Einzelbild herunterladen
 

Sonntag ?H. Mai ,926

Unterhaltung unö ÄVissen

Seilage Ses vorwärts

/lnjuta. Von Anton Tschechow .

Im billigsten Zimmer des Pensionats.Lissabon" geht der Stu- dcnt der Medizin Stepan Klotschkow auf und ab und memoriert sein Pensum. Vom unausgesetzten, angestrengten Sprechen klebt ihm die Zunge am Gaumen, der Mund ist ihm ganz trocken geworden und auf der Stirn stehen dicke Schweißtropfen. An dem mit Eisblumen überzogenen Fenster sitzt auf einer Fußbank Anjuta, eine kleine, magere, sehr blasse Blondine von 25 Jahren mit sanften, blauen Augen. Den Kopf tief herunter- beugend, bestickt sie Kragen von Männcrhemdcn mit rotem Zwirn. Die Arbeit ist eilig... Auf dem Korridor schlägt es 2 Uhr nach- mittags, ober das Zimmer ist noch nicht aufgeräumt. Eine zer- knüllte Bettdecke, umhergeworfenc Kissen, eine große schmutzige Waschschüssel mit Seifenwosser, in dem Zigarettenrest« schwimmen, Kehricht auf dem Fußboden das alles zusammen macht einen unfreundlichen, sogar widerlichen Eindruck... .Die rechte Lunge besteht aus drei Lappen," memoriert der Student.Der obere Lappen reicht vorn bis zur 4.-3. Rippe, seitlich bis zur 4. Rippe hinten bis zum Schulterblattkamm... Bemüht, dos eben Gelernte sich vorzustellen, erhebt.Klotschkow die Augen zur Decke, aber da er kein klares Bild erhält, beginnt er durch die Weste seine Rippen zu betasten. .Diese Rippen sind wie die Klaviertasten," sagt er..Eine von der anderen gar nicht zu unterscheiden. Da muß man ordentlich aufpassen, wenn man sich nicht irren will. Am besten ist'», am Skelett oder am lebendigen Menschen zu studieren... Weißt du, Anjuta, komm' doch mal her! Ich werde mich an dir üben!" Anjuta läßt die Arbeit sinken und zieht die Taille au». Klatsch- low setzt sich ihr gegenüber, runzelt die Stirn und fängt an, ihre Rippen zu zählen. ,chm... die erste Rippe kann man nicht fühlen... die wird vom Schlüsselbein bedeckt... das hier wird die zweite Rippe sein... Richtig... Was krümmst du dich so?" Du Host solch kalte Finger!" Ra, na... Wirst nicht davon sterben. Sitz' still. Also da? ?ft die dritte Rippe und das die vierte.... du siehst so mager aus, aber die Rippen sind kaum zu fühlen. Das ist die zweite... das die dritte... Rein, so irrt man sich, das' gibt kein Nares Bild... Man muh es aufzeichnen... Wo ist der Stift?" Klotschkow nimmt den Stift und zeichnet damit auf Brust und Rücken Anjutas einige parallele, den Rippen entsprechende Linien. Ausgezeichnet! Jetzt werden wir die Sache gleich haben. So... und nun wollen wir pertutieren. Steh' mal auf!" Anujta steht auf und hebt das Kinn empor. Klotschkow be- ginnt sie zu beklopfen und vertieft sich derart in seine Beschäftigung, daß er nicht bemerkt, wie die Lippen, die Rase und die Finger des Mädchens blau werden. Anjuta zittert vor Kälte, fürchtet aber gleichzeitig, der Student könnte ihr Zittern bemerken, mit seiner Arbeit innehalten und später aus diesem Grunde vielleicht da? Examen nicht bestehen. Jetzt ist mir olles klar," sagt Klotschkow, indem er eine Paus« macht.Bleib' so sitzen und wisch' die Strich« nicht ab. Ich wieder- hole derweil die Sache ein paar mal." Und der Student beginnt wieder auf und ab zu gehen und zu lernen. Wie tätowiert, mit schwarzen Streifen auf Brust und Rücken, sich vor Kälte krümmend, sitzt Anjuta quf ihrer Fußbank am Fenster und denkt. Sie spricht überhaupt sehr wenig, sondern schweigt meistenteils und denkt nur immer... Während der ganzen sechs Jahre, die sie sich nun schon im Stu- dentcnviertel herumstößt, hat sie fünf solche wie Klotschkow kennen gelernt. Sie alle sind längst mit ihrem Studium fertig, hoben Karriere gemacht und. wie es sich für ordentliche Leute gehört. schon lang« vcrgesien, daß sie eimnal eine Anjuta gekannt haben. Der eine lebt in Paris , zwei sind Aerzte, der viert« ist Maler, und der fünfte, wie man erzählt, sogar schon Professor. Klotschkow ist der sechste... Bald wird auch er ausstudiert haben und Karriere machen. Ohne Zweifel die Zukunft ist schön, und aus Klotschkow wird wahrscheinlich noch einmal etwas Bedeutendes werden, ober die Gegenwart ist traurig: Klotschkow hat keinen Tabak, keinen Tee, nur noch vier Stückchen Zucker. Sie muß so schnell wie möglich die Stickerei beendigen und abliefern, um ihm für die erhaltenen 25 Kopeken Tee und Tabak zu kaufen. Dorf man eintreten?" ertönt plötzlich eine Stimme hinter der Tür. Anjuta wirft schnell ein wollenes Tuch um. Der Maler Fetisow tritt ein. Ich komme mit einer Bitte zu Ihnen," fängt er an. Klatsch- low berüßend und sich im Zimmerchen umschauend.Tun Sie mir den Gefallen und borgen Sie mir für zwei Stunden Ihre Anjuta! Ich male nämlich an einem Bild und ohne Modell geht's absolut nicht!" Aber mit Vergnügen!" willigt Klotschkow ein.Geh, Anjuta!" Das fehlt noch gerade!" sagt Anjuta leise. Still! Er bittet der Kunst wegen und nicht so zum Spaß. Warum nicht helfen, wenn man helfen kann?" Anjuta beginnt sich anzuziehen. lind was malen Sie?" fragt Klotschkow. Eine Psyche. Eine schönes Sujet, aber es will mir nicht recht gelingen. Ich muß nach verschiedenen Modellen aicheitcn. Gestern malte ich ein« mit blauen Füßen. Warum'hast du so blaue Füße, frage ich. Die Strümpfe färben ob. sagt sie... lind Sie ochsen noch immer? Glücklicher Mensch! Sic haben wirklich Geduld!" Mit der Medizin ist das so'ne Sache, wissen Sie... Ohne Auswendiglernen kommt man da nicht weiter." chm... Entschuldigen Sie, Klotschkow, aber Sie wohnen schrecklich unsauber! Der Teufel weiß, wie sie wohnen!" Weshalb? W-e soll ich denn anders wohnen? Von chause bekomme ich nur zwölf Rubel monatlich, und für das Geld sollen Sie's mir mal vormachen, anständig zu leben!" Das ist ja wahr..." sagt der Maler und runzelt voll Ekel die Stirn.Aber immerhin kann man doch besser wohnen... Ein intelligenter Mensch muß unbedingt Aesthetiker sein, nicht nrehr? Bei Ihnen ober sieht's der Teufel weiß, wie aus. Das Bett nicht gemacht, Spülwasser, Schmutz... da auf dem Teller »roch die Grütze von gestern... pfui!" Da» ist ja richtig." sogt der Student verwirrt.Aber An»

