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Irektag 27. November 1925

Unterhaltung unö Wissen

Vellage üss vorwärts

?m Ural brennt ein Dorf. Von Heinz Liepmann . Vom Ural herunter keucht ein eisiger Wind. Kahle Aeste greifen in die nüchterne Sphäre. Gestorbenes Land, gedüngt mit Blut und dennoch unfruchtbar. Braune Gräser hier und da welken im wogenden Wind. Einsame Fläche, wo der Horizont sich nach allen Seiten schwarz und finster über die gleiche Steppe neigt. Alles ist leer, und da plötzlich teilt sich der Horizont und macht Platz für einen, der da kommt, für einen Zweiten, für zehn, und dann quillt es über die Grenze von Himmel und Erde in die Steppe: Zwanzig, fünfzig, hundert.... Das find Menschen, Menschen wie ich und wie du. Sie aber wanken, kriechen mit müden, stumpfen Gesichtern vorwärts, vor- wärts.... Und Fjedor Jwitsch geht mitten zwischen den anderen. Die Schritte laufen unbewußt in müdem Takt. Im endlosen Schreiten, im Ebenklang der gleichen, dumpfen Bewegung versinkt vor den Wandernden die braune weite Steppe. Und sie träumen: Da ist ein Dorf in den Bergen. Kleine gelbe Häuser mit Dächern aus Stroh. Im Schlamm der Straße lärmen die Schweine und Ziegen um die Wette mit Väterchen Jnkoff, der heute wie immer betrunken ist. Aus der offenen Tür der Sakristei hört man den Popen murmeln. Und da gehen zwei, und da geht einer, und die wunderhübsche Ilonja Popoff beesucht ihr Väterchen Ladislaw, und alles ist so gemütlich und dreckig und schön eben wie immer. Und da, eines Tages heilige Mutter von Kichinew, was ist das? Da kommen Fremde, Reiter, Kosaken, so viele, o, so viele! Und die schreien: Wodka, und die schreien: Weiber, und reiten über den atten Jnkoff im Straßenkot hinweg. Was ist das! Was ist dos! Sie setzen sich in die Schenke, trinken all den guten Wodka und den Arasch und den Schnaps. Da kommt Väterchen Jwanofs, der Wirt:.Väterchen," sogt er zu dem Anführer der Kosaken , .Bäterchen, der Wodka kostet soviel und der Arosch soviel..." Da hat der Anführer gelacht..Hängt ihn an den Beinen aus!" hat er geschrien, und da haben ihn die Teufel wirklich an der eigenen Tür aufgehängt. Er hat die ganze Nacht geschrien heilige Mutter von Kichinew aber es hat sich keiner getraut, aus seinem Haus herauszukommen und den Armen zu erlösen, denn die Kosaken liefen durch das Dorf.... Da ist Väterchen Popoff, der Dorfschulze, ich werde sechs Messen für ihn lesen lassen, zu dem Anführer in die Schenke gegangen und hat ihn furchtlos gefragt, was er hier wolle, wie er hieße und hat ihm mit der Polizei gedroht. Und da lachte der Anführer, sagte, daß er Fjedor Jwitsch heiße und er wolle, daß das ganze Dorf der Teufel hole und Polizei gäbe es für ihn nicht