Abendausgabe
Nr. 57942. Jahrgang Ausgabe B Nr. 287
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10 Pfennig
Dienstag
8. Dezember 1925
Vorwärts=
Berliner Volksblatt
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Zentralorgan der Sozialdemokratifchen Partei Deutschlands
Hungerdemonstration der Beamten.
Schnelle Hilfe für die unteren Besoldungsgruppen!
Heute abend werden sich zehntausende und aber Man sieht, die an der Quelle wußten für sich zu sorgen. Bom zehntausende Beamten der Besoldungsgruppen 1. Dezember 1924 gab es zu diesen Grundgehältern für die Gruppen 1 bis 6 auf dem Gendarmenmarkt versammeln, um gegen das Be 1 bis 6 Zuschläge von 12% Prozent, und für die darüber liegenden foldungsunrecht laut und vor aller Deffentlichkeit Pretest Gruppen von 10 Prozent. Dazu kommen Wohnungsgeldzuschuß, zu erheben. Die Bewegung, die vom Allgemeinen Deutschen Be- der unten 37 bis 50, oben aber 100 bis 150 m. ausmacht, der Frauenamtenbund eingeleitet wurde und ber fich die Soziale Arbeits zuschlag von 12 M. und der Kinderzuschlag von 20 m. monatlich. gemeinschaft der Beamten der Besoldungsgruppen 1 bis 6 im Seither ist trotz aller Versprechen der bürgerlichen Parteien vor Deutschen Beamtenbund und die Gewerkschaft Deutscher Lokomotiv- und nach den Wahlen nichts geschehen, weder um die führer angeschlossen haben, wird die eindrudvollste Demon. stration werden, die die Berliner Beamtenschaft bisher veran staltet hat.
Gewiß stellt die Not der Beamten nur einen
Teil der allgemeinen Not unferes Bolles
dar; gewiß sind Forderungen der Beamten im Augenblick finkender Konjunktur und ständigen Steigens der Erwerbslosenziffern ivenig populär, doch trotz allem wäre es ungerecht, fich diesen For. derungen verschließen wollen, wenn sie gerechtfertigt sind und ihre Erfüllung möglich ist. Und grundfalsch ist es, die Erwerbslejen gegen die Beamten und diese gegen die Erwerbslofen auszuspielen. Es muß vielmehr beiden geholfen werden.
leber die Beamtenschaft ist die Geißel des rücksichtsloser Abbaues niedergesauft. Die jezt vorhanden sind, haben ihr gerüttelt Maß Arbeit. Man fehe sich einmal die Dienstpläne der Eisenbahner. der Bostler, der Schupo ufw. an. Niemand wird danach behaupten wollen, daß diefe Menschen nicht mie jeber andere im Broduktionsprozeß stehende Arbeiter voll ihre Pflicht, und zwar ihre
fchwere Pflicht an der Algemeinhelt erfüllen.
Gonz besonders trifft dies für die unteren und mittleren Besoldungsgruppen zu, die unter der wirtschaftlichen Not am allermeisten zu leiden haben. Man darf auch nicht vergessen, daß die Eisenbahner und Boftler und auch Beamte anderer Behörden bie Mittel für ihre Besoldung und darüber hinaus für finanzielle Boltslaften selbst erarbeiten, dem Steuerzahler also nicht auf der Tasche liegen. Und schließlich fann fein geordnetes Staatswesen, ganz gleich welcher Form und Gattung, ohne einen Stab von in feinem Dienst ausgebildeten Menschen bestehen. Diese Leute aber nicht hungern zu laffen, liegt im ureigensten Interesse des Staates.
Geht man nun einmal der Ursache der gegenwärtigen Zuspigung der Verhältnisse nach, so tann man feststellen, daß die verfehlte Finanz- und Steuerpolitik des deutsch nationalen Reichsfinanzministers v. Schlieben es glüdlich foweit gebracht hat. Vom 1. April 1924 ab erhielt der Beamte der Gruppe III an Grundgehalt 822 bis 1092 m., Gruppe V 1104 bis 1470 m., Gruppe X 2550 bis 3390 m. und XIII 4200 bis 5610 m. jährlich. Am 1. Juni 1924 gab es eine Aufbefferung, die unten 17 und oben 71 Proz. betrug. Es erhielten an Grundgehalt: Gruppen III 960 bis 1080 M., Gruppe V 1296 bis 1824 m., Gruppe X 3600 bis 5400 M. und XIII 6300 bis 9600 m.
