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Nr. 101 4Z.7ahegtmg

7. Seilage ües vorwärts

dkenstag, S.MSrz 1020

Auch In BerNn gibt« diesen Werweltswinkel, allerdings nicht so ausgeprägt wie in London , in dem Stadtviertel Whitechapel. In jedem Detektivroman oder Abenteurersilm spielt Whitechapel die Rolle des finstersten Lerbrecherwinkels der Welt. Vermummte<S«» stalten sollen hier henimschleichen. und selbst am Tage soll man nur gezückte Revolver und Dolch« sehen. Dos Whitechapel von vor un» gefähr fünfzig Jahren, das Dickens schilderte und das heute noch immer in der Phantasie derjenigen existiert, die da» moderne White- chapel nicht kennen. Weyn man auch heut« noch hier und da frag- würdige Gestalten trifft, so kann man von diesen wenigen keinen Schluß auf das ganze Stadtviertel ziehen. Whitechapel ist heute Ge- schäftsoiertel mit ausgesprochen osteuropäischem Charakter,«ine Zu- flucht aller derer, die ihre Heimat im Osten au» politischen Gründen verlassen mußten, es ist das Stadtviertel der Juden, und kaum eine andere westeuropäische Stadt kann etwas Aehnliches aufweisen, nur in amerikanischen Städten wie New Port trifft man gleich« Der- Hältnisse. Auch in Berlin finden sich Vergleichsmöglichkeiten. Im früheren Scheunenoiertel, in den Straßen um die Volksbühne sieht man dieselben Typen im Kastan, man hört hier denselben singenden Jargon wie in Warschau . Lodz oder Whitechapel. aber hier ist die Zahl der Ostjuden verschwindend, oerglichen mit London , sie bilden keine Kulhirgemeinschaft, sie besitzen nicht wie in Witechopel eigene große Zeitungen, eigene große Theater. Zwischen Ost und West. WhileHopel ist die Scheide zwischen der Vankwelt und der Welt des Kleinbürgertums und des Proletariats, ein Fremdkörper, der sich hier an der Grenze«ingelagert hat, ein Allerweltswinkel. der mit englischem Westn wenig zu tun Hot. Wenn man von der City in diesen Stadtteil einfährt, findet man sich plötzlich in den Osten ver- seht, eine fremde Atmosphäre lagert hier, wenn auch die Häuser d»n>clben Charakter tragen wie in anderen Londoner Straßen. WHitechapel-Road ist die Hauptstraße, hier und in den Seitenstraßen leben die Ostjuden, bilden fast wie im Getto eine Gemeinschaft, ifoliert von ihrer Umgebung. Die Straße ist ziemlich breit, ungefähr wie die Kantstraße und mit Holz belegt wie fast alle Londoner Straßen. Selbst die Häuser sind groß und mordern. Whitechapel- Road unterscheidet sich äußerlich nicht von den anderen Londoner Straßen, nur hin und wieder findet man ein kleine», gichtbrüchige»

HSuschen. da« an die romantisch« Vergangenheit erinnert. Am An. sang der Straße steht die Whitechapel-Church, eine neuere Kirche mit einem Riesenturm. Das Charakteristische dieser Gegend ist aber weniger die Hauptstraße als ihre Umgebung: Die kleinen Reben- gössen. Die Geschäfte sind hier klein und unscheinbar, sie wirken ge- drückt, als ob sie sich ihrer Existenz schämten. Der Eingang ist un- wahrscheinlich schmal, und dos Schaufenster gibt ihn, hierin nicht» noch. Bor allem weiß man hier aber nicht, daß auch Glasscheiben gereinigt werden können. Die Schaufenster zeichnen sich durch Un- durchsehbarkeit aus und hinter der Scheibe führen allerhand billig« Sachen«in disharmonische» Dasein. Von Limonade, billigen Bonbons. Knoblauchwurst bis Band, Knöpfe und Petroleum kann man dort alles haben. Die Geschäfte rechnen nur mit kleinem Um-

