Nr. 596 ♦ 62. Jahrgang
1. Heilage öes Vorwärts
5re!tag, IS. Dezember 1925
Gestern hat die Stadtverordnetenversammlung die bekannte Notstandsvorlage des Magistrats, die aus den Anträgen der sozialdemokratischen und kommunistischen Fraktionen hervorgegangen ist. verabschiedet. Gewiß ist das, was die Stadt Berlin durch diese Beschlüsse für die Erwerbslosen leisten kann, angesichts der ungeheuren Not nicht ausreichend. Ader gegenüber der Gleichgültigkeit und Passivität, die die Reichsregie» rung und geschützt von ihr die Mehrheit de» Reichstages an den Tag legen. zeigendieBerlinerBeschlüssewenigstens den Willen, nach Kräften zur Linderung der Not beizutragen. Wir glauben nicht, daß damit alle» geschehen ist, was geschehen muß, aber dos Eingreifen des Mogistrats und der Stadtverordnetenversammlung ist immerhin eine Tat. Sie ist um so höher zu bewerten, als die finanzielle Lage der Stadt, wie fetzt wohl allgemein anerkannt wird, keineswegs glänzend ist. Di« langen Beratungen über die Deckung der durch die Ausgaben entstandenen Lücke im städtischen Haushalt haben zur Genüge ge- zeigt, wie schwer es unter dem geltenden Finanzausgleichgesetz der Stadt wird, chren sozialenBerpslichtungen nachzukommen. Die gestrige Stadtverordnetenversammlung hat aber eine De- deutung grundsätzlicher Natur, die weit über die bloße Tat- fache hinausgeht, daß für die Erwerbslosen Hilfsmittel zur Ber- sügung gestellt werden. Zum erstenmal haben die Kom- munisten bei einer großen und entscheidenden Aktion ein« Haltung eingenommen, die al» ein« wirkliche Vertretung von Arbeiterinteressen be- Zeichner werden kann. Sie haben endlich angesichts der Not der Erwerbslosen und angesichts de» Zwanges, nicht nur Phrasen zu dreschen, aus die Sozialdemokraten zu schimpfen und HIlse beim Ausbruch der kommenden Revolution anzukündigen, sich dazu verstanden, auch unter dem geltenden Steuersystem Deckung für die notwendig gewordenen Ausgaben z u b e w i l l i g e n. Ei« haben der Erhöhung der Grund» st euer um 50 Proz. zugestimmt, sie haben die Erhöhung der LruUoabgaben der Werke von S auf 8 Proz. bewilligt und sie haben die Erhöhung der Hundesteuer(welch Verstoß gegen alle revolutionären Prinzipien I) mit einem noch nicht dagewesenen Eifer verteidigt. Die Begründung, die der Kommunist Schwenk für die Zustimmung seiner Fraktion zu den Deckungsbeschlüssen de» HaushaUsausschusies gab, war nicht nur«ine Schwenkung, sondern ein vollständiger Bruch der bisherigen Theorie und Praxi» der kommunistischen Kommunal- Politik. Jahrelang haben die Kommunisten im Rathaus unsere Genossen als Verräter beschimpft, well sie mit Rücksicht aus die geltenden Steuergesetze de» Reiches und Landes die Erträgnisse der Städtischen Werke zu einem Teil für den Haushalt herangezogen haben. Die berühmten»dreißig Millionen", die aus den Werken mit Zustimmung der Sozialdemokratie»skandolöserweise" für Käminereizwecke verwandt wurden, waren eines der Hauptzugmittel de? kommunistischen Wahlagitation. Die Bewilligung der Grund- steuer war eine der größten.Gemelnheiten", die auf