Kr. 52�» 42. Jahrgang 2» ��9 ��0tkö?0FÜ9 Sonntag. S. November 1Y2S
Vas„neue" Kußlanö. Reiseeindrücke. Ion Fritz Aarsen. Die folgenden Ausführungen wollen imd können schon wegen der Äür� meines russischen Aufenthalts keinen An- fpruch darauf erheben, unbedingt zutreffend zu fein. Es lind Leolxul)tungen eines westeuropäisch orientierten Menschen und nicht mehr. Welche Schwierigkeiten aber gerade Rußland für die Beurteilung durch einen Westeuropäer bietet, merkt auch der flüchtige Beobachter sehr schnell. Es gibt da Widersprüche, die für uns unvereinbar erscheinen. Nach vier- wöchigen Aufenthalt äußerte ein Kamerad aus eben solchem Empfinden heraus:»Rußland ist mir auch heute noch eine Sphinx." Das alte Rußland bedeutete für uns, wenn wir uns nicht eingehend damit beschäftigten, Zarismus und Knuten- Herrschast und m trautem Verein damit eine dumpfe Reli- giosität der Massen, mißbraucht von der seelenknechtenden .Herrschaft der Popen. Zarismus deckte für uns den Begriff der egoistischen Diktatur eines Herrschers zusammen mit seiner Familie und seinen Günstlingen, ohne Rücksicht bis zuletzt auf die nur zum Schein als Vertretung des Volkes bestehende Duma. Zarismus bedeutete uns die Herrschast eines kor- nipten Beamtentums und einer egoistischen feudalen Kaste, die trotz Aufhebung der Leibeigenschaft die Masse der Bauern mit der Knute regierte, sie aussaugte und nichts für ihre Aus- bildung tat. Davon sah ich noch erschütternde Beispiele in russischen Dörfern: prächtige Herrenbäuser und verfallene Hütten der Bauern! Zarismus hieß für uns aber auch Nei- gung der unterdrückten Bevölkerung zu Attentaten und revolutionären Bewegungen unter Führung der on westeuropäischen Idealen gebildeten russischen Intelligenz, und ihre blutige Bekämpfung durch die herrschende Klaffe. Die heute geräumten Gesängnisse der Peter-Pauls-Festung in Petersburg , in denen fast alle bekannten Revolutionäre ge- festen haben, umwob für jeden Menschen Westeuropas ein wahres Grauen.— Die Religiosität Rußlands war uns ge- kennzeichnet durch Tolstois weitverbreitete„Volkser, Zählungen� ebensosehr wie durch die Erscheinungen dumpfen Aberglaubens, die aus dem Auftreten und verhängnisvollen Wirken des Mönches Rasputin noch frisch in der Erinnerung war. Was sagte uns, die wir mit solchen Vorstellungen das große fremde Land betraten, des„neue Ruhland "?— Auch heute hat Rußland eine Diktatur. Man hat uns immer wieder gesagt, es sei die Diktatur der Arbeiter und Bauern, der bisher unterdrückten Klasten. Es ist falsch, diese Umkehrung der Diktatur damit abzutun, daß man sagt, es sei nur eine Umkehrung und damit meint, es habe sich im Grunde nichts geändert. Richtig ist. daß sich sehr vieles geändert hat. Denn diese Regierung der Voltskommissare ist bestrebt, nicht nur für eine schmale Kaste zu sorgen, sondern wirklich für d i e M a s s e n. Ueberall haben wir die Erholimgshäuser für die Hand- und Geistesarbeiter gesehen, am schönsten in Peters- bürg auf der Nevoinsel in den Häusern, die einst den Reichen gehörten: überall die Arbeiterklubs, die teilweise eine Art Dölksbaus darstellten, mit Bibliotheken, Leseräumen. Vor- tragssalen und einer Art hygienischem Museum; überall die zum Test vorbildlichen Einrichtungen zum Schutze des proletarischen Kindes und seiner Mutter. Ich sah ähnliche Veranstaltungen auf dem Lande in einem Dorf. sah die Maßnahmen, die man ergreift, um den Bauern zur rationellen Wirtschast zu erziehen, um dadurch seine Lebens- weise zu heben und ihn so durch Bildung erst wahrhaft aus der Hörigkeit vergangener Jahrhunderte zu befreien. Diese Arbeit wird von den beauftragten Funktionären und von der kommunistischen Jugend mit einer Begeisterung getan, die nur verständlich ist. wenn man den Wandel der Zeiten und das Hochgefühl des erkämpften Sieges über den verhaßten Zaris- mus vor Augen hat. Selbst Gegner des Bolschewismus haben mir mit Stolz erklärt, daß diese Beamten absolut unbestechlich
