Nr. 613 ♦ 42.Iahrgang
1. Seilage ües vorwärts
Mittrvoch, 36. dezember 162S
Rheinftäöte in Hochwassergefahr. Köln , Bonn und Koblenz in Gefahr.— Der Rhein steigt weiter.— Hochwasser in aller Welt.
Zu wenige« Tagen hat sich das Hochwasser in Süd- und Westdeutschland zu einer Gesahr ersten Ranges entwickelt. Reben dem Rheinland ist vor allem Süddeutsch- laud von dem Hochwasser heimgesucht, weil sich hier die p l ö tz- liche Schneeschmelze der Mittelgebirge besonder» aus- wirkt. In den Alpen ist am Dienstag der Aöhn ausgetreten. der die Schneemassea rasch zu Wasser werden läht. Der Rheinwächst ebenso wie seine Rebeaflüsse von Stunde zu Stunde. Lei Karlsruhe und Mannheim hat er am Dienstag mittag die ungewöhnliche höhe von nahezu siebea Metern erreicht. Weite Gebiete in Laden und in Bayern stehen unter wasier, auch zahlreiche Brücken sind ein Opser her Fluten geworden. Am Mittel- und Riederrhein sind die am Fluh gelegenen Stadtteilevieler Städteuater Wasser geseht. Auch im Moseltal. so vor allem in Trier , ist das Wasser in zahlreiche Häuser eingedrungea. Viele Ort- schafteu sind vollständig vom Wasser umgeben; der Verkehr muh mit Kähnen ousrechterhalten werden. Im einzelnen liegen aus den gefährdeten Gebieten folgend« Meldungen vor: Köln . 29. Dezember. Im Lauf« des heutigen, vormittags ist das Hochwasser mif dem Rhein weiter sehr erheblich gestiegen, nach- dem in der vergangenen Nacht am Oberrhein das Wasier nicht weiter zugenommen hatte. Von zehn Uhr vormittags ab machte sich wieder ein starkes Ansteigen des Wasserspiegels bemerkbar, da die Rebenslüsie des Oberrheins wieder gewaltige Wassermengen heran- führten. Der Neckar Hot bereits die ganze Vorstadt von Mannheim unter wasier gesetzt und steigt weiter an. Auch die Mosel ist schon teilweise über die Ufer getreten. Nachdem im Laufe des gestrigen Nachmittags das Wasier schnell gestiegen war, war heute nacht ein Rückgang zu verzeichnen. Bon sieben Uhr vormittags an haben sich jedoch die Wasiennengen wieder erheblich vergrößert. Von der Saar werden ebenfalls große lleberschwemmungen gemeldet, sodaß teilweise der Eisenbahnverkehr gestört ist. In Merzig liegen der Stadtpark und der Viehmarkt unter Wasier. Bei Koblenz steigt der Rhein stündlich um vier Zentimeter. Besonders ungünstige Meldungen liegen vom NiederrKein vor. Bei Bonn ist der Fluß in den Morgenstunden über die User getreten und hat bereits einige Stadtteile überschwemmt. Der Verkehr zwischen den am Ufer ge- legcnen Häusern wird mit Kähnen aufrechterhalten. Da das Wasier schnell steigt, befürchtet man weitere Uebcrschwemmungsschäden. Auch Köln ist bereits sehr in Mitleidenschaft gezogen. Der Rhein ist über die Ufer getreten, sodaß das Wasier die Keller der am Ufer gelegenen Häufer gefüllt hat. Die Bewohner der anliegenden Straßen sind bemüht, die Kelle? und Erdgeschosse zu räumen, ehe das Wasier bei chnen eindringt. Der Wasserspiegel steigt hier stündlich um sechs Zentimeter. Auch Duisburg wird vom Hochwasser bedroht, das stündlich um acht Zentimeter steigt. Köln . 29. Dezember.(Mtb.) Der Wasserstand des Rheins betrug heute nachmittag 4 Uhr 7,13 Meter. Der verkehr der Straßenbahn mußte bereits umgeleitet werden, da da, Rheinwerk überslutet ist. Die Einstellung des Betriebes der Rheinuferbahn ist für heute abend zu erwarten. Frankfurt a. M.. 29. Dezember. MTB.) Der Wasserstand des Mains zeigte heute vormittag 6 Uhr am hiesigen Pegel eine Höhe von 3,68 Meter. Dos Wasier steigt stündlich um etwa 6 Zenti- meter Vom oberen Main wird gleichfalls starkes Steigen der Wassermassen gemeldet. Von den Neben'lüssen des Main haben Nidda und Kinzig ihren Höchststand erreicht. Bei beiden ist ein gewisser Stillstand eingetreten. Di- Niedeningen sind weilen- weit überschwemmt. Auch die Gerssprenz führt gewaltige