unser Schuld- konto zu setzen war. Und gar die Hundesteuer hatte es den revolutionären Strategen ganz besonder» angetan. Roch vor zwei Tagen spürte man die prinzipiellen Bedenken in einem Bericht der»Roten Fahne" über die Ergebnisse der städtischen Ausschuß- beratungen. Gestern gingen die Kommunisten noch weiter: sie ge- nehmigten sogar ausdrücklich noch einmal den Steuerverteilungs- beschluß für das Houshaltssahr 192S und setzten damit feierlich ihr Moskauer Jnsiegel unter die sozialdemokratische Finanz- und Steuerpolitik der letzten Jahre. Endlich scheinen sie begriffen zu haben, daß eine Arbeiter part«, die im Rathau» für die Interessen der werktätigen Bevölkerung arbeiten will, auch die unangenehmen Konsequenzen ziehen und Steuern »im kapitalistischen Staat" aus Grund»kapitalistischer Steuergesetze"
bewilligen muß. Wir wollen es den Kommunisten nicht nachtragen, daß sie jahrelang unsere Haltung als»Arbeiteroerrat" ver- leumdet haben. Wir wollen uns freuen, daß sie sich endlich eines Besseren besonnen haben und daß durch ihre Pekehrung das p o s i- tio« Eintreten der Sozialdemokratie für die Not der Erwerbslosen ganz wesentlich erleichtert worden ist. Wir hassen, daß diese veränderte Haltung der Kommunisten im Berliner Rathaus über Berlins Grenzen hinaus auch auf andere Rathäuser abfärben möge. Und wir sind überzeugt, daß ihre un- sinnige und den Arbeiterinteressen schädlich« Haltung, die sie zu ähnlichen Fragen in den Landesparlamenten und Gemeinden bisher eingenommen haben, nun endlich revidiert wird. Der Mut zur Veranttvortung und der Wille, gelegentlich auch eine unpopuläre Maßnahme durchzuführen, wenn das im Interesse der werktätigen Bevölkerung liegt, ist die Doraussetzung dafür, daß die Arbeiter- dewegung wieder zum einheitlichen und ge- schlossenen Handeln kommt. Die Sozialdemokratie im Berliner Rathau« kann deshalb auf die Ergebnisse der gestrigen Sitzung mit einer besonderen Genug- tuung zurückblicken. Es ist ihre Taktik und ihr« Ausfassung von Arbeiterpolllit, die sie d u r ch g e s e tz t h a t. Wird dieser Weg weiter gegangen, dann wird es möglich sein, auch weitere Er- folge für die Berliner Bevölkerung zu buchen. Da» Rückzugs- gefecht mit einer Reihe von Anträgen nehmen wir dabei ebenso- wenig ernst, wie die Kommunisten e» selber nicht ernst genommen haben. Ihre Schwenkung zu den Steuerfragen ist da» entscheidende.
Die gestern abgehaltene Sitzung der Stadtverordneten nahm zunächst dt« Wahlen für die Mitglieder de» Stadtrate » vor. Es waren Listen von den Sozialdemokraten, den Deutsch - nationalen, Kommunisten, der Deutschen Volkspartei und den Demo- traten eingereicht worden. Gewählt wurden von unserer Frak- tion die Genossen Cheminski, Hei mann und Dr. Wein» b e r g, zu Stellvertretern Dr. Loewy.Haß und Genossin W e y l. Bon den Deutschnationalen wurden Dr. Stetniger und Fabian, von der Volkspartei Hallensleben, von den Kommunisten Dr. Meyer und von der demokratischen Fraktion Oberbürgermeister Löß gewählt. Dann wurde die Neuwahl der unbesoldeten Stadt- röte vollzogen. Gewählt wurden: die Sozialdemokraten Frau Weyl, Dr. Treitel, Schlichting und A h r e n s. Die KPD. bracht Goebel und Rebe durch, die Deutschnationale Fraktion Wege, Dr. Richter und Frau Kraußler, die Demokraten Katz, die Volkspartei Benccke und die Wirtschoftspartei Busch.