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Abendausgabe

Nr. 243 43. Jahrgang Ausgabe B Nr. 119

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Vorwärts

Berliner Volksblatt

10 Pfennig

Mittwoch

26. Mai 1926

Berlag und Anzeigenabteilung: Geschäftszeit 9-5 Uhr

Berleger: Borwärts- Berlag GmbH. Berlin S. 68, Lindenstraße 3 Fernsprecher: Dönhoff 292-297

Zentralorgan der Sozialdemokratifchen Partei Deutschlands

Pilsudskis Programm.

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größere Präsidentenmacht.

Sturm über England.

Das Zentralproblem der sozialen Frage.

Im Herbst 1925 reisten Vertreter des Reichsarbeitsmini­steriums, der Arbeitnehmer und Arbeitgeber nach Großbritan Utraine war, Tausende von seinen Religionsgenossen habe nien, um an Ort und Stelle die britische Arbeits­hinrichten lassen. Schon damals habe er den Blan gefaßt, seine lofenversicherung zu studieren. Vom Allgemeinen Brüder zu rächen. Nach dem Kriege sei er nach Frankreich zurück- Deutschen Gewerkschaftsbund nahm an dieser Reise der Genosse gelehrt und habe sich hier naturalisieren lassen. Er habe dann er- Spliedt, vom AfA- Bund der Genosse Croner teil. fahren, daß Betljura gleichfalls in Frankreich weile und die Bei- rung in Deutschland ist es selbstverständlich von größter Be­Für die Schaffung einer endgültigen Arbeitslosenversiche tung Le Trident"(?) leite, die in ukrainischer Sprache erscheine, deutung, die organisatorischen Einrichtungen Großbritanniens und in der er eine antisemitische Propaganda betrieben fennen zu lernen, um bei der Lösung der eigenen Aufgabe bab in der er haben soll. Nuzen aus den Erfahrungen eines gerade auf diesem Gebiete beispielgebenden Landes ziehen zu können. Das ist nicht ganz einfach. Partikulare Interessen, gehüllt in den Mantel tief­gründiger Wissenschaftlichkeit, verhindern eine fruchtbare Nutz­Arbeitgeberverbände ist ein typisches Beispiel dafür. Es ist anwendung. Die Haltung der Bereinigung der deutschen deshalb auch kein Wunder, daß die Deutsche Kommission zum Studium der britischen Arbeitslosenversicherung" überhaupt zu feinem positiven Ergebnis der Nuzanwendung großbritannischer Erfahrungen gekommen ist und sich auf eine nadte Tatsachenfeststellung beschränkte.

Friedenspolitik feine Diftatur Paris , 26. Mai. ( WTB.) Marschall Pilsudski erklärte dem| Sonderberichterstatter des Matin" in Barschau über die äußere Boli­tif Polens : Meine Auffassung fann in das einzige Bort Frieden zufammengefaßt werden. Das Land ist durch den Krieg ausge­pumpt und durch innere Erschütterungen erregt. Es hat also ein dringendes Bedürfnis nach Frieden. Wir wünschen teine terri torialen Abänderungen. Wir wollen leben und uns im Wir wollen leben und was in, Frieden kräftigen. Aber wenn wir jemals a n gegriffen würden, würden wir uns verteidigen. Pilsudski erklärte sodann, er sei nicht für eine Dittatur in Polen . Er müsse aber das Recht haben, rasche Entscheidungen über Fragen von nationalem Interesse zu treffen. Die parlamentarischen 3wiſtigkeiten ver­zögerten nur die unerläßliche Lösung. Man lebe in Polen in einem gesetzgeberischen Wirrwarr, denn man habe von drei verschiedenen Etaaten Gesetze und Vorschriften übernommen. Dazu feien noch neue gekommen. Das müffe dadurch vereinfacht werden, daß man dem Staatspräsidenten Autorität verleihe. Es brauchten nicht gerade die Vereinigten Staaten topiert zu werden, in denen einer starten Zentralgewalt die weitestgehende Auto nomie der verschiedenen Staaten gegenüberstehe, aber man müffe etwas Aehnliches fuchen, was für Bolen anwendbar sei.

Diefer letzte Satz scheint zur Beruhigung der Posener und ostoberschlesischen Reaktionäre bestimmt zu sein, denen die Möglichkeit einer Autonomie versprochen wird. Vielleicht soll diese Aeußerung auch die Sozialisten und Minderheits­rölfer befriedigen, die die Autonomie für die geschlossen fiedelnden Ukrainer und Weißruffen, die fulturelle Selbstver maltung auch für Deutsche und Juden fordern. Dagegen lehnen die Linksparteien, wie schon gemeldet, eine dauernde Erweiterung der Präsidentenrechte ab.