Wassermasien aus dem Odenwald mit sich. Weste Strecken des Acker- landes stehen tief unter Wasier. Mannheim . 29. Dezember.(Mtb.) Der Rhein erreichte hier heut« abend einen Stand von 7,16 Meter. Die Reiß-Insel und die Weg« im Waldpark sind zum größten Teil überschwemmt. Der Neckar zeigte heute abend 7,60 Meter Höhe. Das Vorland des Neckars steht an beiden Flußufern bis zumDammfuß unter Wasier. Der Fluß steigt noch immer weiter. Heidelberg . 29. Dezember.(Mtb.) Die Fluten des Neckars sind noch weiter gestiegen; der Heidelberger Pegelstand erreichte 4,59. Vom Oberlauf des Neckars wird noch ein weiteres Steigen ge- meldet. In der Altstadt ist in den tiefer gelegenen Häusern das Wasser bereits in die unteren Stockwerke ein- gedrungen. Gestern nacht ereignete sich auf der Zi e g e l h a u s e n e r Landstraße bei Heidelberg ein schweres Unglück. Der praktische Arzt Dr. Vogel fuhr mit seiner Frau in einem Auto nach Ziegel- hausen. Das Hochwasser des Neckars hatte die Straß« bereits über- schwemmt, so daß das Auto in die Fluten geriet. Während sich Dr. Vogel retten konnte, versank das Auto mit der Frau und dem Führer. Beide sind ertrunken. Die Leichen und das Auto konnten noch nicht geborgen werden. Menschenopfer in Ungarn . Am schwersten betroffen ist das ungarische Grenz- gebiet gegen Rumänien , wo die Theiß und ihr« Neben- flüsie weite Strecken des Landes völlig unter Wasier gesetzt haben. Hier sind rund 200 000 Hektar Laud überschwemmt. 14 Ortschaften gelten als völlig vernichtet, wobei über 100 Menschen da» Leben eingebüßt haben sollen. Das Wasier steht teilweise so hoch, daß nur noch die Kronen der Bäum? und die Giebel der Dächer heraus- ragen. Am schwersten heimgesucht ist das fruchtbare Komitot Vekes an der ungarisch -nimänischen Grenze. Hier haben die Wasiennengen aus den Bergen Siebenbürgens alles zerstört. Hunderte von Häusern find unter der Wucht de» Wasser, zusammengestürzt. Tausende von Rindern und Pferden in den Fluten umgekommen. Die Dahnoerbindungen von Ungarn nach Rumänien sind völlig unterbunden, ebenso der Telephon- und Telegraph« nverk ehr gestört. Der Sachschaden ist einstweilen noch nicht zu übersehen, wird sich aber auf viele Millionen Kronen belaufen. Die Hochwasierkatastrophe im Bekiser Komitat nimmt immer größere Dimensionen an. Bisher sind bereits 160 000 Morgen überschwemmt. In einem Teile des Kemitats drohen die großen Dämme in einer Länge von 30 Kilometern einzustürzen. Di« gesamte Bevölkerung arbeitet daran, diese Katastrophe hint- anzuhalten. In diesem Komitat haben die Ueberschweinmungen bisher ein Todesopfer gefordert. In Siebenbürgen wurden weitere Gemeinden unter Wasier gesetzt. Hier sind zahl- reiche Menschenopfer zu beklagen. Der Schaden ist unge- heuer. In einem einzigen Orte wurden 50 Häuser von den Fluten fortgerissen. Warschau , 29. Dezember.