— Die Versammlung ging dann an die Beratung ver Deckungsvorlagen für die Mehrausgaben aus Anlaß der Zlolstandsmtchmihmen zur Linderung der Erwerbe- losigkeit. Der Haushaltsausschuß hatte die vom Magistrat beschlossenen Notstandsmaßnahmen gutgeheißen. In bezug auf die Deckungs- vorläge schloß sich der Ausschuß ebenfalls dem Vorschlag des Magi- ftrals an.(„Vorwärts" von gestern Abend.) Rothe von der KPD. brachte eine Reihe von Zusatzanträaen ein. D o v e(Dem.i. S ch w e n ck(KPD .) und Steiniger(Dnat.) erklären, wenn auch mit gewissen Einwendungen, die Zustimmung ihrer Fraktionen zur Deckungsvorlage. Genossin Todenhagen begründete folgenden Zusatz antrag der sozialdemotrotischen Fraktion: »Die Stadtverordnetenversammlung ersucht den Magistrai, Mittet zur Kinderspeisung und Kindererholungssürsorge zur Ver- sügung zu stellen. Die Versammlung beauftragt serner den Magistrat, beim Ministerium für Landwirtschast und Ernährring die Ausschüttung von Mitteln für Kinderspeisung zu beantragen." Unsere Rednerin teilte mit, daß mit Beginn des nächsten Jahres die Mittel der Bezirksämter für Schulspeisungen und Erholungs- fürsorge erschöpft seien. Wir wissen, daß der Magistrat mit seinen
Mitteln haushalten nmß, deshalb haben wir im zweiten Absaß unseres Antrages den Weg gezeigt, wie die Mittel zu beschaffen stnd. Genosse Urich: Die Zusatzanträge der Kommunisten be- deuten eine Verzögerung der ganzen Notstandsmaß- nähme, well sie eine neue Ausschuhberatung nötig machen. wir Sozialdemokraten find allerdings der Aussassung, daß de» Erwerbslose» sofort geholfen werden mvß und im Ausschuß sind all« Patoien, einschließlich der Kom- munisten, derselben Meinung gewesen. Deshalb sollte man durch solche Zusatzanrräqe, wie st« vorliegen, nicht das ganze Hilfswerk gefährden. Dem Antrag der KPD. auf Durchsührung und Wiedereinführung der 48-Stunden.Woche in den städtischen Betrieben, Ber- waltungen und Gesellschaften werden auch die Sozialdemokraten zustimmen. Genosse Reuter gibt seiner Freude darüber Ausdruck. daß von allen Seiten des Hauses die Notwendigkeit anerkannt wird. zur Erhebung der Not der Erwerbslosen sofort Mittel berett zu stellen. In der A b st i m m u n g wird zuerst der Zusatzantrag unserer Fraktion angenommen. Die Linke de» Hause« nimmt serner den Antrag betreffend der 48-Stund«n-Woche an. Unter Ablehnung oller kommunistischen Abändenmgsanträge wird sodann der Haushaltsbeschluß nahezu einstimmig angenommen. A n- genommen wurde serner ein Antrag, den Erwerbslosen mit eigenem Haushalt die Hauszins st euer-zu erlassen.