Sozialdemokratischer Parteiausschuß.
Der Parteiausschuß der Sozialdemokratischen Partei trat heute vormittag 9 Uhr zu einer Besprechung der politischen Lage zusammen. An ein Referat des Genoffen Hermann Müller schloß fich eine ausführliche Debatte, die noch im Gange ist.
außerordentliche Bevorzugung der höheren Beamten auszugleichen, noch um einen Angleich an die fortscheitende Teue. rung und die erhöhten Reichsarbeiterlöhne zu schaffen.
Es versteht sich von selbst, daß im Augenblick an eine Be soldungsreform", etwa im Sinne einer wirklich gerechten Entlohnung und Einstufung für geleistete Arbeit nicht zu denken ist. Dazu ist die allgemeine Not zu groß. Das verlangen die demonstrierenden Beamten auch nicht. Sie fordern nur, daß ihrer Not, die durch die erzwungene Betfchuldung noch erheblich gesteigert wird, durch eine Notmaßnahme wenigftens in etwas gesteuert wird.
G
Sie haben felbft teine bestimmten Forderungen aufgestellt, sondern sie haben sich, wie das ganze Jahr 1925 hindurch, hinter den Antrag gestellt, den die sozialdemokratische Reichs tagsfrattion im vollen Bewußtsein ihrer Berantwortung gegenüber der Allgemeinheit für sie aufgestellt hat. Der Antrag ging im Frühjahr dieses Jahres dahin, den 3uschlag zu den Grundgehältern für die Gruppen I bis VII von 12% auf 20 Proz., also um 7% Proa. zu erhöhen. Es gab im Reichstag niemand, der diesen Antrag als Agitationsantrag oder als undurch führbar angesprochen hätte. Trotzdem wurde er von dem Reichs fabinett unter dem Druck des Herrn v. Schlieben und von den da maligen Regierungsparteien abgelehnt. Diese Ablehnung ist die Ursache des heutigen maßlofen Elends. Diese Leute tragen auch die Berantwortung dafür, wenn es heute faft unmöglich ist, so zu helfen, wie die Not es erfordert.
Bei Beginn der jetzigen Reichstagstagung hat die Sozialdemofratie verlangt, den 3uschlag zu den Grundgehältern für die Gruppen 1 bis 6 von 12% auf 20 Broz, alfo um 17% Broz, und für die Gruppen ven 7 bis 9 von 10 auf 20 Broz., alfo um 10 Broz. vom 1. Oktober ab zu erhöhen. Dies ist die Forderung, die sich auch die heutige Demonstration zu eigen machen wird.
Der Haushaltsausschuß des Reichstags wird sich am 9. Dezem ber wieder mit der Besoldungsfrage befaffen. Die Geschäftsregie rung wird ihre Vorschläge machen. Sollte darüber eine Berständt gung nicht zu erzielen sein, so muß vor Weihnachten wenigftens das gemacht werden, was unbestritten ist und von allen Seiten ver. langt und zugestanden wird. Das ist schnelle Hilfe für die Das ist schnelle Hilfe für die Beamten der unteren Besoldungsgruppen. Ueber das andere fann man sich dann nach der Regierungsbildung weiter verständigen.
Wie schon in unserer Sonntagsausgabe bemerkt wurde, zeigen die Sozialdemokraten das offenkundige Bestreben, sich der Regierungsverantwortung zu entziehen, gleichzeitig aber andere für ihre Nichtbeteiligung verantwortlich zu machen. Diese Tattit muß man natürlich vereiteln. Deshalb ist es ganz gut, daß der Reichspräsident sie jetzt vor die Entscheidung gestellt hat. Und es ist durchaus richtig, daß der Fraktionsvorsitzende der Entgegen anders lautenden Meldungen sei feftgestellt, Deutschen Bolkspartei seine grundsäßliche Verhandlungs daß über die Anregung des Reichspräsidenten , eine Große bereitschaft erflärt hat. Die Sozialdemokraten werden jetzt du Koalition von der Sozialdemokratie bis zur Volkspartei zu beweisen haben, ob sie den Appell an den guten Willen zur prat bilden, und über die Forderungen, die die Partei für das Ar- tischen Gemeinschaftsarbeit höher stellen oder ihr Barteiprogramm." beitsprogramm einer solchen Regierungsfoalition anzumelden Die Deutsche Boltspartei hat bisher praktische Gemein hätte, erſt morgen nachmittag in der Reichstagsschaftsarbeit" nach dem Programm der Deutschnationalen be frattion entschieden werden wird. trieben. Die Not der Gemeinschaft fordert die Abkehr von diesem Programm. Die Presse der Deutschen Volkspartei" aber weiß von vornherein, daß jedes Programm der Sozialdemokratena udh wenn sie es gar nicht tennt selbstverständlich nicht in Betracht tommt und ein Berhandeln unmöglich macht. Wie soll also ein gemeinsames Arbeitsprogramm gefunden werden?
