Nr. 107 ♦»5.7ahrgattg
I. Seilage ües Vorwärts
5rettag, 5. März 1026
Wie unbequem den rechtsstehenden Parteien das Volksbegehren ist und wie sehr sie den Volksentscheid über die Fürstenenteignung fürchten, das zeigten sie gestern auch in der Berliner Stadtverordnctenversamm- l u n g. Ein von den Sozialdemokraten und den Kommunisten ge» meinsam eingebrachter Antrag, der sich gegen mehrere von städtischen Stellen ausgehende Erschwerungen und besonders gegen das Verhalten des mit dem Amt des städtischen Wahlleiters betrauten deutschnationalen Stadtrats Dr. Richter wandte, wurde von der Rechten des Hauses heftig bekämpft. Sie selber aber schrie über Beschimpfung der entthronten Landesväter und wollte glauben machen, daß bei dem Volksbe- gehren die Gefahr einer Fälschung des Eintragungsergebnisses be- stehe. Als Sprecher der sozialdemokratischen Fraktion rechnete Ge- nasse Reim an n mit den die Fürsten schützenden Fein- den der Republik scharf ob. Die Versuche der Rechten, eine Beschlußunfähigkeit herbeizuführen, mißlangen. Pfarrer Koch und die Seinen konnten die Annahme des gegen die Erschwerungen protestierenden Antrages der Linken nicht verhindern. » Die gestrige Stadtverordnetenversammlung wurde vom Vor- steher Genossen Haß erst um 7 Uhr eröffnet, weil eine vorher an- gesetzte und abgehaltene nichtöffentliche Sitzung sich so lange hinzog. Ohne Debatte wurde zunächst ein Dringlichkeitsantrag aller Parteien angenommen, der vom Magistrat eine baldige F e st- st e l l u n g der Schäden verlangt, den die vom Explofionsunglück in der Kirchstraße 5 in Moabit Betroffenen erlitten haben. Der Magistrot soll serner eine Vorlage unterbreiten, die den Geschädigten den Schaden ersetzt.— Zu dem soeben eingeleiteten Volksbegehren liegen eine ganze Reihe von Dringllchketteanträgen unserer Fraktion, der Kommunisten und— der Deutschnationalen vor. Unsere Genossen und die Kommunisten erheben Einspruch dagegen, daß der deutschnationale Stadtrat Dr. Richter in seiner Eigenschaft als Wahlleiter des Magistrats in den städtischen Kranken- und Pflegean st alten keine besonderen Eintragung« st ellen eingerichtet hat. Der Magistrat wird ersucht, das Versäumte sofort nachzuholen.— Die Deutschnationalen haben entdeckt, daß an den Anschlag- säulcn Plakate zum Volksbegehren im Auftrage der den Volkscnt- scheid veranstaltenden Organisationen erschienen sind,„die v o n Beschimpfungen der ehemaligen Fürstenhäuser st r 0 tz e n*. Der Magistrat soll die Willierholung verhindern.(!) (Große Heiterkeit links.) Ferner fordern die gleichen Herrschasten vom Magistrat, Maßnahmen zu treffen, daß sich in die Einzeich- nungslisten nicht etwa auch Nichtwahlbercchtigte ein- tragen.— Genosse R e i m a n n forderte, daß der nicht anwesende Stadttat Dr. Richter sofort erscheinen solle. Der Obcrbürger- meister gab bekannt, daß der Stadttat krank im Sanatorium liege. Di« Aussprache wurde aui später vertagt. Der s o z i a l d e m o» k r a t i s ch e Antrag, den Magistrat zu ersuchen, er solle bei der Reichsregierung auf Erhöhung der Haftsumme für Autos dringen, wurde von der Linken angenommen. Genosse Heitmann berichtete dann über die neuerliche Be- ratung der Anträge betreffend Abschaffung des Kost- und Logis zwang es in den städtischen Anstalten. Lieferung von Arbeits- und Schutzkleidung und Einführung der 4A<Slundenwoche in sämtlichen städtischen Kranken- pflege an st alten. Die Aiüräge, die. schon mehrfach die Stadt- verordnetenversammlung und die Ausschüsse beschäftigt haben, ent- fesselten nochmals eine längere Aussprache. Genosse Urich vertrat gegenüber der Rechten des Hauses den
