gewachsen sind."