Abendausgabe
Nr. 54942. Jahrgang Ausgabe B Nr. 272
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Vorwärts
Berliner Volksblatt
10 Pfennig
Freitag
20. November 1925
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Zentralorgan der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands
Luther unterzeichnet und demissioniert.
Erklärungen vor den Parteiführern.
Reichskanzler Dr. Luther empfing heute vormiffag die Bertreter der Parteien. Er teilte ihnen mit, daß das Kabinett nach der Unterzeichnung des Bertrages von Locarno in London dem Reichspräsidenten seine Gesamtdemiffion unterbreiten werde. Die neue Regierung müffe ſo gebildet werden, daß fie auch innerlich zu dem neuen internationalen Bertragswert stehe. Der Reichskanzler bestätigte, daß die beiden Vorschläge, die Verträge zu unterzeichnen und den Eintritt in den Böllerbund vorzubereiten, in einer einzigen
Borlage vereinigt sind.
Am Montag wird zunächst nur der Reichskanzler sprechen, dann wird voraussichtlich die Debaffe beginnen, an der fich auch der Reichsaußenminiffer beteiligen wird.
Die ersten zwei.
Bazille und Schiele für Locarno .
Zu Beginn der heutigen Sigung des Reichstags teilte der Präsident mit, daß der frühere Reichsminister des Innern, Reichstagsabg. Schiele, um einen Urlaub von drei Wochen nachgesucht habe. Zugleich wird bekannt, daß der württembergische Staatspräsident Bazille, der gleichfalls dem Reichstag angehört, sich gestern in der Besprechung der Ministerpräsidenten für die Annahme des Bertrages DON Locarno ausgesprochen hat. Herr Schiele und Herr Bazille sind somit die beiden ersten deutschnationalen Abgeordneten, die sich nicht der Fraktionsdisziplin fügen und nicht gegen Locarno stimmen werden.
Zusammentritt des Reichstags
Nachrufe.
As die Reichstagsfizung um 1 Uhr 15 Minuten vom Reichspräsidenten Löbe eröffnet wurde, war das Haus sehr start besetzt. Nur die hinteren Reihen der deutschnatio. nalen Frattion wiesen eirige üden auf. Genoffe Cobe hielt zunächst eine Rede, in der er der Mitglieder gedachte, bie feit dem Auseinandergehen des Reichstages, Mitte August, verschieden find. Sein Nachruf galt zuerst den noch im August verstorbenen Zentrumsabgeordneten, Ministerialdirektor a. D. Dr. Beusch und Peter Spahn , einem der Senioren des deutschen Parlamentaris mus. Sodann wandte sich Genosse Löbe dem Andenken der in letter
Der Abbau der Militärkontrolle. Walch verläßt Berlin - Gesamtkommiffion nur noch ein Dutzend Köpfe.
Der Sozialdemokratische Prefsedienst meldet:
Der Vorsitzende der Interalliierten Militärkontrollkommission, General Walch, hat der deutschen Militärfommission offiziell die schriftliche Mitteilung vom Abbau der Interalliierten Entwaffnungstommiffion gemacht.
Man nimmt an, daß die noch bestehenden Distriktskommiffionen eingezogen und die zurzeit aus ungefähr noch 70 Köpfen bestehende Gefamttommiffion auf 10 bis 12 Mit glieder verringert werden dürfte.
Unter den Offizieren, die Berlin verlassen, befindet sich auch General Walch selbst.
Die Abwicklung der Delegierten. Koblenz , 20. November.( TU.) Die Kölnische Bolkszeitung" bringt folgende Meldung: Da mit dem 1. Dezember die gesamten Delegationen im besetzten Gebiet aufgelöst werden, beabsichtigt die Rheinlandkommission bei einzelnen Delegationen Abwid. [ ungsstellen einzurichten, die die laufenden Arbeiten zu regeln haben werden. Ueber die Dauer des Bestehenbleibens dieser Abwicklungsstellen ist noch nichts bekannt. Das gesamte Attenmaterial wird später an die Rheinlandfommiffion gelangen, um etwa noch zu erledigende Arbeiten unmittelbar vornehmen zu fönnen. Das bisher auf den Delegationen beschäftigte Personal wird in die Heimat kommen.