Standpunkt unserer Genossen. Mit wechselnden Mehrheiten be- schloß man nochmals, den Magistrat zu ersuchen, de» Kost- und Logiszwang aufzuheben. Schutz- und Arbeitskleidung wird denjenigen Arbeitnehinenr kostenlos geliefert, die mit der Krankenpflege, der Desinfektion und in der Küche beschäftigt sind. In den Irrenanstalten soll der ungeteilte'Acht- stundentag eingeführt werden. In den anderen Anstalten soll die Arbeitseinteilung nach der Art des Betriebes durch Ueberein- kommen der Anftaltsdirektion mit dem Betriebsrat geregell werden. Nunmehr begründete der Kommunist Leps den Antrag der Linken wegen der Behinderung der in den Krankenanstalten' Befindlichen bei der Einzeichnung zum Volksbegehren. Die ersten Worte des Redners: .Die Sabotage der Rechlskreisc gegen das Volksbegehren" werden von der Rechten mit wütenden Zurufen begleitet, so daß der Redner nicht zu verstehen ist. Sozialdemokraten und Kommunisten antworten erregt. Als der Redner Einzelfälle von behördlicher Sabotage, so die Ausweisung von ehrenamtlichen Kontrolleuren aus den Eüizeichnungslokalen anführt und auch sonstige Widerrcchtlichkeiten und Einzeichnungserschwernisfe der Lokaloorsteher erwähnt und rügt, antwortete die Rechte be- zeichnendcrweise mit Bravorufen. In Charlottenburg , so fuhr L e p s sott, sind für etwa 200 000 wahlberechtigte ganze sechs Einzeichnungs- lokale vorhanden. Wir fordern vom Magistrat, daß er dem Beschluß der Stadtverordneten, möglichst viele Elnzeichnungslokale einzurichten, nachkommt und daß auch den Kranken und Siechen Gelegenheit zur Eintragung gegeben wird. Gegenüber der behördlichen und patteilichen Sabotage fordern wir auch von dieser Stelle die Bevölkerung aus, für das Volksbegehren und für die entschädigungslose Enteignung zu stimmen.(Beifall und Bravo links.) Stadtverordneter Major a. D. v. Zecklln(Dnat.) konnte sich bei der Begründung der Deutsch- nationalen gegen den Lärm der Komnmnisten nur schwer durch- setzen. Der Vorsteher ermahnte unzählige Male zur Ruhe. Man versteht auf der Tribüne nur so viel, daß v. Iecklin zur Feststellung der Identität des Einzeichnenden sogar ein Lichtbild sardette. Die Deutschnationnlen seien jedenfalls fest entschlossen, dem Volks- begehr und dem Volksentscheid alle erdenklichen Schwierigkeiten zu machen(l)— Stadttat Wege betonte namens des Magistrats, daß der Magistrat eine objektive Behörde fei(stürmisches Gelächter), die keine Sabotage treibe, sondern sich nur nach dem Wortlaut der Ge- setze richte. Das Wohlreglement enthalte in bezug auf die Lokale in den Krankenanftallen nur eine Kann-, keine Muß Vorschrift. Der Stadtrat stelle aber onheim, jetzt entsprechend zu beschließen. Genosse Reimann wies dem Magistratsvertreter nach, daß er soeben die Bestimmungen des Wahlreglcments nur sehr mangelhaft und unvollkommen zitiert und wichtige Stellen ausgelassen habe, die gerade unserem Antrag Recht