Um das Arbeitsprogramm.
Ein Kommentar zur Verhandlungsbereitschaft der
Volkspartei.
Rann es zwischen den Sozialdemokraten und der Deut schen Volkspartei ein gemeinsames Arbeitsprogramm geben? Die Deutsche Boltspartei weiß zwar noch nicht, welche Forderungen die Sozialdemokraten an die fünftige Regierung stellen werden, aber ihre Preffe bezeichnet ein Verhandeln über ein gemeinsames Arbeitsprogramm schon als unmöglich, wenn die Sozialdemokraten dafür ein Programm aufstellen.
Man lieft in der Täglichen Rundschau": ,, Gegenstand der Berhandlungen müßte, mie es auch der Reichs. präsident gefordert hat, die Verständigung über ein gemeinsames Arbeitsprogramm sein. Berhandeln aber ist unmöglich, wenn eine Partei in einseitiger Weise ein Programm aufstellt und ihre Mitarbeit von der Erfüllung ihrer Programmi forderungen abhängig macht."
Ein intereffanter Kommentar zur Berhandlungsbereit. fchaft der Volkspartei!
Keine Wohnungsbeschlagnahme mehr.
Eine Anordnung der franzöfifchen Befehungsbehörde. Wie das Wolff- Bureau härt, hat der Oberbefehlshaber der franzöfifchen Belegungstruppen, General Guillaumat, bem Generaldelegierten der Reichsvermögensverwaltung beim alliierten Oberfemmando in Mainz mitgeteilt, daß er für den französischen Be segungsabschnitt den Befehl erlassen hat, bis zum 1. April kommenden Jahres von jeder Neuanforderung von Räumlich) teiten abzusehen. Die Reichsvermögensverwaltung in Koblenz ist angewiesen worden, auch bei der britischen und belgischen Armee auf den Erlaß eines gleichen Befehls hinzuwirken.
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Der Abschluß der Vornntersuchung im Prozeß Matteotti . Lugano , 6. Dezember.
Im Ausland gilt der Prozeß Matteotti allgemein als der Beweis, daß das politische Leben Italiens sich auf einem andern juristisch- ethischen Breitengrad abspielt, als das der übrigen Kulturvölter. Er ist ein Grund mehr zu jener völligen seelischen Entfremdung, die sich heute italienischem Wesen gegenüber fühlbar macht. Man legt nicht mehr das Maß normaler Zustände an, verzichtet auf den Bergleich mit anderen Ländern, in denen ähnliches nicht denkbar wäre. Gegenüber diesem Standpunkt muß man immer wieder betonen, daß der Prozeß Matteotti wohl Symbol und Synthese des herrschenden Regimes ist, daß er aber von der Mehrheit der dentenden Menschen in Italien genau als so ungeheuerlich und wesensfremd empfunden wird wie im Ausland. Er gehört zu Italien nur soweit, als der Faschismus zu Italien , als eine bösartige Neubildung zum Organismus gehört.
