Nr. 54$ ♦ 42. Jahrgang
J. Seilage ües vorwärts
Zreitag, 2S. November 1925
Zusammentritt öes Staötparlaments. Nur Vereidigung der Stadtverordnete»— und Spektakel der Kommunisten.
Die neu gewählte Berliner Stadtverordnetenver- s a m w. l u n g konnte in ihrer ersten Sitzung, zu der sie gestern zu- sammentrat, nichts weiter tun, als sich durch den Oberbürgermeister vereidigen lassen. Das wußten selbstverständlich auch die Kom- rministen, aber sie gaben vor daß sie den sofortigen Beginn der Arbeiten für möglich hielten. Sie begannen in der ihnen eigenen Art mit der„Arbeit", indem sie sich bemühten, sofort wieder einen Krach zustande zu bringen. Oberbürgermeister Boß, der die neue Stadtoerordneteuversammlung in längerer Rede begrüßte und dabei mit einer gegen die rechte Seite gerichteten merklichen Schärfe auf die den Kommunen feindliche Haltung der pri- votcn Wirtschaft hinwies, wurde in Ruhe angehört. Dem zur Vereidigung der??.? Stadtverordneten erforderlichen zweihundert- fünfundzwnnzigmaligen Händeschütteln, dos dann folgte, unterzog Herr Boß sich mit tapferer Auedauer. Danach übernahm Stadtverordneter Bamberg , der zur Fraktion der Demokraten gehört, als dos an Lebensjahren älteste Mitglied der Versammlung den einstweiligen Vorsitz und erklärte, in Ermangelung einer Tagesordnung könne man die Arbeiten erst in einer nächsten Sitzung aufnehmen. Die Kommunisten forderten sofortige Wahl des Vorstandes und Konstituierung der Versammlung und danach auch schon die Beratung eingegangener Anträge. Als der Vorsitzende das für unmöglich erklärte, erhob sich im Saal bei den Kommunisten lauter Widerspruch und auf der Tri- biine bei den von den Kommunisten zusammengetrommelten Zu- Hörern aufgeregter Lärm. Daß nach der Städteordnung jede Tages- ordnung ein paar Tag« vor der Sitzung in Händen der Stadtver- ordneten sein muß, war den Zuhörern von den sie hinbeordernden Kommunisten nicht gesagt worden. Darum antworteten sie auf die verkündung, daß die Sitzung geschlossen sei, mit neuem Lärm und dem Ruf„Arbeitcroerräter!". Was bekäme die Stadt- verordnetenverfammlung von den Kommunisten und dem sie be- gleitenden Chor zu hören, wenn sie einmal gegen eine Vorschrift der Städteordnung zu handeln sich herausnähme! * Die am 25. Oktober neugewählte Vertretung der Bürgerschaft van Groß-Bcrlin irot gestern um 5 Uhr im großen Sitzungssaals des Berliner Rathauses zum erstenmal zusammen. Fast vollzählig hatten sich die Stadtverordneten eingefunden: am Magistratstische hatte zur Seite des Oberbürgermeisters der Wahlkommisior, Stadtrat Richter, Platz genommen. Um 5 Uhr?0 Minuten nahm Oberbürgermeister Best zu einer Ansprache das Wort, in der er zunächst den beiden inzwischen ver- stordcnen Stadtverordneten Dr. Ki r ch n e r und Walter Worte ehrenden und anerkennenden Gedenkens widmete, die die Ver- sammlung stehend anhörte. Alsdann fuhr der Oberbürgermeister fort: Als ich vor vier Jahren die jetzt abgetretene Versammlung in ihr Ami einführte, wies ich auf die Größe der ihr gestellten Ausgabe, in-hesonder« hinsichllich der Durchführung der neuen Organisation der Verwaltung von Groß-Berlin hin. Nun, innerhalb dieser vier Jahre ist es gelungen, diese Organisation endgültig sestzustellen. Es