geben. Genosse Reimann teilte mit. daß infolge der behördlichen Schikanen im Südosten Berlins Ausschreitung en schon am Donnerstag _ abend nur schwer zu verhindern waren. Er forderte vom Magistrat. daß er die Gesetzesbestimmungen loyal auslege. Am Schluß seiner Ausführungen rief Genosse Rclmann der Rechten noch einmal alle Schandtaten der geflüchteten Potentaten ins Ge- dächtnis. Di« Rechts antwortete mit brüllenden Zurufen. Der deutschnationale Pastor koch drohte, zur Geschäftsordnung zu Wort gekommen, damit, daß die Deutfchnationolen die Vertagung der Sitzung beantragen werden, wenn ihr Redner am Sprechen behindert weroe. Als der Stadtverordnete o. Iecklin(Dnat.) seine Red« beendet Halle, kam auch tatsächlich von Koch bei-„an- gedrohte" Antrag auf Vertagung. Gleichzeitig bezweifelte er die Beschlußfähigkeit des Hauses. Mit knapper Not brachte die Rechte die erforderliche Anzahl Stimmen zur Unter-
stützung des Vertagungsantrages auf. Die Auszählung ergab die Beschlußfähigkeit: Sozinldcinokroteii, 5lommuniste« und Demokraten blieben im Saal, während die Rechte schon während der Rede v. Jecklins den Saal verlassen hatte Die Fest- stellung des Vorstehers rief lebhaften Beifall hervor� Während der nun folgenden Ausführungen des Demokraten Michaelis betrat Pastor koch wieder den Saal, um als Horchpostcn für die Rechte zu wirken. Stadtverordneter Trefferk(Z.) erklärte die Zustinimung seiner Fraktion zu den meiste» der Antröge.— Nach dem Schluß der Debatte bezweifelte Stadtverordneter Easpari (D. Vp.) wieoerum die Beschlußfähigkeit des Hauses. Als Resultat der Auszählung stellte der Vorsteher wie vorher die Beschluß» sähigkeit fest.(Bravo !)— In der Abstimmung wurde der sozialdemokratisch- kommunistifche Antrag einstimmig angenommen. Für den ersten Teil des deutschnationalen Antrages erhob sich nicht eine Stimme. Der zweite Teil, der die Selbst- Verständlichkeit fordctt, daß die Wanlfähigkcit der Einzeichnenden geprüft werde, fand eine Mehrheit. Damit schloß diese stunn- und ereignisreiche Sitzung. Sabotage ober Anfall l Tie Einzeichnung zum Volksbegehren. Aus zahlreichen Teilen Berlins gehen uns Beschwerden über die Handhabung der Einzeichnung zum Volksbegehren zu. Es mag fein, daß ein Teil der Ursachen dieser Beschwerden inzwischen abge- stellt ist. Vielleicht Ist die Sache noch zu neu, als daß sie gleich tadellos.klappen" könnte. Es gibt aber zu denken, wenn z. B. in Grunewald nur ein einziges Lokal zum Einzeichnen vorgesehen ist. wenn bei der Ausstellung von Scheinen, die zur Einzeichnung in anderen Bezirken berechtigen, umständlich und zeitvergeudend verfahren wird, oder, wenn wie z. B. tn Moabtt, die Plakate, dis den Einwohnern die Einzelchnungslokale mitteilen sollen, schon wieder überklebt wurden, so daß ste ihren Zweck nicht erfüllen können. Nielsach wird darüber geklagt, daß man denen, die sich einzeichnen wollen, keine Stühle anbietet, so daß sie im Stehen schreiben müssen. Im einzelnen mögen noch folgende Vorfälle mit- geteilt werden: Von mittags I Uhr bis abends 8 Uhr fallen die Listen zur Eine lraaunq des Volksbegehrens misliegen. Im Bezirk Tiergarten. Abftimimingsott T u r n b a l l e K u l m st r, IS, erschien der Beamte erst um Vj'Jt Uhr, verschiedene Personen, welche sich eintragen wollten und um 1 Uhr zur Stelle waren, mußten unverrichteter Sache fort- gehen, da sie sonst ihre Arbeitsstelle nicht zur pünktlichen Zeit er» reichten. Selbstverständlich wurde wegen des verspäteten Anfanges Protest etngelegr. Im Stadtbezirk 38, im Wahllokal Derfflingerftr. 