Umzug in der Wilhelmstraße.

Schoo wieder zieht ein Mieter aus! Mch diesen mußt' ich exmittieren. Oer nahm sich vor, das ganze Hans Mit Schwarzweißrot zu tapezieren. �luch der hielt nicht, was er versprach.

Ich mache ihm drei kreuze nach. Nun zahl ich noch die Spedition 5ür alle seine heil'gen Güter. voch quält mich jetzt die Irage schon: Wer ist der nächste Untermieter!

juta Hot heute noch keine Zeit gehabt, aufzuräumen. Den ganzen Tag beschäftigt..." Als der Maler und Anjuta fort sind, legt Klotschkom sich aufs Sofa und fahrt in feiner Arbeit fort. Dann schläft er unversehens ein, und als er noch einer Stund« erwacht, stützt er den Kopf auf die Faust und beginnt düster nachzudenken. Er erinnert sich der Worte des Malers, daß ein intelligenter Mensch unbedingt Ars- thetiker sein müsse, und seine Umgebung kommt ihm mit einemmal widerlich, abstoßend vor. Er sieht, gleichsam mit dem geistigen Auge, in die Zukunft, wie er im Sprechzimmer seine Patienten empfangen, im geräumigen Speisesaal mit seiner Frau Tee trinken wird, und jene Schüssel mit Seifenwasser, aus dem Zigaretten- reste schwimmen, erscheint ihm unglaublich häßlich. Auch Anjuta kommt ihm häßlich, unsauber, elend vor, und er beschließt, sich von ihr zu trennen, sofort, auf jeden Fall. Als sie, vom Maler zurückgekehrt, das Jackett auszieht, erhebt er sich untz sagt ernst: Hör' mal, mein Kind... Setz' dich und hör' zu. Wir müssen uns trennen! Kurz gesagt: ich wünsche nicht länger mit dir zu leben." Anjuta ist müde und abgespannt vom Maler zurückgekommen. Ihr Gesicht ist vom langen Modellstehcn eingefallen, abgezehrt, das Kinn spitz. Sie findet keine Entgegnung aus die Worte des Stu- dentcn, nur ihre Lippen beginnen zu zittern. Du mußt doch selbst einsehen, daß wir uns so wie so, früher oder später, hätten trennen müssen," sagt der Mediziner.Du bist brao und gut, du bist nicht dumm, du verstehst..." Anjuta zieht ihr Jackett wieder an, wickelt schweigend die Stickerei in Papier und sucht Zwirn und Radeln zusammen. Dann nimmt sie die vier Stückchen Zucker vom Fenster und legt sie neben die Bücher auf den Tisch. Das ist dein... Zucker..." sagt sie leise und wendet sich fort, um die Tränen zu verbergen. Na, was weinst du?" fragt Klotschkow, unruhig im Zimmer aus und abgehend.Du bist wirklich sonderbar... Du weißt doch selbst, daß wir uns unbedingt trennen müssen. Wir können nicht ewig zusammen bleiben." Sie hat schon ihr Bündelchen gepackt und wendet sich ihm zu, um Abschied zu nehmen. Plötzlich tut sie ihm leid. Ob ich sie nicht noch eine Woche behalte?, überlegt er. Meinet- wegen, mag sie noch bleiben. Noch einer Woche muß sie bestimmt gehen. Und ärgerlich über seine Schwäche, fährt er sie böse an: Na, was stehst du noch? Wem: gehen, dann gehen! Wenn du aber bleiben willst, dann zieh' das Jackett aus und bleib'!" Anjuta zieht das Jackett aus, seufzt leise, schnaubt sich die Nase, seufzt wieder und wendet sich geräuichlas ihrem perma- menten Platz dem Fußbönkchen am Fenster zu. Der Student greift nach seinem Lehrbuch und beginnt wieder. aus einem Winkel m den anderen zu gehen.