(TU.) Die Rebenslüsie der Weichsel führen durch die Schneeschmelze große Wasiennengen der Weichsel zu, so daß lleberschwemmungen zu befürchten sind. Es sind überall Borkehrungen getroffen, um Hochwasierfchäden nach Möglichkeit zu vermeiden. fluch Hochwasser in England. London . 29. Dezember. (WTB.) Der in den letzten Tagen fast ununterbrochen niedergegangene Regen und das Tauwetter haben zu Hochwasser einer Reih« von Flüssen an der Grenz« von Wales und in Mittelengland und zu Ueberfchwem- m u n g e n geführt. Di« tiefliegenden Wiesen am Dee, Severn und Wye stehen unter Wasier. Der Severn war gestern etwa drei Meter und der Avon etwa zwei Meter über den normalen Stand gestiegen. In Leicestershire sind mehrer« Dörfer durch die Ueberfchwem-
mung von der Außenwest fast abgeschnitten. An den Küsten war die Schiffahrt im Lause des gestrigen Tages durch das ungünstige Wetter stark behindert. Sturmkakaslrophe an der eslländischen Küste. In ganz Estland herrschten in den letzten Tagen st a r k e S ch n e e st ü r m e. An der estländischcn Küste des Finnischen Meerbusens zerbrach der Sturm unerwartet das U f e r e i s, auf dem sich mehrere Gruppen von Fischern befanden. Diese wurden aus den Eisschollen in dos offene Meer hinausgetrieben. Einigen Filchern gelang es mit großen Anstrengungen, sich ans Land zu retten. ein großer Teil ist aber verschollen. Ein aus dem Revaler Hofen auf die Suche nach den Fischern ausgesandter Eisbrecher ist unver richtete? Sache zurückgekehrt. Für die Hinterbliebenen der Verunglückten hat die estnische Regierung eine Hilfsaktion begonnen. kein besseres Wetter in Aussicht! Wie der Berliner Wetterdienst mstteilt, besteht vorerst kein« Aussicht auf besseres Wetter. Die nächsten zwei, drei Tage werden wahrscheinlich starke Regenfälle bringen, so daß mit weiterem rapiden Steigen des Wassers im Ueber- schwemmungsgebiet zu rechnen ist. Am Freitag kann mit Aufklärung gerechnet werden. Frost wird vorerst überhaupt nicht erwartet. Eine überaus ungünstige Prognose, die zu den schwersten Befürchtungen Anlaß gibt. Vor allem, weil ein längeres Andauern des Regenwetters in den Höhengegenden weiteres Schnee- schmelzen größeren llmfangs zur Folge haben wird. In später Stunde wird uns über den Stand des Hochwasiers folgendes gemeldet: Wasserstand rn K e h l 4 Uhr: 4,54 Meter, 12 Uhr: 4,52 Meter. Der Wasserstand am Oberlauf des Rheins ab Basel fällt. Mannheim , 4 Uhr: 6,91 Meter, voraussichtlich ist noch ein Steigen um 50 Zentimeter zu erwarten. Der Neckar fällt im Oberlauf. Im Unterlauf wird voraussichtlich in der kommenden Nacht ein Stillstand zu verzeichnen sein. Mannheim . 12 Uhr: 3,51 Meter, stündlich noch 4 Zentimeter steigend. Bingen. 4 Uhr: 4,5 Meter. Koblenz , 6 Uhr: 7,06 Meter. Saarbrücken , 2 Uhr: 6,06 Meter. S t i l l st a n d. Trier, 5 Uhr: 6,16 Meter, stündlich noch einen Zentimeter steigend. Der Wasserstand des Rheins am Kölner Pegel betrug abends 6 Uhr 7,25 Meter. Der Strom steigt weiter irm 6 Zentimeter stündlich. Das hiesige Hafenami rechnet damit, daß bis morgen ein Wasserstand von wenigstens acht Metern erreicht fein wird. Am Rheinufer, zwischen der Hohen- zollern- und der Hängebrücke überslutet das Wasier in einer Breite von drei bis vier Metern die Strohe. Wester stromaufwärts sind die am Ufer entlang führenden Straßen bereits bis zu den Häusern überschwemmt, so daß Fußgänger kaum noch gehen können.