18-, ist der erste Beamte zur Eintragung erst um l.lö Uhr erschienen. Die erste Ein- tragung konnte ttotz starken Andranges erst um 1.27 stattfinden. Dia anderen Beamten bis auf einen erschienen erst um 1.30. Die be- treffenden Herren scheinen mit der Technik des Volksbegehrens nicht genügend vettraut. Die Eintragungen gingen sehr langsam und in zeitraubender Weis« vor sich. Berschiedene Einacichnungsberechiigte, deren Zeit längeres Warten nicht erlaubte, mußten das Lokal vcr- lassen. Die Auslegung der Eintragungslistcn zum Volksbegehren für die Fürstenenieignung führten auch in der Bezirksverfammlung Char« lottenbura zu einer lebhaften Debatte. Im ganzen Berwältungs-c bezirk 7 vesinden sich nur sechs Eintrage st ellen. Nach An- ficht der Sozialdemokraten und Kommunisten reichen diese nicht aus, um die Eintragungen glatt ohne Reibungen zu ermöglichen. D!a Sozialdemokraten stellten die Anfrage:„Was hat das Bezirkson'.t getan, um auch den Insassen der Krankenanstalten die Möglichkeit der Eintragung zu verschaffen?" Der Bertteter des Bezirksamts teilte mit, daß bei der Errichtung der Eintragungslokal« nach den Be- stimmungen für die Auslegung der Wäblerlisten verfahren wurde. Die festgelegten Lokale sind sehr groß und innerhalb jedes derselben so viele Unterabteilungen, daß aus je 1 Beamten und 1 Hilfskraft nur immer 3 Listen für 3 Stimmbezirke entfallen. Dos Bezirksamt ist der festen Ueberzeugung, daß die Einttag, mgen sich in Ehar- lottenburg ganz glatt abwickeln werden, ohne Veranlassung zu Klagen zu geben. In be.zng auf die Möglichkeit der Eintragung
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Charlie, der Sohn des Onkels Verl, wohnte nach der Heimfahrt des Vaters mit der Mutter und seiner älteren Schwester zusammen. Bei Tag besuchte Charlie das College, und am Abend trug er Zeitungen an die Nachbarn aus. Seine Schwester war in einem Hutgeschäft angestellt, und die M'llter kochte, wusch und hiell die Wohnung für die Kinder in Ordnung. Trotz ihrer Armut suchte es die alte Frau auf jede mögliche Weife durchzusetzen, daß Charlie das College besuchen konnte. Mit der gleichen Aufopferung, die einst unsere frommen Mütter für ihre begabten Kinoer gezeigt haben, welche im Deth-5)amidrasch lernten, opferte sich Ge- nendel für ihren Sohn Charlie auf, damit er das College be- suche. In der Heimat wäre es wahrscheinlich ihr Ideal ge- wesen. Charlie dereinst als Rabbi zu sehen; hier war es ihr Ideal, daß Charlie das College beende. Wenn die Zeit kam, da das Kollegiengeld für Charlie zu zahlen war, da setzte die alte Frau alle Hebel in Bewegung: sie lief zu Verwandten und Bekannten, rannte dem Onkel die Türen ein, und wenn es gar nicht anders ging, so nahm die alte Frau von einem kleinen Unternehmer Näharbeit nach Hause oder verdingte sich selbst in eine Werkstätte und arbeitete einige Wochen. Der Ehrgeiz der alten Frau hatte einen rein idealistischen Grund. Ihr ging es nicht so sehr um Charlies künftige