Gegenvorschläge der Rechten? Paris , 20. November. ( Eigener Drahtbericht.) Die General. debatte über das Finanzgesetz ist wider Erwarten auch am Donners. tag noch nicht zu Ende geführt worden. Das interessanteste moment war, daß im Namen der Rechten der Abg. Bokanowski erklärte, daß die Rechte bereit sei, Gegenvorschläge einzubringen, falls die Regierung auf die Unterstützung der Sozialisten verzichten werde. Damit hat die Rechte sich selbst entlarvt.
Das neue polnische Kabinett. Roalitionsregierung unter Skrzynskis Führung. Warschau , 20. November. ( Eigener Drahtbericht.) Unter dem Borfig von Minister Strzynifi ift ein koalitionsfabinett gebildet worden, an dem sämtliche Parteien teilnehmen mit Ausnahme der äußersten Rechten und der Kommuniffen. An der Spitze bes Babinetts fteht Strzyujti als Premierminister. Er bleibt
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Umbildung der Regierung im Dezember. Zeit bahingegangenen Mitglieder der sozialdemokratischen Fraktion, Selling, Elise Bartels und Lauffötter, zu. Diesen Nachrufen für die verstorbenen Mitglieder des Hauses fügte Genoffe Löbe unter allgemeiner Aufmerksamkeit noch einige marm empfundene Borte für Hugo Breuß an, einen Mann, der zwar nicht dem Reichstag angehörte, und dessen Verdienste bereits on einer anderen parlamentarischen Stelle ausführlich gewürdigt morden seien, dem aber als dem Schöpfer der Weimarer Reichs. verfaffung ein Ehrenplatz in der Geschichte der Deutschen Republik
gebühre.
Sodann nahm das Haus geschäftliche Mitteilungen entgegen. Bei der Bekanntgabe der Urlaubsgesuche gab es ein allgemeines heiteres Hallo", als die Mitteilung erfolgte, daß sich auch Schiele unter dieefen Urlaubsbedürftigen befindet.
Genosse Hoch brachte danach den nachfolgend abgedruckten Antrag der sozialdemokratischen Frattion hinsichtlich der Erhöhung der Erwerbslosenfürsorge ein, ersuchte diesen Antrag fofort auf die heutige Tagesordnung zu setzen und dem zuständigen Ausschuß ohne Debatte zu überweisen. Kommunistische Abgeordnete schlossen sich diesem Vorschlag an und wünschten seine Ausdehnung auf eigene ähnlich gerichtete Anträge.
Sozialdemokratische Sozialpolitik. Anträge für den Reichstag .
Die Krise.
Was sagen die Unternehmer?
Die Wirtschaftskrise beginnt eine gefährliche Ausdehnung zu nehmen. Nach der letzten statistischen Aufnahme hatte die Anzahl der Hauptunterstützungsempfänger in der Erwerbs lofenfürsorge in der zweiten Oktoberhälfte von 299 000 auf 364 000, alfo um 22 Proz. zugenommen. Da erfahrungsgemäß die Zahl der Erwerbslosen nahezu um das Dreifache größer ist, als die der Hauptunterstüßungsempfänger der Erwerbslosenfürsorge, kann die Zahl der tatsächlich gegen wärtig in Deutschland Erwerbslosen mit rund einer Million angenommen werden.
teigen. Das hängt zunächst mit der Jahreszeit zu Diese Zahl wird in den nächsten Wochen weiter fammen, die einen Rüdgang des Beschäftigungsgrades in der Landwirtschaft und im Baugewerbe mit sich bringt. Die Arbeitslosigkeit meist aber auch alle Anzeichen einer ernst en Wirtschaftsfrife auf.
Diese Wirtschaftsfrise ist eine an der fapitalistischen In der kapitalistischen Produktion gemeffen normale. Produktion sind Wirtschaftstrifen insofern eine normale Er scheinung, als die Steigerung der Produktion infolge der Profitwirtschaft nicht gleichen Schritt hält mit der Steigerung der Kaufkraft der Verbraucher. Dieses zeitweise Ueberangebot an Waren ist eine normale Erscheinung. Daß die deutsche Wirtschaftstrife teine normale Erscheinung ist, geht schon aus der Tatsache hervor, daß sie in ihrem Verlauf durchaus an Deutschland gebunden ist.