mehr und in Petersburg sei Revolution. Und am nächsten Tag« sind sie dann in die Häuser eingefallen und wer sich ihnen entgegensetzte, den haben sie erwürgt und er- schössen: die Mädchen haben sie mit sich geschleppt und dann haben sie die Schenke angezündet, und das Feuer griff auf die anderen Dächer über, daß das ganze Dorf bald einem Meer von Feuer glich. Auf einmal stürmt Väterchen Popoff wie besessen auf Fjedor Jwitsch zu, greift ihn am Arm und schreit:.In meinem Haus, meine Tochter, rette sie! Rette siel Das schönste Mädchen im Ural , rette das Täubchen, Väterchen!..." Er umklammert die Knie des Räubers. Der stößt ihn beiseite, daß Väterchen Popoff wie ein Igel die Straße herunterrollt und dann spingt er in das brennende Haus, nach Ilonja Popoff. Das Haus kracht, Balken stürzen in sich zusammen, daß die Fun- ken in die Lust bersten, es vergehen Minuten, die gleich Jahren zählen es kracht der letzte Balken, da der Räuber Fjedor Jwitsch kommt das Haus bricht zusammen, er trägt sie auf den Armen, und er sieht nur sie, lächelt: er lächett sie an. er, der Räuber. wie ein großes Kind. Ja, und dann haben sie alle um die ausgebrannten Häuser ge- standen, und die Kosaken wurden allmählich nüchtern und kleinlaut und einer nach dem anderen ist gegangen und hat sich aufs Pferd gesetzt und ist fortgeritten, fort, wer weiß wohin, irgendwohin. Nur Fjedor Jwitsch ist geblieben. Wir haben ihn nicht tot- geschlagen, denn er hat Tag und Nacht am Krankenlager von der schönen Ilonja gesessen und hat kein Auge von ihr gelassen. Dann haben wir beschlossen, westwärts zu wandern, durch die große weite Steppe von Kichinew bis in eine andere und fruchtbare Gegend, und wir sind ausgebrochen. Am dritten Tage unserer Reise, da hat der Räuber uns allen weinend die Füße geküßt und wir haben ihm erlaubt, mit uns zu wandern, da er die schöne Ilonja Popoff heiraten wollte. Gewandert, gewandert, gewandert. Laufen wir fünf Tage oder fünfzig? Ich weiß es nicht, heilige Mutter von Kichinew. hilf, hilf, hilf!.... ich weiß nichts mehr. Das ist die Geschichte des Dorfes Michailow im mittleren Ural . Einer nach dem andern ist liegen geblieben in der weiten braunen Steppe und viel später hat man ihre toten Leiber gefunden. Nur den Leib Fjedor Iwitschs und Ilonjas hat man niemals entdeckt. Die heilige Jungfrau sei ihm gnädig! Und die Hirten bei der Stadt Kichinew, die singen, wenn sie nachts um die großen, schwelenden Feuer herumliegen, die Ge- schichte noch einer alten, leisen, monotonen Melodie, und wenn sie fertig sind mit der Geschichte, dann schweigen sie. blicken scheu um sich In die schwaize Nacht, räuspern sich, und dann flüstert wohl manchmal einer dem anderen zu: die hat der Teufel geholt!