NebenstraDea voa Whitechapel,

saß, well die Verdienste hier sehr beschelden find. Kaust man für einen Schilling, ist man ein hochangesehener Mann. Oft trifft man in diesen Geschäften Derkäuser, alte Männer mit Propheten» bärten oder alle Frauen mit Perücken, die man nur in den kleinen Gettostädten Polens findet, die kein Wort englisch kennen. Der- long« man etwa» in englischer Sprache, dann wird ein Kind geholt. da» übersetzen muß. Neben diesen kleinen Geschäften sieht man ober auch große Warenhäuser, modern eingerichtet und großzügig geführt. Eine eigene weit. Alle», wa« vor dem Kriege au» dem Osten emigrierte, Haupt» sächlich nach den Pogromen in Rußland in den Jahren 1905/06, und nicht noch Amerika ging, blieb in Whitechapel. Hier ist e» mög- lich, zu leben, ohne die englische Sprache zu beherrschen, denn hier hört man mehr Russisch. Polnisch und vor allem Jüdisch als Englisch, ver emigrier«« Ostjud« findet deshalb hier Arbeit. Unterkommen und fühlt sich in seiner alten Gemeinschast gebunden. Im Lause der Jahr« hat sich Whitechapel zu einer großen, jüdischen Kolonie ausgebildet mit eigenen Zeitungen, Theatern. Verlagshäusern. Hotel, und Restaurant». Ueberall über den Restaurants und Hotels fällt die UeberschristKoscher* auf, überall sieht man die Firmenschilder in hebräischen Buchstaben, ebenfalls die Auszeichnungen der Artikel und die Inhobernomen. Eine Welt mit einer eigenen Kultur und Gesetzlichkeit hat sich entwickelt. Merkwürdig, daß hier im Osten Londons «ine ostjüdische Kultur, allerdings etwas englisch gefärbt, entstehen konnte. Was totsächlich Bedeutung gewonnen hat, ist die Presie und da» Theater, das bis vor einem Jahr auf hoher, künst- lerischer Stufe stand. Trotzdem Whitechapel«inen so schlechten Ruf in der Welt besitzt, sind doch von hier einige Leute hervorgegangen, auf die die Bewohner stolz sind, unter anderen der bekannte eng- »Ische Schriftsteller und Dramatiker Israel Zangwill. der Filmschau- fpieler Charlie Chaplin und der Boxer Kid Lewis. Eigentümliche Typen gibt es hier in Whitechapel, oft bereit» in Novellen, Feuilletons und Romanen geschildert. Menschen, die vom Osten gekommen sind und sich nicht akklimatlsieren wollen, die in ihren allen Träumen und Idealen weller leben. Intellektuelle. künsllernaiurea. Auch der Missionar gehört zu den Typen der Straße. Meisten» sind es Juden, die au» sozialen Gründen Christen geworden sind. Jetzt suchen sie ihre früheren Glaubensgenosien zum Christen. tum zu bekehren, sie verteilen Propagandaschriften und bieten jedem Geld an. der ihren Reden zuhören will. Auch der Tramp ist eine bekannte Type Whitechapel», aber er erscheint erst bei Anbruch der Nacht. Vie Nacht. Mit Einbruch der Nacht ändert sich das Bild der Straße. Recht- zeitig schließen die Warenhäuser und die kleinen Geschäfte. Ossea bleiben nur die cebensmlltelhaadlungen. Restaurant» und Tabak. geschäsle. voneben aber tritt ein fliegendes Slroßengeschäst in Szene. Wagen mit Obst, Büchern. Seife, Parfüm», Krawatten und ähnlichen Dingen erscheinen aus der Bildfläche. Die meisten dieser Händler haben keine Erlaubnis zu handeln. Wenn ein Schutzmann kommt, läßt er den Kunden mit der War« in der Hand stehen und