Die sozialdemokratische Reichstagsfraktion hat land um sich greifenden Wirtschaftskrise, dann stößt man immer folgenden Antrag eingebracht:
Der Reichstag wolle beschließen:
1. Die Unterstügungen der Ermerbslosen werden in ausreichendem Maße entsprechend der gegenwärtigen Notlage der Erwerbslosen erhöht, den Kurzarbeitern wird eine entsprechende Unterstützung gewährt und die Unterstügungsdauer so weit ver, längert, wie es gegenwärtig notwendig ist.
2. Die Reichsregierung wird aufgefordert, größere Mittel für haupt für alle zweckmäßigen Maßnahmen der produktiven Erwerbs. die Beschaffung von Arbeitsgelegenheit sowie über lofenfürsorge zur Verfügung zu stellen und dafür zu forgen, daß alle Nemter im Reich, in den Ländern und Gemeinden in diesen Angelegenheiten aufs engste zufammenarbeiten.
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Die Fraktion hat weiter folgende Interpellation eingebracht: Ist die Reichsregierung bereit, dem Reichstag alsbald einen Gefeßentwurf betreffend die Ratifizierung des Washing toner blommens über den Achtstundentag vorzulegen? weiter Miniffer des Aeußeren. Das Kriegsministerium bleibt unbesetzt. Stezynffi hat die Einwilligung der Partelen wie auch die Ministerliste heute um 5 Uhr morgens dem Staatspräsidenten präfentiert.
Außenpolitisch bedeutet das neue Kabinett einen Erfolg von Strzynfti und die Feftigung von Locarno , innenpolitifch hofft man von ihm wirtschaftliche und finanzielle Sanierung und innere Konfolidierung.
Skrzynskis Ministerliste.
Warschau , 20. November.( TU.) Graf Strzynski hat heute abend dem Bräsidenten der Republit feine Miniſterliste überreicht. Hier nach würde sich die Regierung folgendermaßen zusammenfeßen: Ministerpräsident und Außenminister: Strzynfti. Finanzminister: Der stellvertretende Minister Marlowsti( an Stelle des ausgeschiedenen Grabffi). Innenminister: Raczlemicz( bisheriger Minister). Justiz: Zichlinsti( bisheriger Minister).
Untersucht man die Ursachen der gegenwärtig in Deutschwieder auf die Wirtschaftsfünden des Unternehmertums während der letzten zehn Jahre, ganz besich z. B. gegenwärtig in Frarfreich ein wesentlicher Teil der sonders aber während der Inflationszeit. Während bürgerlichen Parteien ernsthaft bemüht, die Inflation abzustoppen, haben in Deutschland die bürgerlichen Parteien unter dem Druck der sogenannten Wirtschaftskreise, d. h. der führen hen Schichten des Unternehmernums die Stabilisierung der Währung mit allen Mitteln fabotiert.
bedacht, mur darauf bedacht, private Reichtümer zu sammeln, Nur auf den eigenen turzsichtigen Profit hat das Unternehmertum in Deutschland unsere Wirtschaft ruiniert. Mit Hilfe der Inflation hat man den städtischen Mittelstand und die Sparer enteignet, die Löhne der Arbeiterschaft entwertet und sie ihrer in der Sozialversicherung aufgespeicherten Spargroschen beraubt. Diese Reichtümer, soweit fie nicht durch Warenverschleuderung an das Ausland verpulvert wurden, sind in sogenannte Sachwerte angelegt worden. Die Banken haben gebaut und Filialen gegründet, die Induftrieunternehmungen haben ihre Anlagen vergrößert und wahllos aufgekauft, was mur irgend zu laufen war. Man hat diesem Auftauf den schönen Namen der bertitalen Kon zentration" beigelegt, die man durch die aufgekaufte Breffe in den höchsten Tönen verhimmeln ließ.
Als die Marf verschwunden war und die Stabilisierung nicht mehr vermieden werden konnte, versuchte man die Raubbaupolitit der Inflation in die Stabilisierung hinüberzuretten. Es war ein alltäglicher Trid gewesen, während der Inflation Kredite aufzunehmen, mit diesen Krediten alle möglichen Sach werte zu faufen, und die Schulden mit entwerteter Währung zurückzuzahlen. Diese Schulbenwirtschaft wurde fortgefegt. Zu den hohen Untoften, die die vergrößerten Anlagen, bie nur zum Teil ausgenutzt werden fonnten, verursachten, tamen noch die immer brüdender werdenden hohen Bant zinsen. Auch die Aufnahme von Krediten im Auslande tonnte an der Sachlage deswegen nichts bessern, weil man sich
Kultus: Stellvertretender Minister Inpuschanski( an Stelle des gegen die Notwendigkeit des Abbaues und Umbaues des aufausgeschiedenen Bruders Grabfti).