/Imeise Mensch. Von LeopoldLoeste. Schlägt man ein illustriertes Blatt auf. so stößt man auf Ab- bildungen von Wolkenkratzern. Man hat dafür jetzt den Edel- namenHochhäuser" erfunden. In der Linienführung solcher Bauten kann zweifellos Edles liegen. Sie werden aber nicht wegen des Adels der Architektonik gebaut, sondern um Menschen regt» menterwelse darin arbeiten zu lassen. Und alle Pracht und Kühn- heit dieser Turmhäuser kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß Zwischen ihnen und den Bauten der Ameisen und Termiten kein Unterschied des Wesens mehr besteht. Denn dieses besteht hier w>e dort in der Kasernierung von Lebewesen. Um den Begriff der Kultur für die explosionsartig um sich greifenden Fortschritt und Erfindungen zu retten, bat man das Wort vom Zeitalter derMaschinenkullur" erfunden. Man soll aber Zivilisation und Kultur nicht verwechseln! Wir werden immer zivillsierter, während unsere Kultur auf dem Wege über Giftgas-

... und dies Stück verlangen wir Fürsten als Entschädigung�

bomben und ähnlich« Gaben sich erfolgreich rückwärts konzentriert. Die an sich wunderbaren und zivilisatorisch nicht zu verachtenden Erfindungen der jüngsten Zeit haben mit Kultur so wenig zu tun, wie etwa die Schreibmaschine damit zu tun hat. Man kann mit oer Maschine sehr zivilisierte, aber keine kultivierten Briefe schreiben, wie jeder bestätigen wird, der viel mit der Maschine zu arbeiten hat. Man kann in der Hütte ein kultivierter Bettler und im Palast ein zivilisierter Banause sein. Man kann sich alle sieben Weisen Griechenlands in einer Tonne vorstellen, aber nicht einen von ihnen im Wolkenkratzerl Denn diese Gebilde, echte Kinder derMa- schinen-Zivilisation", sind der Tod der Kultur! Die Ameise hat ihre und ihrer Bauten Entwicklung längst voll- endet und fühlt sich wohl dabei. Der Mensch aber hat vor ihr un- glücklicherweise 1300 Kubikzentimeter Gehirn voraus, und es gibt daher keine Erfindung und keine Torheit, deren er nicht fähig wäre. Schon liest man Klagen darüber, daß andere deutsche Städte Berlin mit Hochhäusern zuvorgekommen seien, daß Berlin sich also nicht rasch genug von kultureller Lebensweise entferne. Man kann den Zeitpunkt nicht erwarten, wo die Straße Unter den Linden beiderseits von ragenden Ungetümen flankiert sein wird. Man denkt natürlich nicht an die batterienfördernde, gesundheitshemmende Ausschaltung des Sonnenlichtes, das diese Tünne sich gegenseitig und ihrer Umgebung fortnehmen werden. Und man denkt an vieles andere nicht! Die Geschichte lehrt, daß fast alle großen Kulturen sich in großen Hauptstädten konzentrierten, die immer vor dem Sturze dieser Kulturen ihren höchsten Glanz entfalteten. Das alte Griechen- land, Babylon, Aegypten , Rom , Venedig , selbst Hansastädte, liesern Beispiele. Aber diese Entwicklung, das ameisenhafte Zusammen- drängen der Bevölkerung in große Zentren, scheint nicht aufhaltbar zu sein. Heute hat beispielsweise New Park mehr Fernsprech- anschlllsse als London , Paris , Wien usw. zusammengenommen. Wenn nachmittags die Bureaus schließen, ergießen sich aus den Hochhäusern ungezählte Tausende menschlicher Ameisen in solcher Fülle auf die Straßen, daß der Verkehr für längere Zeit völlig stockt. In den Hauptstraßen schieben sich vier oder fünf Reihen von Automobilen langsam nebeneinander her usw. usw. Wem imponiert dergleichen eigentlich?! Ist das Zivilisation? Ja, Ameisen- Zivilisation! Ist das Kultur? Das genaue Gegenteil davon! Ein untrügliches Kennzeichen der Kultur ist, daß man vor ihr nicht flieht. Jeder noch nicht kullurlofe Großstädter sucht aber wenigstens Sonntags seinen Mauern zu entfliehen. Noch lebt erst die Hälfte der deutschen Bevölkerung in Städten. Aber das Verhältnis verschiebt sich immer mehr zuungunsten des Landes. Es ist ein Verhängnis. Vielleicht«ine innere Notwendig. keit, die alle Kulturen bis zu einem Gipfelpunkte führt, um sie dann absterben und neuen Wettbewerbern Platz machen zu lassen. Aber so lange große Strecken der Erde noch der Nutzbarmachung harren, ist der Bau von Turmhäusern bestimmt keine unvermeidbare Not- wendigkeit. Einzelne können nicht viel schaden, könnten sogar als architektonische Verschönerung des Stadtbildes begrüßt werden. Aber es ist mit Recht zu befürchten, daß sie sich scharenweise aufeinander- folgen und die Menschen zu amerikanisierten Ameisen, zu lebenden Automaten machen werden. Es ist vorauszusehen, daß die Schäd:- gungen, die diese Amerikanisierung im Gefolge haben müßte, durch Sport, das bißchen Siedlungswesen und Laubenkolonien nicht aus- zugleichen wäre, und daß hier ein unbeachtet gebliebenes Problem vorliegt, das man vor lauter Staunen über die rein äußerlich groß- artige Entwicklung von Turmkasernen und Kasernentürmen, also von menschlichen Ameisenhaufen, übersehen hat. Wo bleiben die führenden großen Geister, die sich dieser Rück- wärtserrtwicklung des Menschen zur Ameise entgegenstemmcn?!