Gnkel Moses . Roman von Schalom Usch. In diesem Jahre ist Manes auf der Höh«. Der ganze Distrikt gehört ihm. Der Richter gehört seiner Partei an, der Distriktsanwalt ist sein Mann, alleSpitzen* sind feine Leute: kurz, die ganze Stadt gehört zu ihm. Deshalb fühlt

seinen Landsleuten ist fein Ruhm in diesem Jahre besonder» groß. Wenn einer von den Kusminern eine Unannehmlichkeit mit der Polizei oder dem Gericht hat. so geht er zu Manes, und Manes bringt die Sache In Ordnung. Manes besaß wirklich ein gewisses Gerechtigkeitsgefühl. Von Natur aus konnte er kein Unrecht ertragen. Die Welt- ordnung, in welcher er lebte, war so beschaffen, daß nicht immer ihre Einrichtungen mit der Gerechtigkeit Hand in Hand gingen. Nicht immer war es leicht, dem Gesetz zu entsprechen. und nicht immer war das Gesetz gerecht. Deshalb hielt auch Manes den Weg seiner Partei, guten Freunden zu helfen imd sich ihrer anzunehmen, für viel naheliegender und der Gerechtigkeit mehr entsprechend als den toten Buchstaben des Gesetzes. Und Manes war auch ein wahrhaft treuer und er» gebener Diener seiner Partei, weil er sie für die beste und gerechteste hielt. Für den Richter, den Führer seiner Partei überdies ein Jude, welcher Manes stets die Hand reichte, wenn er ihn auf der Straße traf und ihmHallo, Agitator!* zurief für diesen Richter hätte Manes sein Leben her- gegeben In Ihm sah er die Verkörperung seines Ideals. Richter Grünfeld war sein Mann. Wenn jemand etwas brauchte ging Manes zum Richter in die Wohnung und be- sprach chit ihm den Fall eingehend. Vor ihm hatte Manes keine Geheimnisse Dem Richter sagte er die volle Wahrheit. und der Richter belehrte ihn. wie er bei der Serichtsver» handbmg aussagen sollte. Richter Grünfeld war Manes' Ideal, und da er überdies ein Jude und noch da�u ein guter Jude war. welcher an jedem Sabbat zum Gottesdienst ging, war Manes stolz auf ihn. Obwohl Manes elbst nicht fromm war und sich um Gott nicht kümmerte, gefiel es ihm doch, daß der Richter an jedem Sabbat zum Gottesdienst ging und in jüdischen Ver» einen eine große Rolle spielte. Und weil es In Amerika einen jüdischen Richter gibt, weil es in Amerika eine Partei gibt. yrie die, der Manes angehört, eine Partei, welche für einen guten Freund alles tut deshalb liebte Manes Amerika mehr als fein Leben. America» my country"'aatt

Manes stets mit Stolz zu seinen irischen Freunden. Manes

war ein großer amerikanischer Patriot und im besonderen «in großer Anhänger des Richters Grünfeld, weil Richter