seien. Korruption wird mit drakonischer Strenge geahndet. Das ist das beste Zeichen für den Geist des neuen Staates. Daß er es bei aller Strenge der Diktatur jedoch nicht vergaß, auch den Geist der Kameradschaftlichkeit zwischen Masse und Führern zu pflegen, davon sah ich unverkennbare Beispiele bei der Parade der roten Armee uird den Umzügen des internationalen Iugendtages. Jede Kritik on dem heutigen Regime muß diese positive Seite, den energischen und unbezweifelbaren Willen der Re- gierenden, für die Massen zu sorgen, zunächst rückhaltlos an- erkennen. Erst dann kommen die Fragen: Ist es wirklich eine Herrschaft der Arbeiter und Bauern, oder eine solche der Kommunistischen Partei? — Kein Vorwurf wurde von den russischen Kommunisten schärfer zurückgewiesen. Die Tatsache, daß an allen verant- wörtlichen Stellen Kommunisten■ stehen, erklären sie sehr einfach damit, daß man die Kommunisten deswegen wähle, well sie durch ihre Parteizugehörigkeit zu besonders ent- sagungsvoller Amtsführung verpflichtet seien. Darin liegt viel Wahres, denn die Kommunisten Rußlands sind heute nicht eine Partei, in die jeder eintreten darf, sondern gleichsam ein Orden mit einem oft jahrelang dauernden Noviziat und mit der Verpflichtung zu unbedingtem Gehorsam und per- sönlicher Entsagung. Wenn diese auch soweit geht, daß der Kommunist nur eine gewisse Höchstsumme(etwa �00 Mark monatlich) verdienen darf, während Fachleute leicht das Doppelte und Dreifache erhalten, so erklärt das keinesfalls den geschilderten Befund. Hier muß auch eine bestimmte Wahl- r e g i e stattfinden. Das ist kein Vorwurf, sondern die Fest- stellung einer Selbstverständlichkeit, da doch Diktatur herrscht. Eine weitere Frage: Hat diese Diktatur, deren Willen zur sozialen Fürsorge ich uneingeschränkt anerkenne, die wirt- s ch a f t l i ch e Lage gebesiert? Ist Rußland das Paradies der Arbester?— Man sprach uns von einem durchschnsttllchen Monatslohn von etwa 50 Mark. Ein zweifellos geringer
Revolutions-Geöenkfeier Montag, üen 9. November, abenös Th Uhr, im großen Saal der Neuen Welt, HafenheiSe unker Mitwirkung des Hegar- Thors und der Spielgemein- fchaft Berliner Zungsoziali'ten.— Ansprache, gehalten von Staatssekretär Heinrich Schulz , M.d.B. Eintritt frei. Mitgliedsbuch dient als Ausweis. ______ Der Lrzirtsvorstand. 3. kreis tvedding. Montag, den 3. November, abends VA Nhr, im großen Saal der Pharussäle, Müllerstraße 142. Ansprache: Dr. Otto Friedländer . Mitwirkende: Gemischter Chor Groß-Berlin — Heinrich Witte vom Staatstheater— Berliner Konzertorchester. Eintritt 70 Pf. Steqllß. Montag, den 3 November, obens 8 Uhr, Im Lyzeum Rothenburgstraße. Mitwirkende: Das Deutsche Vokalquartett. Rezitationen. Ansprache: Regierungsrot Genosse Goertig. Ein- tritt IM. Zohannisthal. Montag, den 3. November, abends 7K Uhr, bei Schreiner , Friedrichstraße 8. Ansprache: Wilhelm Landa. Zehlendorf . Sonntag, den 8. November, abends 7 Uhr, im kleinen Saal des Lindenparks. Rezitationen, Volkstänze, Sprechchor, Ansprache. Oberschönewelde. Sonntag, den 8. November, abends 8 Uhr, tm neuen Saal von Imberg. Rezitationen, Volkschor Südosten. An- spreche: Wilhelm Reimanti. vankow-heinerkdorf. Sonntag, den 8 November, abends VA Uhr, in der Schulaula Wollankstraße 131. Rezitationen und Sprechchor. Mederschönewrtde. Sonntag, den 8. November, abends 8 Uhr, im Restaurant Schmidt, Reoolutionsfeier, verbunden mit gemütlichem Beisammensein. Duch-Röntgental. Sonntag, den 8. November, abends 8 Uhr. gemeinsame Feier im Elysium, Kaiser-Friedrich-Straße. Ansprache: Genosse Zachert, M. d. L.