Holberg über dieRechte des Frauenzimmers*. Der große dänische Lultspieldichter Ludwig Holberg , dessen Komödien in der Weltliteratur neben denen Matteres stehen, war ein echter Philosoph, der mit scharfem Verstand die Menschen und Sitten beobachtete, die ihm den Stoff für sein« genialen Werke liefern mußten. Er hat em abenleuerreiches Leben geführt und mittellos halb Europa durchwandert, bevor er in seiner Heimat als Professor festen Fuß faßte und zu hohen Ehren gelangte. Seine Lebensbeschreibung trägt ganz den Stempel dieses klaren, geist- reichen und überlegenen Kopfes, und es ist daher mit besonderem Dank zu begrüßen, daß wir jetzt eine deutsch « Neuausgabe seiner Nachricht von meinem Leben" erhalten, die bei der Frankfurter Vcrlagsanstalt erscheint. Unter den vielen Nugen und vorausschauenden Bemerkungen des Buches findet sich auch eine Aeußerung über die Frauen, durch die der Dichter in einer Zeit, in der man noch ernsthaft darüber diskutierte,.ob die Frauenzimmer Menschen seien", fein Vorurteils- loses und fortschrittliches Urteil erweist.Manche glauben," schreibt er,daß ich in meinen Schriften dem weiblichen Geschlecht gar zu sehr geschmeichelt habe: wenn man aber alles, was ich zu seinem Vorteil schrieb, recht untersucht, so wird man finden, daß ich mit Recht seine Partei genommen habe. Es ist deutlich von mir ge- zeigt worden, daß die meisten Fehler, die man diesem Geschlecht bettegt, nicht von der Natur, sondern von der Erziehung berrühren, und daß man die Natur öfters mit der Erziehung verwechselt. Ich habe gezeigt, daß man auch bei den Frauenzimmern männliche Tugenden wahrnehmen würde, wenn man sie auf die gleiche Art wie die Mannspersonen schon von Jugend auf erzöge, und daß die meisten Vorzüge, die sich das männliche Geschlecht anmaßt, chm mehr durch äußerliche Ordnung als durch natürliche Rechte oerliehen worden sind. Endlich habe ich dargetan, daß man mehr aus die Fähigkeit als auf den Namen sehen muß, und daß man allein der Geburt wegen die Frauenzimmer nicht von allen Verrichtungen ausschließen sollte, zu denen Verstand und Nachdenken nötig sind. Es gibt sehr viele Beispiele von fähigen Köpfen unter ihnen, denen es nicht an Geschicklichkeit mangelt, sich in öffentlichen und in ihren eigenen Dingen mit Ruhm zu zeigen. Wenn ich dies alles sage, so schmeichele ich damit den Frauenzimmern nicht, sondern ich halte nur das männliche und das weibliche Geschlecht gleich hoch, ohne dem einen oder dem anderen einen Vorzug einzuräumen. Wenn ich merke, daß die Schwester besser schweigen kann als der Bruder, so vertraue ich ihr und nicht ihm mein Geheimnis. Wenn ich wahr- nehme, daß ein Frauenzimmer geschickter ist, dieses oder jenes aus- zurichten, als eine Mannsperson, so ziehe ich sie mit Recht vor. Man kann den nicht der Heuchelei und Schmeichelei beschuldigen, der jedem beilegt, was ihm zukommt Weit eher verdienen die den Nomen von Heuchlern, die stets sich selbst und ihr Geschlecht erheben und das weibliche Geschlecht, das sich nicht verteidigen kann, an- greisen und schmähen. Die meisten Leute fallen zwar zu der Partei, die gesiegt hat, ich aber trete viel lieber zu denen, die überwunden und' unterdrückt werden. Das erste ist das Sicherste, das andere aber das Anständigste. Darum verteidige ich die Rechte des Frauen­zimmers."__ Rückgang der Säuglingssterblichkeit. Die immer mehr durch- geführte Belehrung der Mütter, das Selbststillen, der Geburtenrück­gang an sich, der es den Müttern ermöglicht, sich dem einzelnen Kinde mehr zu widmen, vielleicht auch die Zunahme der Entbindun- gen in den Anstallen, sind im wesentlichen wohl die Faktoren, die einen Rückgang der Säuglingssterblichkeit bewirkten, von 19 Proz der Sterblichkeit im ersten Lebensjahr in den Iahren 1901 bis 1905 auf 13 Proz. im Jahre 1923. Immerhin ist die Säuglings- sterblichkeit in Deutschland noch höher als z. B. in England, wo sie 7 bis 10 Proz. betrug, in Frankreich , wo sie 10 Proz. und in Schweden , wo sie nur 7 Proz. ausmachte. Es muß also in Deulsch- land ermöglicht werden, durch weitere Fürsorge, durch intensivere Be- folgung ärztlicher Ratschläge und Anordnungen, diesen Stand anderer Länder mindestens auch zu erreichen