Laufbahn, als um die Wissenschaft an sich. Daß Charlie studierte, bedeutete für sie dasselbe wie für unsere Mütter der alten Zeit: Lohn und Vergeltung für ihr armes, düsteres, tägliches Leben. Cenendel fand ihren Trost darin, daß ihr Sohn gelehrt war, und hielt sich für mehr als olle Landsleute. Sogar das große Glück des Schwagers Aaron Melnit, dessen Kind Mascha der Onkel heiratete, konnte ihr nicht imnonieren im Vergleich zu der Tatsache, daß ihr Charlie das College besuchte. Und wenn man Im Familitenkreise Aaron um das große Glück be- neidete, welches ihn durch Mascha getroffen hatte, so sagte sie mit gleichgültiger, aber stolzer Miene: „Der eine strebt nach Reichtum, der andere nach Gelehr- samkeit. Ich gebe meines Sohnes Kolisch(so sprach sie das Wort College aus) nicht her für des Onkels ganzes Vermögen." „Es wird euch einen goldenen Stuhl im Paradies brin» gen." antwortete einer aus der Familie spöttisch. „Einen goldenen Stuhl oder nicht;— wozu besteht die Welt? Auf unserer Welt soll man auch ein Mensch sein, nicht bloß ein Schneider," so stichelte Eenendel die ganze Familie, well alle in Amerika Schneider geworden waren. Die erste Zeit nach der Heimkehr des Onkels traf Mascha Charlie häufig. Charlie kam oft zu Onkel Aaron und ging
dann mit Mascha zu einer Unterhaltung, zu gemeinsamen Be- kannten, zu Vorlesungen oder auch hier und da ins Tbeater, wenn er Geld hatte. Mascha beobachtete, wie auf Charlies Oberlippe das schmale Schnurrbärtchen sproßte und seine Wangen sich mit einem flaumigen, dünnen Backenbart be- deckten. Sie liebte es, wenn er über Bücher sprach, die er ge» lesen hatte, über sein College und über den Sozialismus, für den er sich schon damals interessierte. In diesen Gesprächen erschien ihr Charlie unendlich klug— doch wenn die Mädchen ansingen, ihn aufzuziehen, da wurde er rot und wußte keine Antwort. Mascha bereitete es großes Vergnügen, zuzusehen, wie Charlie verlegen dastand und ihre Freundin Cilli ihn aus- lachte und ihn mit seinem Schnurrbärtchen aufzog, das nicht an der richtigen Stelle wachse— und Charlie stand da mit seinen großen, langen Händen, rot vor Verlegenheit, und lächelte ungeschickt. „Never mind, wenn er erwachsen ist. wird er sich den Schnurrbart rasieren lassen," so befreite ihn eine Freundin aus der unangenehmen Situation. „Charlie, bitte, Charlie, rasiere dir nicht den Schnurr- bart!" bat Mascha.„O, wenn ich ein Mann wäre, ich ließe mir einen so großen Schnurrbart wachsen, nicht einen solchen wie deiner, der aussieht wie mit Ruh angemalt." Die Mädchen kichern, und Charlie, der kluge, gebildete Charlie mit dem geflickten Hemdkragen, cm dem der Lein- wandfiicken zu erkennen ist, den die Mutter erst gestern darauf- genäht hat, steht verlegen da. Der Onkel bemerkte, daß Charsie zu oft zu Mascha kam und gab ihrem Vater Aaron einen Wink: „Insten, Aaron. I liice(„Höre, Aaron, ich liebe es"), daß Mascha ihr Vergnügen hat. Ich habe gar nichts da- gegen, daß sie mit Charlie ausgeht, aber nicht mehr. Wateh, Anron, acht geben!" „Was spricht der Onkel da, das Kind stirbt doch für den Onkel." versicherte Aaron. Plötzlich aber hörten Charlies Besuche auf.