war eine überaus schwere Zeit, die in diesen Jahren überwunden werden mußte, es war die Zeit der Inflation, wo die Arbeitskraft der gesamten Bevölkeruitg aufs äußerste angespannt war, ohne daß sie auch nur das Alleräußerste zum Leben sich erwerben konnte. Ader wir erreichten trotzalledem die Umstellung, die Stabilisierung, und es isi ein großes Verdienst unserer Verwaltung, daß wir unser« großen städtischen Werke unbeschädigt in die Stabilisierung hinein» bringen konnten. UUr haben erreicht, daß die Betriebe In kurzer Zelt wieder auf die Deine gebracht werden konnten, ja, daß wir in unseren werken vorbildliches lefslen konnte» und darauf können die städtischen Körperschaften besonders stolz fein. Aber auch sanft ist mancherlei erreicht: wir konnten trotz oller Nöte das Vermögen der Stadt, besonders in Grundbesitz, vermehren, wir konnten in allen Verwaltungen kräftige kulturelle Arbeit leisten,
sind auf allen Gebieten der kommunalen Tätigkeit vorwärts ge- kommen.— Auch der neuen Versammlung werden überaus wichtige Aufgaben gestellt werden. Unsere Wirtschast kann nur gedeihen, wenn die Borbedingungen, die sie braucht, in vollstem Um- fange erfüllt werden, und es muß offen ausgesprochen werden, daß sie nicht so erfüllt worden sind, wie es sein sollte. Unser Ver- kehrswese» liegt immer noch sehr im argen: es sehlt ein geschlossenes, ausgebautes Schnellbahnnetz, es fehlt an der Rege- lung der Beziehungen zwischen den Unternehmungen, die dem Verkehr im ganze» dienen sollen: ein großes Ziel, heilte noch in weiter Ferne, einst und hossentlich bald nahe und erreichbar, und dann für Verlin«in großer Segen! Auch auf dem Gebiet der Derwaltungsorganisation bringt unsere Zeit neue Aus- gaben mit zwingender Gewalt an uns heran. Bisher konnten wir die Organisation nur aus der Grundlage des Gesetzes Groß-Berlin vom 27. April I92t1 ausbauen: der Druck der Finanz- und anderer Nöte wird und muß zu neuen gesetzlichen Grundlagen führen, aus denen wir unsere Verwaltung mit größerer Sparsamkeit ausbauen können.— Die übrcus schwierige Wirtschaitslage hat kaum ein Teil des Staates stärker zu verspüren als unsere Stadt Berlin , die Stadt der eifrigsten Arbeit, das Zentrum des Handels und der Industrie. Die Arbeitslosigkeit wächst, die Krankenhäuser find überfüllt. der Gesundheitszustand der noch größtenteils verelendeten Bevölke- rung gibt zu den größten Besorgnissen Zlnlaß. Fast täglich erfolgt die Schließung weiterer Betriebe, und wir sehen kein Mittel, da» in kürzester Frist Abhilfe verspräche. Anderseits hat die Finanz- Politik in Reich und Staat nicht nur an unseren Einnahmen wesent. liche Einschränkungen zur Folge gehabt, sondern uns auch höher« Lasten auferlegt. Die private Wirtschaft hat nicht erkannt, auf welchen Grundlagen die hohen Steuerlasten, über die sie sich beklagt, sich ausgebaut haben: sie sucht die Ursachen in einer Verschwendungssucht der Gemeinden, besonders der größeren, sie will den Gemeinden Geld wegnehmen und ihnen neue Ausgaben auferlegen, ohne zu bedenken, daß in dem Augenblicke, wo Feh!