Schwindel mit Reichsentschädigungea. Doppelgänger oder grober Unbekannter? Der»große Unbekannte' gibt in den Gerichtssälen ziemlich häufig«in Gastspiel. Sein Bruder,»der Doppelgänger", pflegt etwas zurückhaltender zu fein. Aber ob und zu taucht auch er als forgfölttg präparierter Blitzableiter vor dem Fonim des Gerichts auf. Ihn hotte der Kaufmann Swaezba, der sich wegen fortgesetzten Betrugs vor dem Schöffengericht Berlin -Mitt« verantworten mußte, zu seinem Schutzpatron erwählt. Mit wenig Glück allerdings, denn fein hartnäckiges Leugnen brachte ihm eine ziemlich empfindliche Gefängnisstrafe ein, die wen über den Antrag des Staatsanwalts'hinausging. Der Angeklagte, ein vertriebener Obcrschlefier, wollte monatelang von den Franzosen gefangen gehalten worden sein. Noch seiner Freilasiung erbat er vom Deutschen Reich eine Entschädigung, die noch seinen eigenen Aussagen sehr angemessen ausfiel. Als Dank beschloß S., unter einem ähnlich klingenden Namen die Sache noch einmal zu versuchen. Er nannte sich setzt Schworzbach. wollte wieder ein um seinen ganzen Besitz gekommener Ober- schlesier sein und erhielt auch diesmal eine große Emschädigung, die in die Tausend« ging. Der Betrug, daß Swacza und Schwarz- dach dieselbe Person waren, kam sehr bald heraus. Obwohl der Angeklagt« von mehreren Zeugen als derjenige wiedererkannt wurde, der in beiden Fällen um die Entschödigunq eingekommen war, hielt S. an seinem Lügengebäude fest. Der Schworzbach heiße
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Die Passion.
Roman von Clara Viebig . Das leere Gefühl in Eva wurde nach und nach so quälend, und das Essen hier konnte sie beim besten Willen nicht ver- tragen, daß sie auf einen Ausweg verfiel. Geld, daß sie sich selber hätte etwas kaufen können, befaß sie nicht, aber sie ging jeden Morgen Milch holen im Dorf, die Milch für die Kinder und für die Alten. Milch, ha, Milch! Wenn sie sah, wie die Bäuerin ihr aus dem Eimer, darinnen es so fett, so frisch ge- molken schäumte, in ihre Blechkgnne füllte, kam es sie an wie 4Zier. Wenn sie doch Eon dieser frischen Milch trinken könnte! Aber sie und die Schwestern tranken ihren Kaffee ohne Milch, die war selbst hier im Dorf zu teuer. Der Morgenwind, der in Stößen über die Ackerbreiten fuhr und aus der Weite etwas von feuchtem Seeodem mit sich brachte, wehte die schwache Gestalt, die notdürftig in ein alles graues Tuch eingeknüpst war, hinter die hecken. Die waren noch nicht begrünt, aber sie schützten doch. Im schmalen Heckenweg setzte Eva die Kanne an und tat einen lüchtigen Zug. Sie war dann selber erschrocken, wieviel sie getrunken hatte. Was würde Schwester Martha nun sagen?! Sie war in Bangen. Es half nicht, sie mußte dos Fehlende ersetzen; sie füllte mit Wasier nach. Und so Tag für Tag. Ich weiß nicht, wie das kommt, die Milch wird immer miserabler." sagte Schwester Martha.„Früher war sie so iett. ich konnte noch immer etwas Wasier zusetzen, jetzt ist sie so sckmn ganz bläulich!"