„Pa" sagt. Charlie habe sich in die Politik eingelassen, er sei Sozialist ge- worden und halte Reden an den Straßenecken. Pa sagt auch, der Sozialismus fei keine gute Politik, weil die Sozialisten nicht die geringste Aussicht hätten, bei den Wahlen durchzu- dringen.'Wenn es schon Politik sein muhte, da hätte sich Charlie den Demokraten anschließen sollen, sagt Pa, oder den Republikanern: dann hätte er wenigstens für diese Tätigkeit das Kollcgiengeld bezahlen können und Aussicht auf ein gutes Fortkommen gehabt. Aber bei den Sozialisten kann Charlie gar keine Aussichten haben, weil sie bei den Wahlen nicht durchdringen können. Charlie kam nicht: Mascha dachte nicht an ihn. Doch seit sie Braut geworden ist. hat sie gerade den Wunsch, Charsie
wiederzusehen. Sie hat etwas Furcht vor ihm. Furcht? Eigentlich nicht. Aber sie schämt sich.' Das hält sie davor zurück, Charlie aufzusuchen; aber warum soll sie sich eigentlich schämen? Sie möchte ihn doch so gerne sehen... Sie fühlt, sie hat ihm etwas sehr Wichtiges zu sagen, doch sie kann nicht darauf kommen, was sie ihm eigentlich sagen will. Und eines Morgens stand Mascha nach einer schlaflose» Rächt hastig auf und empfand, sie hätte sich vor niemandem zu schämen. Sogar vor Charlie nicht. In ein paar Wochen würde sie ja ohnedies sterben. Weshalb sie so fest überzeugt war. ste würde sterben, das wußte sie nicht. Doch ihr war klar, es werde ihr etwas geschehen— und in aller Früh eilte ste zur Tante. Sie wußte, daß sie Charlie zu Hause treffen würde: demnach der Arbeit, spat am Abend, schläft Charlie am frühen Morgen noch fest. Sie hatte Lust, Charlie zu einem Spaziergang durch die Fünfte Avenue in den Zentral» park mitzunehmen, wo sie beide oft gewandert waren, ehe sie de? Onkels Braut geworden war, zu der Zeit, da Charli» sie noch besuchte. Mascha war neugierig, ob Charlies Schnurr» bart schon starker war und ob er ihn wirklich nicht rasierte, wie er ihr einmal im Scherz versprochen hatte. Schämen braucht sie sich wirklich nicht— Cbarlie weiß ja nicht, daß sie ohnedies nicht Hochzeit haben wird, er weiß ja nicht, daß sie bald sterben wird. 7. Charlie Melnik. Mascha fand Charlie schlafend. Die Tante empfing über» rascht. „Charlie, Charlie, schau nur, wer da ist!" Langsam kam Charlie aus dem zweiten Zimmer, den Haarschopf verrauft und voll Federn. Seine feurigen. schwarzen Zlugen waren weit ausgerissen. Mascha halte recht behalten— er rasierte sich den Schnurrbart nicht; der Schnurr- bart war so klein und dünn, daß' es eigentlich nicht lohnte» ihn zu rasieren. Doch die jungen Härchen waren kohlschwarz und gaben seinem kindischen Burschengesicht etwas Mann- liches. Charlie wurde verlegen, als er plötzlich Mascha sah.' Sein Burschengesicht war mit einem Male mit Blut über- gössen; auch das Sttick seines Körpers, das aus den Kleidern heraussah, war blutübergossen. Aus den Kleidern aber sah ein großes Stück seines jungen Körpers, denn Charlie stand im bloßen Nachthemd. Einen Augenblick lang wußte Charlie vor Ueberraschuna nicht, was er tun sollte und blieb mit nackten Füßen und nackten Armen starr stehen: erst die Mut» ter erinnerte ihn an seinen Aufzug: „Charlie, was tust du?" Charlie verschwand im nächsten Zimmer. Mascha lochte. Die Mutter entschuldigte ihn: „Die Hitze ist nicht auszuhaltenl Am liebsten ginge man nackt herum r_ �__(Fortsetzung folgte j