— Die Festsetzung der Beiträge für die Berussschulen wird nach der Magistratsvorlag« angenommen, ebenso wird die Der- Pachtung des Rieselgutes Münchehofe beschlossen. Roch einem Ausschußbericht der Genossin Fahrenwald beschloß die Versammlung die Erhöhung der Hundesteuer für da« letzte Vierteliahr de« Rechnungsjahres mit der Maßgabe, daß der Mehrertrag für d-e W o h l f a h r t s p s l e g e bereitgestellt wird. Ein Antrag unserer Fraktion, den Erwerbslosen für die Dauer der Erwerbslosigkeit die Hundesteuer zu er- lassen, wird gegen die Stimmen der rechten Seite angenommen. Nach Erledigung und Kenntnisnahme einer Reihe von Vorlagen trat die Versammlung ip eine nichtössentlich« Sitzung ein._____ Die Not der Ssrlmer Sevölkerung in Zahlen. Am Mittwoch abend wandte sich der Bürgermeister Scholtz mit einer Rnndfunkansprache an die Berliner Bevölkerung, um sie zur tätigen Mithilfe an der städtischen Wohlsahrt auszusordern. Der Redner schilderte Zuerst die große Not, in der sich zuerst der elfte Teil der gesamten Berliner Bevölkerung befände, der von Unter- stützungen leben müsse. Die städtische Wohlfahrt hat zurzeit rund ?05 000 Sozlalrenlncr, stleiarenlner und sonstige lausend Unter- stützte mit ihren Familienangehörigen zu betreuen. Sie habe zu sorgen für über 80 000 ftriegsbeschädigtc und Kriegerhinterbliebene und zu diesen Zahlen träten jetzt in der Zeit der Arbeitsnot nach der letzten Zählung rund 000 erwerbslose Arbeitsuchende, von denen bis jetzt rund TjOOO Unterstützung empfangen, hinzu. Im ganzen leben gegenwärtig 300 000 Berliner Bewohner von llnler- ftühung. Diese Not wirlt sich in den verfchiedenstcn städtischen Einrichtungen aus. Die Ausnahmen im städtischen Obdach sind vom 1. Oktober bis zur Jetztzeit von rund 2000 Personen auf 4500 angewachsen. Die tägliche Portianenzahl der großen städtilchen Volks- küch« in der Tresckowsiraße bat sich in der gleichen Zeit von 7500 auf 1l 000 vermehrt. Die Zahl der entlassenen Straf« gefangenen, die die Fürsorge der Stadt gemeinsam M't der freien Wohlfahrtspflege in Anspruch nehmen, hat sich im letzten Vierteljahr mehr als verdoppelt. In vielen Fällen steht hinter einer einzigen dieser Zahlen eine große notleidende Familie: in vielen Fällen bedeutet die wirtschaftliche Not der Erwerbslosigkeit zugleich schwerste gesundheitliche und erzieherische Geiährdnng einer ganzen Familie. Diese Hilfe der Stadt wird iin Laufe des Winters einen Aufwand von über 3 000 000 M. erfordern. Bedürftigen und arbeitsfähigen unfreiwilligen Erwerbslosen, die keinen Anspruch aus Erwerbslosemmterstützung haben, gibt die Stadt eine Errrerbülosen- Hilfe aus Wohlfahrtsmittcln. In allen Verwallungsbezirkn» sind jetzt Wärmehallen geöffnet und die B o l k s f p e i s u'n g e n, sowie die Wohlfahrtsspeisungen werden in erbähtcm Maße in Anspruch genommen. Die Stadt versucht, Erdarbeiten bei der Kanalisation und bei Bahnen zu schassen. Alle dieft städtischen Maß- nahmen erfordern«inen Betrag von 20 000 000 M. und noch mehr, aber sie vermögen das Elend nicht völlig zu bannen. Deswegen be- grüßt die Stadt dankbar alle Bestrebungen der organisierten freien Wohlsahrtsvflepe aller Richtungen. Schlisßsich wendet sie sich an die Berliner Bevölkerung mit der Biite. Wohljahrtsbriefmarken zu kaufen, deren Ertrag der Stadt zufließt.