«> Schwester Maria wurde ausgeschickt, sich beklagen. In ihrer demütig ergebenen Art machte sie der Bäuerin einige Vorwürfe aber von einer Verschlechterung der Milch wollte die nichts wissen. Wenn auch die Kühe jetzt noch kein Grün- futter hatten. Heu und Kleie waren noch genug da. Die Milch war gut. Als Eva das nächstemal mit ihrer Blechkanne kam, sah die Frau sie scharf an; sie hatte oft schon bemerkt, wie gierig das Mädchen zusah.„Säufft du auch von der Milch unter- wegs, plemperst Wasser nach? Laß dat bliewen!" Sie hob den Finger..., Aber Eva verneinte empört: wie konnte man von ibr nur so etwas denken? Je mehr sie sich schuldig fühlte, desto erregter wies sie die Beschuldigung zurück. „No. dann wird die Schwester wohl selber taufen. Steh einer an, die Frommen!" Nun war es an der Bäuerin, empört zu sein.
Eva, die innerlich gezittert hatte, war froh, dies auf- greifen zu können, sie ließ die Beschuldigung auf Schwester Martha sitzen. Aber als ihr die am Abend, gutmütig wie sie war, und weil Eva heute gar nichts gegessen hatte, einen Schuß übriggebliebener Milch in die Zichorienbrühe tat, war sie sehr gedrückt. War es nicht traurig, daß man, um einen Schluck Milch naschen, betrügen, leugnen, verleumden mußte? Sie beschloß, nicht mehr aus der Kanne zu trinken— aber würde sie das halten können?! Jeden Abend hatte Eva noch ein Weilchen um Mutter Bensch zu tun. Die hatte jetzt wieder ihre Gicht und konnte sich gar nicht mehr rühren. Wasier hatte sie auch.„Ich habe die Reisestiebeln schon an," sagte sie mit Frohlocken, denn die Schmerzen waren oft gar zu arg. Jetzt sagte sie nicht mehr Liederoerse auf und sang auch nicht. Jetzt ächzte sie nur noch Bibelsprüche und stieß zwischendurch heraus:„Herrgott, er- banne dich! Mein Gott, erlöse mich!" „Es geht bald zu Ende mit Mutter Bensch," sagte Schwester Maria, setzte sich wohl mal zu ihr und sprach ein Weilchen mit ihr über das selige Sterben. Aber sonst war Eva es, die für die Bensch sorgte. Ihr Mitleid war erwacht und auch ihre Neugier: wie mochte es nun wohl weiter werden mit der? Wenn das Wasser zum herzen steigt, dann ist's aus, dann steht das still— ob das wehtat? Auf ihrem Saal in der Chorit<< hatte keine gelegen, die Wasier hatte. „Verlaß mich nicht, ehe ich tot bin," sagte die Bensch. Sie mochte Eva gut leiden.„Und wenn du siehst, daß ich tot bin, dann greisite unter mich hier ins Stroh, da liegt en Strümp , da sind Taler in, zwei harte Taler. Die hat mein Sohn mir geschickt, als er noch von sich hören ließ. Die freu'n mich. Kein anderer soll die nich haben. Die nehm ich mit. Die nimmste solang an dich, verwahrst?e. Und wenn ich dann im Sarg liegen tu, dann legste se mir heimlich unter den Kopp. Bist'n gute Dirn!" Sie hatte es unter vielem Aechzen, unter manchem Stoßseufzer mühsam herausgebracht; sie war heute abend sehr schwach. Es durchzuckte Eva: würde die wirklich bald sterben? Das wäre ein Glück. Dann hatte sie die