Die rechte Lunge besteht aus drei Lappen"... memoriert er.Der obere Lappen reicht vorn bis zur 4. 5. Rippe..." Im Korridor schreit jemand. Gregor, den Samovar!" <D eu t s ch von I o s e p h s o h n.)

Wie ich schuhplatteln lernte. Don Adolph Hofsmann. Vom lt. bis 20. September 1902 tagte in München der Partei- tag der Sozialdemokratie. Manche heißen Kampfe spielten sich hier zwischen Nord- und Süddculschland ab. Der ungekrönte Baycrnkönig der Soziaidemo- kratie, Georg von Vollmar , besaß eine unbestrittene Autorität weit über die Grenzen Bayerns hinaus und nutzte dieselbe klug und geschickt aus. Deshalb gelang es ihm auch, selbst dort, wo seine Argumente nicht ganz schlussig waren, durch bayerische Derbheit und Witz seinen Kops selbst gegen August Bebel und Wilhelm Liebknecht durchzusetzen. Aber die Münchencr sorgten auch sür Entlüftung der erregten Gemüter durch schöne Kellerseste, mit denen man gleich am Sonmag, den 14. September, in der Schwabinger Brauerei bei Eröffnung des Parteitages begann. Ich hatte lange Zeit meiner hcruntergekomnicnen Nerven wegen wenig oder gar leinen Alkohol zu mir genommen. Daß ich aber hier echtes Münchener naschen würde, war ebenso selbstverständlich wie die Teilnahme an einem späteren feuchtfröhlichen Abend im hos- bräukcller. Als mir aber die Kellnerin im Schwabingcr einen ganzen Maß- trug hinstellte, war ich doch entsetzt und verlangte einen halben Liter. Ich bekam aber die echt mllnchnerische Kellnerinnenantwort:Da warten', bis Se a ganzen vertragen können." Die ganze Rasselbande am Tisch lachte und ich hatte Mühe, meinen Maßkrug, den die Kellnerin wieder wegnehmen wollte, zu behalten. Na, min glaubte ich mich für den ganzen Abend versorgt.?!ls ich aber noch etwa% Stunden den dritten Matzkrug bekam, incinte unsere hebe:Nicht wahr, unser Trank ist süssig?" Das war er wirklich. Was aber das Wichtigste: Er hinterließ auch nicht den geringsten Kopfschmerz sür den anderen Morgen. Es war ein ungetrübt fröhlicher Abend. Das scbr lebensgelreu vorgeführte haberieldtreiben erhöhte nicht nur die Stimmung, sondern auch den Durst. Daß bei diesem hoberfeldtreiben mancher bekannte Genosse zumGaudi" aller Anwesenden seinen Wischer erhielt, war selbstverständlich. Ich nehme an, wenn die Ausführung nach der Tagung des Kongresses stattgefunden hätte, wäre die Zahl derHeimgesuchten" noch viel größer gewesen. Den wirklichen Höhepunkt aber erreichte der von den Munchener Genossen zu Ehren des Parteitages arrangierte Ausslug nach dem Starnberger Se« und die Bodenschneid. Wer je einen sonnigen Tag am oder auf dem Starnberger See erlebte, wird ahne meileres dem phcmlastifchen König Ludwig II. , der in diesem sein tragisches Ende fand, zugeben inüssen, daß er in Schönheit gestorben ist. Doch zurück von den monarchistischen Abgründe» zu den bcrye-