Berkehrsminister: Pyschka( bisheriger Minister). Arbeitsminister: Stellvertretender Minister Rybczinsti( an Stelle des ausgeschiedenen Ministers Sofal). Kriegsminister: Stellvertretender Minister General Maiewsti ( an Stelle des ausgeschiedenen Giforsti).
Kraffin lehnt ab, nach London zu reifen. Kraffin hat vorerst abgelehnt, nach London zurückzukehren, da radikale Wirtschaftskreise nach eingehenden Verhandlungen mit Kraffin ablehnten, England weitere Konzeffionen zu gewähren. Im Zusammenhang damit wer. den die ruffisch- englischen Verhandlungen in der nächsten Zukunft entgegen den Erwartungen nicht wieder aufgenommen.
Ein Locarno - Telegramm Hindenburgs. Nach einem amtlichen englischen Funtspruch hot Reichspräsident von Hindenburg durch Staatssetretär Meißner an den Vorfigenden des Bantetts, bas ar Weekend der Presseklub zu Ehren der Botschafter gegeben hat, ein Telegramm gefandi, in dem er den Wunsch ausspricht, daß der neue Geist gegenseitiger Schägung und Hochachtung, wie er in Locarno geboten worden sei, zur Berständigung der Völker beitragen möge. Diefen neuen Geist zu verbreiten, sei ebenso hohe als eble Aufgabe der Pressc.
Einigung bei der Straßenbahn. Allgemeine Lohnzulage.
Die Cohnverhandlungen bei der Straßenbahn wurden heute zum Abschluß gebracht. Es wird allgemein eine Stundenlohnzu. lage von 3 Pf. gewährt und für die Schaffner und Fahrer, fowle für die Betriebshandwerker der bisherigen Cohnftaffel eine weitere Stufe aufgefeht. Die Regelung wird bis zum 31. März 1926 gelten. Die Erklärungsfrist läuft bis zum 26. November mittags.
geblähten Wirtschaftsförpers mehrte.
Das Unternehmertum widerstrebte aber nicht allein der notwendigen Umstellung der Betriebswirtschaft. Es wehrte sich auch mit Händen und Füßen insofern gegen eine Gefun dung unserer Wirtschaft, indem es alle Machtmittel in Bewegung fezte, um sich gegen die Steigerung ber Kauftraft der Arbeiterlöhne zu wehren. Gleichdeitig ging das Industrieunternehmertum ein Bündnis ein mit den Agrariern, um eine Schutzollpolitik einzu führen, ohne zu merken, daß fie damit auch den Absatz im Auslande erschweren. Heute sind es nicht allein die kleinen und großen Stinnes' der Inflation, es find alte, gut fundierte Unternehmungen, Die bontrott machen. Und zwar machen auch sie bankrott, weil fie genau so wie die Inflationsgewinnler sich an Sachwerten überfressen haben. Wenn die Masse der unteren und mittleren Beamten, der Angestellten und Arbeiter nicht in der Lage ist, die von dem bestehenden Produktions apparat herstellbaren Waren zu kaufen, wenn zur Unterhaltung der brachliegenden Wirtschaftsanlagen Schulben gemacht merden müssen, die eine schmere 3insenlast bedeuten, dann muß auch beim größten Warenhunger eine Wirtschaftstrife eintreten.
Bor den Folgen der Inflationssünden des Unternehmertums ist von den Gewerkschaften und der Sozialdemokratie ebenso oft mie vergebens gewarnt worden. Man follte nun annehmen, daß die führenden Unternehmerkreise, die die Hauptschuld tragen an dieser verhängnisvollen Inflationspolitit, nunmehr sich zufammentun und einen Ausweg suchen. Wo sind die Spizenorganisationen der deutschen Unternehmer, wo ist das Wirtschaftsprogramm der Bereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände und des Reichs