Grünfeld zum Symbol Amerikas geworden war. In seinem Zimmer hing an einer li�and das Bild Washingtons, und an der anderen das des Richters. Und am Freiheitstage ließ Manes aus seinem Fenster ein großes amerikanisches Banner wehen und stellte auf eine Seite das Bild Washingtons, auf die andere das des Richters Grünfeld... Infolgedessen haßte Manes die neu entstandene Partei. die Sozialisten. Denn erstens sind sie keine Patrioten und richten nur Verwirrung in den Köpfen an. und zweitens agitieren sie gegen den Richter. Was sie eigentlich wollten, das verstand Manes nicht. Die Ziele der anderen Parteien waren ihm klar. Die Republikaner wollen ihre Leute durch- bringen, damit sie bei der Schüssel sitzen, aber das lassen wir. die Demokraten, nicht zu. Doch was wollen die Sozialisten? Gerechtigkeit? Wie weit komm« man denn mit der Gerechtig- keit? Und was wird schon daran sein, wenn die Wahlen ehr- lich vor sich gehen werden, wer wird denn davon Nutzen haben?Wer wird etwas davon haben?* sprach er in den Diskussionen und war überzeugt von seinen Worten. Es werden nicht die richtigen Leute hereinkommen, sondern lauter Grobaine. Und wenn ein Jude einmal Unannehm- lichkeiten hat, so wird er niemanden haben, an den er sich wenden kann. Wer hat so etwas schon gehört Gerechtigkeit wollen sie haben? Wer braucht Gerechtigkeit, wenn die Gerechtigkeit doch nicht helfen kann, in drei Teufels Namen!" An diesen guten Kameraden Manes wandte sich Sam jetzt, da das Unglück mit dem Onkel hereingebrochen war. Sam ging am Abend zu Manes: er traf ihn im Klub der Antiprohibitionisten. in einer Ecke des Klubfaals, wo eben- falls die Porträts von Washington und Richter Grünfeld hingen. Manes war groß, hager, trug einen glatt gestriche» nen Scheitel, seine Schläfen begannen schon zu ergrauen. ebenso wie der kurzgeschnittene Schnurrbart. Manes begriff sofort, daß etwas nicht in Ordnung war. Denn wenn Sam, eine so große Persönlichkeit, des Onkels rechte Hand plötzlich zu ihm kam, mußte etwas Wichtiges vorgegangen sein. Und obwohl Manes von Sam nicht viel hielt, weil Sam dem Onkel so treu diente und gute Freunde nichts verdienen ließ, so war Sam doch eine viel zu wichtige Person, daß sich Manes nicht über seinen Besuch gefreut hätte. Was ist geschehen? Unannebmlichkeiten?" fragte Manes, obwohl er wußte, daß man zu ihm nur kam. wenn es Un- annehmlichkeiten gab.

Komm mit mir hinaus, dann wollen wir davon sprechen." Hier kannst du sprechen, als wenn du zu Haufe wärest. Hier verkehren lauter gute Freunde von mir. Du kannst ruhig sprechen." ,T)er Alte will heiraten," platzte Sam heraus und schob sich näher an Manes heran. Wer, der Onkel?" fragte Manes erregt. Ja. Aaron Melniks kleines Mädel will er heiraten." Er wird Kinder haben, der Alte," fiel Manes ein, indem er erbleichte. Warum nicht, Ist er denn krank, der Alte?" Am Onkel nahmen alle Landsleute Interesse, ob sie nun zur Familie gehörten oder nicht der Onkel war eine An- gelegenheit der Gesamtheit, genau so wie ein König in seinem Volke oder ein Vater für seine Kinder. Alle waren stolz auf sein Vermögen, und alle hofften in irgendeiner Weise aus den Onkel. Da flejjst du ja schön drin: ich habe dir aber Immer ge» sagt: Sehe jeder, wo er bleibe. Sag' einmal, hast du dir etwas geschafft?" Ich bin ihm immer treu gewesen, wie ein Hund, keinen eigenen Groschen besitze ich, habe es nicht über mich gebracht, einen Nickel beiseite zu schaffen: wie ein treuer Hund habe ich ihm gedient und nun? Sie wird mich noch wegjagen, was bin ich denn für sie. wer. bin ich?" Der große starke Sam brach vor Manes in Tränen aus. Manes hatte ein weiches Herz. und. wie bereits erwähnt, ein Gefühl für Gerechtigkeit. Er hatte nicht bloß Mitleid mit dem Burschen, sondern er sah auch ein, wie sehr das Recht auf feiten Sams stand, der nicht wollte, daß der Onkel hei- ratete, damit er feine Erbschaft nicht verliere. Deshalb war er ja dem Onkel so treu gewesen und hatte ihm so ehrlich ge- dient. Manes empfand das Bedürfnis. Sam zu helfen: Wenn ich mich recht erinnere, hat er eine Geschichte mit irgendeiner Frau gehabt?" Er hat mit ihr drei oder vier Kinder, die er alimentiert." Und da schweigst du. du Narr? Führe mich nur zu dem Weib. Er wird schon nicht mehr Hochzeit machen, der Alte." Manes, tu ihm nichts Böses, er muß einem ja leid tun, der Alte," sprach Sam, während er hinausging. Ach was, ich werde Ihm nichts Böses tun, er ist doch auch mein Onkel und schließlich ein alter Mann!" antwortete Manes gekränkt. (Fortsetzung folgt.)