Nachdem es einmal zur Ermordung Matteottis und zum Bekanntwerden des Verbrechens gekommen war, fonnte das herrschende Regime nur eine Taftit haben: die Angeklagten zum Schweigen zu bringen. Dafür gab es zwei Mittel: fie zu beseitigen oder sie freizusprechen. Den Vorschlag der Beseiti gung machte Mussolini sofort in der Kammer: ,, Gebt mir die Bollmacht zur standrechtlichen Juftiz, und sie wird angewandt werden," sagte er wörtlich am 12. Juli. Die Freisprechung brauchte längerer Vorbereitung. Sie ist durch ein inniges Zusammenarbeiten von Voruntersuchung und Amnestie zustande gekommen. Es ist eine Ironie des Schicksals und ein herber geschichtlicher Hohn für das Haus Savoyen , daß der König gerade eine Jubiläums amnestie erlassen mußte. Diese Amnestie vom 31. Juli hat man dann genau den Erfordernissen der Voruntersuchung angepaßt, hat für die wichtigen Persönlichkeiten des Prozesses genau soviel Amnestie erlassen, als die Boruntersuchung an Schuld anerkennen wollte. Die weniger wichtigen Persönlichkeiten vertraut man dann ber Milde der Geschworenen an; Hauptfache ist, daß die, die das Regime fompromittieren fönnen, nicht vor die Assisen kommen. Freilich war auch für Dumini abgemacht worden, daß er nicht lange in Untersuchungshaft bleiben sollte, wie feine Mutter erklärt hat. Aber Leute dieses Kalibers, die gewöhnt find, andere für Geld ins ewige Schweigen zu befördern, haben auch für ihr eigenes Schweigen anehmbare Preise. Jubiläumsamnestie gerade Meuchelmörder zu begnadigen und Man hat es dem König nicht zumuten wollen, zu seiner Mandanten von Meuchelmördern. Darum hat man die Sache in folgender Weise gefingert: Die langfristige Vorbereitung der Tat fonnte man nicht ableugnen. Ohne Vorbereitung findet auch der Faschismus nicht fünf Berbrecher, die einen Menschen auf der Straße überfallen und verschleppen. Außer dem waren die Telegramme, durch die die Verbrecher nach Rom berufen wurden, in den Akten, das Mieten des Autos, die Abberufung des Polizisten, der Matteottis Wohnung bewachte das und zahllose andere Tatsachen ließen die Vorbereitung der Tat handgreiflich zutage treten. Man konnte die Sache beim besten Willen nicht so darstellen, als wäre Matteotti aus Provokation den fünf Faschisten ins Auto gefprungen.
So erkennt das Urteil der Boruntersuchung die lange Vorbereitung an, erkennt den politischen Zwed an, aber stellt die Sache so dar, als bezöge fich all das nur auf eine Freiheitsberaubung, die man gegen den sozialistifchen Abgeordneten geplant hatte. Die Absicht des Presse chefs der Ministerpräsidentschaft Rossi, des Berwalters und Kaffierers der faschistischen Bartei Marinelli, des Chefredakteurs eines Faschistenblattes, Filippelli, soll die ges wesen sein, Matteotti einen Streich zu spielen. Bei aller Furchtbarkeit des Berluftes müssen wir noch dem Schicksal dankbar sein, daß wenigstens dies nicht geglückt ist, daß Matteotti nicht lebend in der Gewalt dieser Schufte blieb, daß fie ihn schnell töten mußten, um ihren Scherz" dann nur mit der Leiche zu treiben. Die Boruntersuchung ist zu der Ueberzeugung gefommen, daß man Matteotti nur übel mitspielen, ihm aber keinen ernsten Schaden zufügen wollte. Darum hatte man Berufsmörder gewählt und hatte sie gut bewaffnet, welche beiden Elemente im Berein den drei Mandanten Ge währ boten, daß sich alles im Rahmen des Scherzes halten würde.
Für diesen Plan hat nun der König seine Amnestie erlaffen. 3weimal gefegnet" nennt Schakespeare die Gnade; ,, fie segnet den, der gibt, den der empfängt"; als zweimal verflucht empfindet diese Gnade das fittliche Bewußtsein der ganzen Mitwelt. Und so scheiden Roffi, Marinelli und Filippelli aus dem Prozeß aus, und nehmen all das mit, was Borbereitung war. Es wird amnestiert, auch für die fünf Ausführer des Verbrechens. Mahrscheinlich wird man von all dieser Borbereitung beim Prozeß überhaupt nicht reben fönnen. Durch dieses Kunststück, den Prozeß in zwei Elemente aufzuspalten, deren eines alles enthält, was Borbe reitung, Absicht, politische Rache ist. und dies zu amnestieren,
Heute, Dienstag, abends 7 Uhr