« betröge entstehen, diese wiederum durch Steuern eingebracht werden muffen, die legten Endes doch wieder die Wirtschaft ausbringen muß. Die im Reich und Staat unker dem Druck der Privaiwirlschasl betriebene Politik werden wir hier in den nächsten Wochen aus» bitterste zu empfinden haben und dann mögen sich diejenigen nicht beklagen, die im Grunde ge- nommen, die Schuld daran tragen, daß wir in kurzem unsere Steuern wesentlich werden erhöhen müsl«n(Be- wegung.) Es wird unsere Aufgabe sein, alles daranzusetzen, um diesen Steuerdruck aus ein geringstes Maß herabzusetzen: und das wird die Ausgabe oller Mitglieder sein, denn welcher Partei immer der einzelne auch angehören mag, der Zusammenbruch trifft all« gleichmäßig. Di« Grundlagen für dies« Abwehrbestrebungen müssen in der Gesetzgebung namentlich durch Aenderung des Gesetzes Groß- Berlin gefunden werden.— Nicht mit pessimistischen Gefühlen soll man hineingehen in«ine große Arbeit, wie sie Ihnen bevorsteht. Ich bin überzeugt, daß auch in der neuen Versammlung die Inter- essen unserer Großstadtbevölkerung in vollstem Umfang« werden gewahrt werden: wie immer die Parteien sich orientieren mögen, an der Spitze wird immer der eine große Gesichtspunkt stehen: Für unsere Stadt Berlin ! sLebhastcr Beifall.) Hierauf erfolgt durch den Stadtrat Richter der N a m e n s a u f. ruf der Mitglieder in alphabetischer Reihenfolge: die Aufgerusenen treten an den Oberbürgermeister heran und werden von diesem durch Handschlag verpflichtet, ihr Amt nach Pflicht und Gewissen zu verschon.' Daraus erklärt der Oberbürgermeister: Ich habe nunmehr die Ehre, Sie in Ihr Amt einzuführen, und bitte Sie, Ihre Plätze einzunehmen. Stadtverordneier Bamberg übernimmt als Alter spräsi- d e n t(1346 geboren) den Vorsitz, eröffnet die Sitzung und beruft zu Beisitzern die Stadtverordneten Flatan(Soz.), Schalldach(D. Äp.). Goß(Komm.) und Dr. Falß(Dnat.). Er begrüßt die Versammlung und spricht die Hoffnung aus, daß sie wie alle ihre Vorgängerinnen ihre Pflicht erfüllen und daß ihr die Erfüllung dieser Pflicht«in außerordentliches Vergnügen machen wird(Heiterkeit� und Zu» stimmung). Er schlägt dann vor, die konstituierend« Sitzung am
nächsten Donnerstag abzuhalten. Ein zur Geschäftsordnung van dem Kommunisten Göbel eingebrachter Antrag nahm den im Eingang des Berichtes bereits geschilderten Verlaus. Schluß.'/»? Uhr. Der Arbeitsplan der Stadtoervrdaeievversammlung. Unmittelbar nach der gestrigen Sitzung fand unter der Leitung des Stadtverordnetenvorstchcrs Gen. Haß eine Besprechung der Fraktionsführer statt. Nach dem Ergebnis dieser Ver- Handlungen wird sich der Arbeltsplan der Stadtverordnetenver- sammlung folgendermaßen gestalten: In der nächsten Sitzung er- folgt zunächst die Wahl des Präsidiums. Im Änschluß daran die Wahl eines 17 köpf! gen Ausschusses zur Nach- prüiung der Stadtverordnetenwahlen und die Wahl des Haushalts- ousschusses. Dieser Wahlgnng ward dazu benutzt werden, um den Schlüssel für die Wahl aller übrigen ständigen Ausschüsse- und Der- waltungsdeputatlonen zu finden. Die Besetzung der Deputationen selbst wird auf Grund des Schlüsseis in der nächsten Sitzung am 1. �Dezember erfolgen. Hier wird auch der Ausschuß zur Nach- Prüfung der Wahl Bericht erstatten, damit die Stadtverordneten» Versammlung tn der Lage ist, die auf der Stadtliste gewählten Stadtverordneten den Bezirken zuzuweisen. Am 10. Dezember