Stube allein für sich, brauchte nicht mehr zu schlafen in dieser dttnstigen Luft— aber würde sie das Zimmer für sich allein behalten? Sicher nicht. Jemand anderes würde zu ihr hingetan, ein an- deres altes Weib, das nicht so gut war wie die Mutter Bensch. Sie faßte nach der alten Hand, die jetzt nicht mehr runzlig und dürr war. sondern glatt und geschwollen vom Wasier: „Mutter Bensch, Sie wissen doch gar nicht, ob Sie schon sterben. Bleiben Sie doch noch bei mir!" Sie fühlte sich
plötzlich so einsam, sie hätte selbst den Ekel überwinden können, wenn die nur blieb. Aber die Greisin schüttelte müde den Kopf:„Nee, Dirn. ich geh nu. Der Totenvogel hat mir schon zweimal geschrien." Wenn er zum drittenmal schreit, dann— horch, war da? der Totenvogel, der zum drittenmal schrie!? Eva fuhr auf aus dem tiefen Schlaf: sie hatte schauerlich geträumt. Ein Ruf vom Bett drüben hatte sie geweckt:„Dirn!" Die Alte rang schwer nach Atem. „Soll ich die Schwestern rufen?" fragte Eva. Die Ringende schüttelte verneinend. ,L>u—" flüsterte sie. Weiteres war kaum zu verstehen, aber Eva erriet es: hier im Stroh die zwei Taler.„Ja, Mutter Bensch, ja!" Die nahm sie. die Eva, an sich, nahm die zwei Taler. Sie wischte der Alten den Schweiß ab. Und dann stand sie dabei und sah zu. Sah, wie ein Mensch stirbt. Verfolgte alle Phasen des Zugrundehens. Sie hatte noch nie jemanden sterben sehen, wohl sehr viele leiden— aber sollte das Sterben nicht noch schlimmer sein? Ihre Augen öffneten sich groß, sie war sehr verwundert: das war ja alles gar nicht wahr, was man sv sagte, sterben war längst nicht so schlimm wie leiden. Das Sterben war ja wie ein tiefer Schlaf, in den man wohlig versinkt. Die Greisin lag jetzt da. still, schon steif, ganz versunken im letzten Schlaf. Und ohne Scheu streckte Eva die Hand aus, suchte im Bettstroh unter der Toten, fand den versteckten Strumpf mit den zwei Talern. Und nahm sie an sich. 18. Eva saß im Wagen vierter Klasse. Um sie her war es laut, die Bauern und bäuerlichen Frauen sprachen unterein- ander mit harten lauten Stimmen, Kinder quarrten und verlangten immerfort zu essen; es war Geräusch und Ge- qualme genug im Wagen, ober sie fuhr, als fei sie ganz allein. Sie merkte alles das nicht, was um sie war. Sie sah auch nicht draußen nach der Landschaft wie auf dem her- wege, sie sah nur in sich hinein. Und da sah es verstört aus. Run würde Schwester Martha doch wohl dahinter kommen, warum die Milch so verwässert war. O, daß sie doch wider- standen und nicht mehr alle Morgen einen Zug aus der Blechkanne getan hätte! Gestern, als sie die Milch ausgoß, hatte Schwester Martha kopfschüttelnd, mit eigentümlicher Betonung gesagt:„Run gibt's doch schon Grünfutter für das Dich. Ich werde lieber den alten Leuok nach der Milch schicken." Das war doch deutlich gewesen! Die hatte Arg- wohn, und es war Eva auch, als hätte Schwester Maria sie mit ihren sanften ergebenen Blicken traurig angesehen. tFortsetzung folgt.)