Die Passion. Roman von Clara Dlebig. Sie war aufgesprungen, auf ihrem todbleichen Gesicht flammten rote Flecke höchster Erregung. Im gleichen Augen- bück ließ ein mahnender Schmerz sie zusammenzucken, sie ächzte kurz auf. „Nein, nein, ich geh schon!" Er drückte sie auf den Stuhl nieder. Und dann fuhr er in seinen Paletot, zog ihn sich mit einem Ruck in die Höhe:„Was du einem für Scherereien machst, jetzt gerade zum Fest! Na ja. ich gehe schon!" Wie Frau Ella es richtig vorausgesagt hatte, so war es: dieser Mensch hatte sich aus dem Staube gemacht. Es war Stefan Wilkowski nicht einerlei— lieber hätte er den ge- wiffenlofen Kerl an der Gurgel gepackt— er stand ganz niedergeschmettert vor der Wstwe Bergmann.«Also Herr Verndorff ist fort? Wie lange schon fort?" „Oh, schon über acht Tage. Mir ist's ganz recht. Seit so eine bei ihm war— na, ich sage Ihnen!— da hätte ich ihm sowieso gekündigt. Ich bin'ne anständige Wirtin, ich leide nicht, daß meine Herren Weibsbilder oben aufs Zimmer haben, und ieberhaupt, was der für Viecher in fein'n Nacht» tisch zu liegen hatte! Au weh!" Sie hob in Abwehr beide Hände:„Na, Sie verstehen mich wohl schon." Und sie kniff die Augen zu und schüttelte sich wie in Ekel.
In der Nacht vom dreiundzwanzigsten auf den vierund- zwanzigsten Dezember war Olga Wilkowski im Traum in ihrer Heimatsstadt. Es war schon heilige Nacht. Und sie ging in die Ehristmette, in die nach Myrrhen und Weihrauch duftende Kirche. Da war es wie alle Jahre zum Weihnachts - fest: die große Krippe ausgestellt, die Engel sangen, die Hirten beteten an, die heiligen drei Könige brachten ihre Gaben. Die Mutter Gottes faß wie immer schön da im sternen- besäten Kleid, aber in ihrem Schoß lag nicht wie sonst das lächelnde Kindlcin im Strahlenkranz, mif das sie nicderblickte entzückt— heut war das Kindlein nackt, ohne Strahlenkranz. Und es hob ieine Hände, die hatten Wunden, und seine Füße waren durchbohrt. Als in den Häusern Berl'-us die Weih- nachtsbäunrie brannten, die dunkle Nacht hell wurde von Lichterglanz, als Eltern lächelten und Kinder jubelten, als Weihnachtsgesänge ertönten und von den Türmen Glocken
erklangen, wurde im kleinen muffigen Hinterzimmer in der entlegenen, noch nicht völlig bebauten Straße ein Kind geboren „Wenn es am Ende ein Christkindchen wird?" so hatte Olga Wilkowski damals ahnend bang gesagt. Es war ein kleines Mädchen, sehr dürftig und schwach. Aber die Mutter, der die Frau es in den Arm gelegt hatte, blickte darauf nieder mit einer plötzlich erwachten großen Liebe. Und auch mit Freude: nun hatte sie auch ein Geschenk. 4. Sie nannte ihr kleines Mädchen Eva, weil an dem Tag, an dem es geboren worden war, Eva im Kalender stand. Stefanie hätte sie gern gewählt, dagegen wehrte sich aber ihr Bruder Stefan, dem das nicht angenehm war. Pauline hätte sie es auch nennen können nach ihrem Bater. der hieß Paul, ober der würde ja doch nie etwas von der Kleinen wissen wollen. Auf ihren flehentlichen Brief hatte er ihr keine Antwort zukommen lassen. „Also Eva, schön," sagte Stefan rasch und rannt« davon. um es so eintragen zu lassen im Standesamtsregister. Er eilte, aber er ging diesen Gang nicht gern, er schämte sich vor dem Beamten, daß er keinen Bater angeben konnte, nur die unverehelicht« Mutter. Die helle Röte stieg ihm in die Sttrn, aber der Beamte legte dem fehlenden Boter weiter keine Bedeutung bei. So was kam öfter vor. Wer weiß übrigens, ob das Kind am Leben bleiben würde? Es hatte ein ganz verschrumpftes alles Gesicht,«in immer schnüffelndes Röschen und lag an der Brust der Mutter wie ein welkes Blatt. Frau Ella, die sich die Bescherung doch auch einmal ansehen kam, prophezeite ihm keine lange Lebens- dauer.