wird unter Leitung des Oberpräfldentrn in einer besonderen Sitzung die Wahl der Mitglieder zum Staatsrat erfolgen und ferner die Wahl der unbesoldeten Stadträte.'Auf die Tagesordnung der nächsten Sitzung sollen außerdem alle bisher eingegangenen Magistratsoorlagen und Anträge gesetzt werden-, um ein"leichteres Arbeiten der Versammlung zu ermöglichen, sollen allerdings nur dl« als besonders dringlich bezeichneten Magistratsoorlagen zur De- Handlung kommen. Die eigentliche Zlrbest der Stadtoerordiictenner- sammlung wird erst acht Tag« später ihren Anfang nehmen. volksparteiltche palastrevowtion� Die Sensation im Berliner Raihaus war gestern abend die Nachricht, daß die Fraktion der Aolkepartei in ihrer ersten Sitzung einen gründlichen Kurswechsel vorgenommen hat. Ihr bisheriger Vorsitzender, der bekannte Landtagsabg. o. E y n c r n, ist als Vorsitzender nicht wiedergewählt worden. An seine Stelle wählte die Fraktion den in Steglitz gewählten Stadt- verordneten Paul Schwarz. Dieser gilt auch bei seinen Gegner» als ein ruhiger, besonnener Mann, der in der Sache und in der Form verbindlich ist und der in seiner ganzen Einstellung sich von seinem Vorgänger dadurch vorteilhaft unterscheidet, daß ihm der doktrinäre, aus rein parteipolitische Auseinandersetzungen gerichtete Zug des Juristen- und Paragraphenreiters fehlt. Die Nichtwieoer- wähl des Herrn v. Eynern ist zweifellos die Quittung dafür, daß er durch seine Politik sehr wesentlich mit an der k a t a st r o p h a- len Wahlniederlage beigetragen hat. Auf anen Seiten des Hauses wurde diese Veränderung ledhasl begrüßt, denn gerade von Eynern hatte durch seine Schulmeistern und durch seinen Doktrinnrismus und durch seinen grenzenlosen Sozialistenhaß verstanden. jede Arbeitsmöglichteit in der Versammlung zu erjchwere». Er war einer der Hauptlrelber der Bürgorblock- Politik und der auf reine Machtpolitik eingestellten Lcstrebungen der Rechten. Offenbar will die Volkspartei durch seine Richtwicder- wahl zu verstehen geben, daß sie eine andere, entgegenkommendere und mehr auf sachliche Arbeit gerichtete Politik zu treiben gedenkt. — Die sozialdemokratische Fraktion kann nur bedauern, daß dieser Umschwung m der Volkspartei nicht eher gekommen ist. Seine Auswirkungen würden dann nachhaltiger sein. Immerhin ist auch dieser Kurswechsel ein Erfolg ihrer rein sachlichen, auf die Förde- rung der städtischen Interessen gerichteten Politik. Dieser Erfolg kam Übrigens gestern In der Sfadtverordnetenoersammlung bereits deutlich zum Ausdruck. Bezeichnend für diese Entwicklung ist die Tatsache, daß d>« Wahl des bisherigen Stadtorrordneteiioorsiehers, des Genossen Haß, wahrscheinlich von allen Frallionen, von den Kommunisten di» zu den Deulschnationalen, e I n sl I m m i g durch Zuruf erfolgen wird.____ Ein großer Dachstuhlbrand war am Donnerstag i» Spandau in der Schönwalder Straße 87 zu löschen, wobei leider zwei De- a m t e der Spandauer Feuerwach« an Nauchvergifmng schwer erkrankten. Zur Löschung bedurfte es vier Schlauch- leitungen von Motorspritzen. Die oberen Geschosse haben stark durch Wasser gelitten. Man vermutet Brandstiftung.
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Die Passion. Romaa von Clara vicbig.