45)
Wando war aus dem Osten gekommen, einfach aufs Ge- ratewohl nach Berlin gekommen: sie hatte keine Eltern mehr und auch sonst keine Aerwandten, sie wollte sich irgendeinen Verdienst hier suchen. Sie hatte keinen gefunden. Aber auf der Straße war sie umgesunken eines Nachts, weil sie kein Obdach hatte, und vor Entkräftung. und weil ein Kerl sich über sie hergemacht halt«: sie war ganz kaputt. Mit einer schaudernden Neugier hörte Eva zu. Ihre Augen schielten nach jener hin, die so Entsetzliches erzählte. Aber Wando selber war ganz wohlgemut. Nun war ja alles nicht mehr so schlimm, nun Halle der gute Doktor sie wieder zulammen- geflickt, und das gute Schwesterchen kämmte ihr alle Tage die Haare; es waren keine Laufe mehr darin. Sie hatte es eigenllich bester hier, als sie es in der Heimat gehabt hatte, aber sie wollte doch wieder dorthin zurück. Sie hatte solche Sehnsucht. Wenn sie nur jemanden wüßte, der ihr das Geld uir Fahrt schenkte. Aber sowie sie hier entlassen wurde, ließ .ie sich die Haare abschneiden, verkaufte die— Eoa sah, wie lang und stark sie waren, mächtige Haare—, für das Geld kam sie schon ein gutes Stück weit, und dann bettelte sie sich einfach durch, lief Tag für Tag, lag nachts in einem Heu- schvber oder unter einer Hecke. Sie lachte, wenn sie davon sprach, und ihre schwarzen Augen glänzten. Sie war eine Vagabimdin. aber sie hatte Eoa lieb. .T>u sollst mit mir kommen," spracb sie.„Ich habe keinen. du hast keinen, komm, wir werden zusammengehen!" Aber Eoa schüttelte den Kopf: wenn es sie auch ver- lockte, mit Wando in die weite blaue Ferne zu ziehen, so konnte sie das doch nicht, sie hatte ja doch jemanden.„Wenn es bei der Tante gar nicht mehr geht, dann werde i ch fckion sehen" — daran klammerte sie sich. Nachts, wenn sie nicht fest schlafen konnte, durch die ständige leise Unruhe im schwacki erleuchteten Saal immer wieder aufgeschreckt, denn bald drehte sich in diesem Bett eine, bald in jenem, bald seufzte es hier, bald ächzte es dort, und die Nachtwache bewegte sich auf schleichenden Filzsohlen die Reihen entlang und beugte sich über dieses Bett und über jenes, dann dachte sie immer an dieses tröstlich« Wort. Zuweilen wurde im Grauen des Morgens eine hinausgeschafft und kom nicht mehr wieder— wo war sie hingekommen? Man flüsterte davon. In diesem
wirren halbwachen Zustand, zwischen Geräuschen, die sie an- fangs erschreckt hatten, an die sie aber jetzt gewöhnt war. träumte Eva von ihrer Frau Lessel. Da stand die zwischen dem Bett von Wanda und ihrem Bett, in dem schmalen Durch- laß, nahm die fiebernde abgemagerte Krankcnhand zwischen ihre tülilen glatten Finger und lächelte:„Nur Mut. kleine Eoa. ich werde schon sorgen." Ihre Augen bückten wie Sterne durch die trübe Nacht des Krankensaals. Dann streckte Eoa die Arme aus und warf sich unruhig. Sie wußte dann auf einmal nicht mehr: stand da die schöne Dame oder ihre Mutter? „Du mußt rubig liegen," sagte Schwester Johanna am Morgen.„Schwester Ida. die die Wache hatte, beklagt sich, du hättest wieder soviel angegeben. Das geht nicht, du störst die anderen." Es sollte streng klingen, aber das brachte Schwester Johanna nicht fertig. Die Kleine tat ihr leid, sie war die Jüngste im Saal und im ganzen ein geduldiges Wesen: es war hart, so jung zn sein und dann schon hier liegen zu müssen. Sie beugle sich über das Mädchen und strich ihm das schmal gewordene Gesicht. Eva hätte gern beide Arme um den Nacken der hübschen SHwester gelegt und sie auf den Mund geküßt, aber dem wich Schwester Johanna immer aus.