„Denk an mich. Stefan, da wird nie nichts draus. So n elender Wurm! Solche Kinder wären am besten gleich beim lieben Gott aufgehoben." „Man kann sie doch nicht erlaufen wie junge Hunde und Katzen." sagte er finster. Und als sie ihren Gedanken noch ausführlicher nachgehen wollte, fuhr er sie an:„Sei still! Ich will nichts mehr davon hören. Mir steht die Sache so schon zum.Hals« raus." Er befand sich in einer üblen Lage. Die Schwester konnte er nicht im Stich lassen, dazu fühlte er sich zu sehr als anständiger Mann: wollte sie auch nicht im Stich lasten, schon im Andenken an seine verstorbene Mutter nicht, die dach auch Olgas Mutter gewesen war— und dann überhaupt. Es lag ihm nun einmal nicht, einen„energischen Schnitt" zu machen, wie Frau Ella es nannte, wenn sie von Leuten, mit denen sie vordem sich ganz gut gestanden hatte, auf einmal nichts mehr wisten wollte. Es fiel ihm recht
Lohn, selbst wenn man bedenkt, daß die Lebensmittel nur etwa ein Drittel der unseren kosten, wogegen freilich Kleidung unerschwinglich teuer ist und Wohnungen im allgemeinen sehr unzureichend sind. Daß es daneben vielleicht fünf bis zehn Prozent Handarbeiter gibt, namentlich Elektrotechniker und Metallarbeiter, die infolge des Mangels an gelernten Kräften bis 400 Mark im Monat verdienen, ist Tatsache: für unsere Frage nicht ausschlaggebend. Und die Geistesarbeiter? Wir haben keinen Zweifel darüber gelassen, daß die j ä m m e r- I ch e Bezahlung der Lehrer, die sie zu Ueberstunden und Nebenbeschäftigungen zwingt, unsere höchste Verwunde- rung erregte, namentlich im Vergleich der Bezahlung der quali- fizierten Arbeiter. Die Erklärung liegt einmal in der Diktatur, die zunächst eine solche der Handarbeiter ist, und dann in der im Augenblick noch stärkeren Notwendigkell, die ökonomische Front aufzubauen. Eine dritte Frage: Wie behauptet sich die Dik- t° t u r. und wird sie sich hatten? Daß sie sich zunächst einmal brutal durchgesetzt hat. wird niemand ihr zum Vorwurf machen, der die Brutalität ihrer Gegner kennt, erst der Zarismus, dann der weißen Generale. Aber auch heute noch liegt ein Schatten über Rußland . Die weißen Generale sind besiegt, eine Jnter- vention vom Ausland kann kein Vernünftiger«.�nehmen, aber die staatliche P o l i z e i, die GPU. , bekämpft immer noch unnachsichtig und geheimnisvoll alles, was ihr anfirevolutio- närer Umtriebe verdächtig scheint. Niemand kann eigentlich Posllioes über sie sagen, oder tut es nicht, selbst wenn er etwas weiß. Aber Tatsache ist, daß mir wiederholt Menschen, mit denen ich zusammenkam, auf die Frage, die ich für harmlos hielt, mit dem eigenartigen Hinweis entgegneten, das seien politische Fragen, auf die sie nicht antworten dürften, ich solle mich an den politischen Vertrauensmann wenden. Tatsache ist auch, daß Leute aus der ehemaligen Bourgeoisie, die heute vollkommen entrechtet ist, soweit man sie nicht unbedingt gebraucht, mir erklärt haben, daß kein Mensch mehr daran denke, gegen die Regierung anzukämpfen, ja. daß sie selbst nur von der Ueberlegenheit des jetzigen Regimes überzeugt seien, daß nur das Restchen der geheimnis- vollen GPU. auf ihnen niederdrückend laste. Eine gewisse Sauerromantik umgibt das Hauptquartier der GPU. , die Lu- bianka in Moskau . Vielleicht gehört das zttm Wesen der Diktatur. Nirgends stärker als in diesem Punkt fühlt man daher den Gegensatz des westeuropäischen, seit der Er- klärung der Menschenrechte doch demokratisch gesinn- t e n Menschen gegen das r u s s i s ch e R e g i m e. Ich hatte das Gefühl, daß wir solch einen Druck nicht ebenso ertragen könnten wie die an den Zarismus gewöhnten Russen! Kurz noch ein Wort zur r e l i g i ö s e n Frage. Man sagte mir, die Kirche habe die