Die Untersuchung dauerte ziemlich lange. Sehr lange, so schien es Olga. Es war ihr sehr unheimlich, daß der Arzt so ewig mit Eoa hinter dem Vorhang blieb, der einen Ab- teil des Raumes verschloß. Die Eckassenheit des jungen Assistenzarztes, dessen Augen übermüdet aus einem blassen Gesicht saben, hatten ihr anfangs die abhanden gekommene Ruhe wiedergegeben. Run kam wieder die vorherige Angst über sie.„Ob es schlimm ist?" flüsterte sie der Schwester zu, die mit großer weißer Schürze, die alles darunter bedeckte, mit der weißen Kopfbedeckung der CharitSkrankcn an einem Glasschrank, der alle möglichen vor Sauberkeit blitzenden In- strumcnte enthielt, sich zu schaffen machte. Diese lächelte ver- trauenerweckend, sagte aber nichts. Endlich, endlich! Der Arzt kam hinter dem Vorhang vor, er hielt die kleine Eva an der Hand.„Ein artiges Kind." sagte er. Und dann strich er die Kleine ganz freundlich übe? den Kopf:„Immer hübsch geduldig, nicht wahr? Es konnte ja nicht schlimm sein, er lächelte! Olga emp- fand da« was sie durchzuckte, als eine freudige Ueberraschung. Wie töricht war sie gewesen, warum hatte sie sich nur so dumm geängstigt?!. Der junge Arzt, dessen hübsches Gesicht ein paar große Narben von Schmissen zeigte, sagte etwas zu der Schwester. die nahm Eoa hierauf an die Hand.„Sie� zeigen dem Kind wohl mal ein bißchen was, Schwester Ei�e..x,.... Er trug in sein Buch ein:„Gcburtsjahr 1894'. Tag. Name?" Er schrieb alles auf. und dann schrieb er noch stumm einiges Weitere. Und dann sah er Olga plötzlich aufmerk- samer an:„Sind Sie gesund?" „Ja." W°mm�s!h?r ihr so forschend-ns Besicht? Es war ihr, als durchbohrte sie sein Blick. Sie fublte daß sie unwillkur- lich errötete. Aber sie war ja doch gesund, ganz gesuyd, das konnte sie wirtlich behaupten.„Ich bin ganz gesund. „Und Ihr Mann?" c<> Es überlief sie heiß und kalt: Pias so-lte sie jetzt sagen. Nein, lügen wollte sie nicht, konnte sie nicht. Den Kopf auf- recht haltend, den Blick, der sich senken wollte, offen �auf ihn richtend, sagte sie tapfer:„Ich habe keinen Mann. Aber
das konnte sie nicht verhindern, daß ihre Farbe dabei wechselte. Aus ihrem Erröten wurde ein tiefes Rot, es schlug ihr wie eine Lohe bis in die Schläfen. Er hatte sie verstanden. Er fragte nicht:„Sind Sie Witwe?" er sagte nur:„Ich meine den Vater des Kindes. War der gesund?" War Manfred Berndorff gesund gewesen? Damals ge- sund gewesen? Ein Zittern lief dem Mädchen durchs Herz, lief ihr durch alle Glieder: was, was hatte Stefan doch ge- sagt, als er von des Vaters Beerdigung nach Haiise kam?! „Der Berndorff soll krank sein, ich habe mich nach ihm er- kundigt— deinetwegen. Was Genaues wissen die Leute ja nicht, aber sie reden, reden. Und was sie reden, ist nicht gerade schön. Scheint ein ganz liederlicher Patron, wird sich wohl was Böses geholt haben. Die arme Mutter!" Nein, nein, das war nicht wahr— Manfred war ganz gesund, war immer gesund gewesen! O Gott, nein, nein, ja. ja, er war gesund! Was sie damals dem Bruder entgegengeschleudert hatte: böswilliger Klatsch— das konnte sie auch jetzt aufrecht- halten— mußte das selber auch glauben. Ja, sie glaubte eo auch! Und sie hob wieder den Kops, und obgleich sie jetzt so tief erblaßt war» wie eben noch hoch errötet, sagte sie mit ruhiger Stimme:„Ja, der war auch gesund." Und nun saß Olga schon seit Wochen in der Arbeitsstube mit dem immer gleich niedergeschlagenen Gesicht. Ihre kleine Eva war n o ch in der Augenklinik der Charit�. Sie hätte sie hundertmal