— Ob denn Frau Lesiel noch nicht kam? Eva wurde immer sehnsüchtiger, sie wartete ungeduldig. Der Onkel hatte gewiß ihre Bestellung nicht ausgerichtet, der Dame nicht wissen lassen, daß es ihr schlecht ging. Sobald der Onkel wieder her- kam, mußt« sie ihn befragen. Aber er ließ sich nicht sehen. Wohl aber erschien an einem Sonntag die Tante. Da war der ganze Saal voll mit Menschen, nur bei Wanda stand niemand. Frau Ella war sehr schlechter Laune, die Besuchsstunde lag so unbequem zeitig am Nachmittag, nun tonnte sie das Ge- schirr vom Essen erst am Abend abwaschen: ein ganz ver- pfuschte? Sonntag. Aber Stefan hatte sie so angetrieben: „Geh du doch mal hin, ich war so schon mal da." Sie.legte eine Tafel Schokolade und eine Düte Pflaumen auf Cvas Bett.„Na, Eoa, wie geht es dir denn?" „Ganz gut," antwortete Eva.„Sie sind alle freundüch zu mir. Es ist nur so schrecklich, immer zu liegen. Und dann, was sie alles mit einem machen!" „Was machen sie denn mit dir?" Nun war die Frau Wilkowski interessiert: setzt würde man doch dahinterkommen, was Eoa eigenllich fehlte.„Qllecksilber—? Nee, was du nich sagst! Zu was ist die Kur denn, gegen was soll die
helfen?" Sie war neugierig, aber sie konnte es nicht erfahren. gegen was die Kur war. Denn Eva wußte es auch nicht. „Aber ich fühle mich doch schon besser," sagte Eoa.„Nur das Zahnfleisch tut mir oft weh: das komint von dem ekligen Einnehmen. Und dann läuft mir auch immer das Wasser aus dem Mund." „Ich hab's dir ja immer gesagt, du sollst dir besser die Zähne putzen." „Ich spüle hier immer mit Wasserstoff" sagte Eva. „Was hat Irma für schöne gesunde Zähne!" Und Frau Ella sing an zu erzählen, was Irma überhaupt für ein Glück hatte, gleich von der Handelsschule weg hatte die eine gute Stellung bekommen, und nun hatte sie auch einen Herr* kennengelernt, nicht bloß so einen, der mit ihr ging, nein, hrl dem wurde sie Privatselretärin, sowie er sein Bureau auf- machte. Aber das interessierte Eoa alles nicht. Sie faßte die Tante am Kleid, sie hatte Angst, die könnte fortgehen, ehe sie ihr Anliegen vorgebracht hatte.„Weißt du nicht, Tante, ob Onkel an Frau Lessel geschrieben hat, daß ich krank bin?" Nein, das wußte Frau Ella nicht. Was würde das die Dame auch groß interessieren! Aber Eva beharrte daraus:.Loch, doch." Und dann bat sie, so innig, wie die Tanie sie noch nie hatte bitten hören: „Ach, bitte, bitte, erinnere doch Onkel daran. Cr hat es gewiß nach nicht getan, sonst wäre Frau Lessel längst hier gewesen." Frau Ella zuckte die Achseln: das bezweifelte sie. die feine Dame hatte wohl anderes zu tun, als hier die Eoa zu be- suchen. Aber sie sagte das nicht laut. „Bitte bitte, liebe gute Tante, denk doch dran! Wenn du es Onkel sagst, tut er es gleich." Als die Tante gegangen war, lag Eoa ganz schwach da. Sie schloß die Augen, und langsame Tränen sickerten ihr über die Wangen. Nun glaubte sie es ganz genau zu wissen, daß Frau Lessel noch nicht benachrichtigt worden war. Das war schändlich! In ihrer Empörung über so viel Vergeßlichkeit wurde ihr die eigene Ohnmacht erst recht fühlbar. Im Bett nebenan hatte Wanda, die keinen Resuch be- kommen hatte, aufmerksam zugehört. Nun stützte sie sich ein wenig auf den Ellenbogen und den Kopf in die Hand, so daß ihr die starkdrähtigen Haarflechten lang über den groben Betttittel hingen, und guckte hinüber zu Eva.„Was weinst du denn?" Eva schluchzte. (Fortsetzung folgt.)