Freiheit, sich zu betätigen. Jeder könne ungehindert zur Kirche gehen. Aber natürlich bekämpfe man sie durch rücksichtslose Propaganda. Wir sahen das im Theater, wo einige Kühne sogar zu zischen wagten: wir sahen es in den Klubs mit ihren zahllosen drastischen Plakaten: wir sahen es in ähnlicher Weise in den Schulen: wir sahen es bei Umzügen auf der Straße. Ich war am Sonntag in der riesi - gen Kalljedrale von Kasan und in der Isaakskathedrale in Petersburg , ich war in der berühmtesten Kirche in Tfflis, wohin früher die Gläubigen schon am krähen Morgen kamen, um einen Platz zu erhalten— überall dasselbe Bild prunk- haftesten Gottesdienstes und gähnender Leere. Rur die win- zige Kapelle der iberischen Mutter in Moskau am Kreml gab noch ein Bild aus früherer Zeit: die oerlumpten Bettlerinnen auf den Stufen, drinnen der Pope mll dem Kruzifix, das er den andrängenden Weibern zum Kusse reichte!— Wo ist die Religiosität hingekommen? Geht man ein Stückchen weiter an der Kremlmauer entlang, so kommt man zu dem Mau- soleum Lenins . Der einfache Bau umschließt das teiligtum des neuen Rußland , den mumifizierten Körper enins, an besten Glassarg zwei Rotgardisten die Ehren- wache halten. Die Gläubigkeit der russischen Seele wird auf diesen neuen Wallfahrtsort hingeleitet, von dem wieder Ströme der Begeisterung sich durch ganz Rußland ergießen.
schwer, jetzt gerade zur Weihnachtszeit, in der sich doch jeder verausgabt Hot, noch Geld für die Schwester hergeben zu müsien. Aber Frau Lehmann verlangte ihre Bezahlung für Kost und Logis und sonstige Hilfe. Gott sei Dank, daß man wenigstens keinen Arzt gebraucht hatte, es war alles ganz glatt gegangen. Aber es kamen noch allerlei sonstige Aus- Siben, Olga hatte eben nichts, gar nichts für das Kind. Ein lück, daß sie geschickt war und eigentlich aus nichts etwas machen konnte: sie saß jetzt schon im Bett« auf und häkette aus aufgeriffelten weißen Baumwvllsttümpfen Jäckchen für die kleine Eva. Sie band ihr schmale Rosabändchen unten um die Aermelchen und zog ihr oben am Hälschen ein ebensolches Bändchen ein. „Wozu das." sagte Frau Willowski. Sic ärgerte sich über die Schwägerin und nannte dos Putzsucht, was doch nur die Freude einer Mutter war, ihr Kind zu schmücken. Frau Ella war auch der Ansicht, daß armen Leuten so etwas überhaupt nicht zukommt. .Laß sie doch." sagte Wilkowski.„Sie wird uns schon alles mal wieder zurückerstatten, was wir ihr jetzt vorstrecken müssen." Er glaubte aber daran selber nicht so recht, darum hatte sein Ton auch keine überzeugende Kraft. Frau Ella war sehr skepttsch:„Wiederkriegen? Niemals. Wie soll sie das auch möglich machen?!"— In der muffigen kleinen Hinterstub« war das zuerst noch leer stehend« zweite Bett auch bald besetzt worden. Ein gut angezogener Herr— er trug einen feinen Paletot mit Pelz- tragen und einen steifen Hut— hatte ein Mädchen an- gebracht, das Frau Lehmann wohl schon bekannt sein mußte, denn sie begrüßte es ganz familiär mit einem:„Na, da biste ja, Lenchen!" „Ich bin nämlich schon einmal hier gewesen, vor'nem Jahr— aber da wohnte sie noch in der anderen Wohnung. Wer mär das damals gesagt hätte, daß es mir nun noch mal passieren würde!" Uno das Lenchen genannte Mädchen fing an zu weinen. Es war ein blutjunges Ding. Fast erschrocken sah Olga hinüber zum anderen Bett, nach dem kinderlockigen Kopf, der sich auf den Kissen warf. So schrecklich ihr der Gedanke auch gewesen war, mit noch einer oas Zimmer teilen zu müsien, nicht einmal allen Jammer unbeachtet ausweinen zu können — im Stillen hatte sie immer gehofft, daß ihr das erspart bleiben würde.— dieses Lenchen war ihr weniger furchtbar, als ihr eine andere vielleicht gewesen wäre. (Fortsetzung folgt.)