lieber in eine Privatklinik getan, wo sie das Kind täglich, zu jeder Zeit sehen tonnte, nicht wie hier nur einmal in der Woche und Sonntags, aber auch dann nur zur festgesetzten Stunde und nie über die bestimmte Zeit. Doch das war eben unerschwinglich. Die Schielopereation war leicht, die war bald gemacht, aber warum behielt man ihre kleine Eva noch soviel länger da? Was an dem Auge eigentlich war, wußte Olga nicht genau. Die Sehkraft war zurzeit behindert. Bon einer Trübung der Hornhaut sprach die Saalschwester, aber das konnte doch gewiß besser werden, darum wurde sie ja gerade so lange behandest. Und eine Brille mußte sie tragen, well das andere Auge auch etwas schwach war. Natürlich, das wurde eben zu sehr angestrengt. Die Brille sollte stärken. Aber es war doch zu häßlich, ihr kleines Mädchen schon eine Brille! Als Olga ihre Eva zum erstenmal mit der Brille sah, hätte sie am liebsten geweint. Aber das Kind war fröhlich, viel fröhlicher, als es je
in der Alexanderstraße gewesen war. Hier war es nicht gc- duldet, hier war es ein Kind wie die anderen Kinder auch. Nach der Operation hatte Eva lange im Dunkeln liegen müssen, aber sie ertrug das geduldiger, als andere ihres Alters. Wenn sie in ihrem Bett lag und nichts, gar nichts sah, um sie herum eine undurchdringliche Dunkelheit war, dann erzählte sie sich leise mit ihren Fingern etwas. Ihre rechte Hand faßte nach einander die einzelnen Finger der Linken. Der Daumen, dos war die Mutter, die kam zuerst dran: dann kam der Zeigefinger, das war Albert, mit dem slüsterte sie auch vertraut. Dem großen Mittelsinger, dem Onkel, hatte sie schon weniger zu erzählen, dem vierten Finger, der Irma, und dem fünslen, der Grete, noch weniger. Für die Tante Ella war kein Finger mehr übrig. Und dann sprach sie ins Dunkel laut hinein, all das, was sie Albert und Irma abgelauscht hatte, wenn die lernten. Nun wußte sie so viel auswendig: Gescmgbuchöerse, Lieder, lange, lange Gedichte. Wiltowski hatte seiner Frau zu Gefallen die Kinder pro- testanttsch werden lassen, denn brauchten die nicht zur Messe zu laufen, und es paßte zudem mehr nach Berlin : da Alvrrt nun zum Konfirmondenunterricht ging, sagte sich Eva den Katechismus, Fragen und Antworten am Sckrnirchen her. Und dann die biblischen Geschichten, die schönen Biärchen, und wenn die zu Ende waren, dann erfand sie sich selber welche. Damit unterhielt sie sich und andere, die nebenan lagen und der Kinderstimme stundenlang lauschten. Olga wurde ganz stolz, wie beliebt ihre kleine Eva mar.— Als Eva nach acht Wochen die Klinik verließ, weinte sie. Ihr war das alles hier so oertraut. In der letzten Zeil hatte sie hinunter gedurft, auf den Bänken in den umbuschten An- lagen fitzen und da mit der großen Wachsvuppe, die ihr die Mutter gebracht hatte, schön spielen. Es war Früh- ling geworden, ein frühwarmer, es war so herrlich gewesen unter den Büschen, die grüne Blättchen trieben: es stand auch ein Kastanienbaum da, der hatte dicke braunglänzende Knospen. Jeden Tag sah Eva nach, ob nicht schon eine der braunlackierten aufgeplatzt war. Dann stand sie hinauf- guckend mit hochgerecktcm Köpfchen und hielt noch die Hand schützend über die schützende Brille. Und Amseln kamen und pickten im Gebüsch, und einmal hörte die kleine Eva eine von ihnen singen. Das vergaß sie nie. „Auf Wiedersehen," sagte die Schwester und streichelie das Gesichtchcn, das nicht frischer und röter geworden war. Und Eva winkte:„Auf Wiedersehen!"— ;(Fortsetzung folgt.)