Die Ermordung Petljuras. Rache für Pogrome.

Paris , 26. Mai. ( WTB.) Zur Ermordung des ukrainischen Boli titers Petljura wird weiter befannt, daß Petljura auf offener Straße erschossen worden ist. Ueber den Ursprung des Atten­tats erfährt Havas, daß der Mörder Schwarzbarth ein utrai­mischer Jude ist, der während des Krieges im französischen Heere als Freiwilliger diente, und der von der franzö­fischen Regierung damals nach Petersburg entfandt wurde. Dort habe er erfahren, daß Petljura , der 1917 Gouverneur der

Provokateure an der Arbeit?

Zusammenstöße in Neukölln.

Gestern abend haben sich in Neukölln zwischen Rom­munisten und Stahlhelm- Anhängern schwere 3u fammenstöße ereignet. Nach den anfänglichen Meldungen schienen diese Zusammenstöße nicht erheblich zu sein. In zwischen hat sich aber doch herausgestellt, daß sie einen größeren Umfang angenommen haben. Das Polizei­präsidium verbreitet folgende amtliche Darstellung:

Im Laufe des gestrigen Nachmittags und Abends ist es in Neukölln zu erheblichen Ruhest örungen gekommen. Am Nachmittag versuchte eine Anzahl Mitglieder des Roten von Stahlhelmleuten, die sich an einer Beerdigung Fronttämpferbundes Zusammenstöße mit zwei Gruppen beteiligt hatten, herbeizuführen. Die Stahlhelmleute zogen fich schließlich in das Deutsche Wirtshaus in der Bergstraße in Neukölln zurüd, wo sie von einer immer mehr anwachsenden Menge belagert wurden. Die Polizeibeamten räumten wiederholt die Straße, doch wuchs die Menge infolge Zuströmens rabauluftiger Elemente zeitweise auf mehrere Tausend an. Auch als die Stahlhelmleute das Deutsche Wirtshaus durch eine Hintertür ver lassen hatten und nachdem auch auf der anderen Seite der Rote

Die Angaben Schwarzbarths.

Paris , 26. Mai. ( WTB.) Der Attentäter Samuel Schwarz­barth erflärte nach dem Matin" bei seiner ersten amtlichen Ber. nehmung folgendes: 1917 gehörte ich einer französischen Militärmission an, die sich nach Petersburg und Odessa be­gab. Zu dieser Zeit erzählte man mir von Judenmassaters in der Ukraine , deren provisorischer Regierungschef Petljura war. Von den Sowjets verdrängt, mußte sich Petljura nach Polen und der Tschechoslowakei begeben, wo er die Juden weiter mit seinem verfolgte. In diesem Augenblick entschloß ich mich, meine Brüber zu rächen, und diesen Mann zu töten. Eines Tages erfuhr ich, daß er sich in Baris niedergelassen habe, und hier eine Zeitung in ukrainischer Sprache, den Trident", herausgab, und daß er nicht darauf verzichtet habe, seinen Kampf gegen Rußland und gegen die Juden fortzusetzen. Nun faufte ich einen Revolver und begann, Betljura zu suchen. Vor 14 Tagen begegnete ich ihm endlich. Er trat aus einem Restaurant heraus, und da er von feiner Frau und einem jungen Mädchen begleitet war, wollte ich nicht auf ihn schießen, um nicht die Frau oder das Mädchen zu verletzten. Heute habe ich ihn endlich wieder erwischt, und ich habe ihn nicht verfehlt. Tant mieux!( Um so besser!)

Schwarzbarth ist naturalisierter Franzose, der seit fünf Jahren in Paris einen gutgehenden Uhrenhandel betreibt. Die Polizei hat übrigens gestern in der Wohnung Petljuras Siegel angelegt, ba fich dort angeblich eine ganze Anzahl wichtiger diplomatischer Dokumente befinden soll.

Eine solche Versiegelung dürfte vom französischen Auswärtigen Amt vielleicht auf Verlangen Polens oder auch anderer Mächte veranlaßt worden sein. Betljura war an den Aftionen gegen Sowjetrußland beteiligt, die ja nicht allein von russischen Antibolsche­wisten unternommen, finanzert und bewaffnet worden waren.

dürfte der Beweis erbracht sein, daß bei diesen Zusammenrot tungen offenfundige Provotateure beteiligt gewe­sen sind. In welchem Lage r die Provokateure zu suchen find, fann feinem Zweifel unterliegen. Die Hugenberg­Preffe hat so eindeutig die Pläne der Reaktion auf Provo­zierung fommunistischer" Unruhen flargelegt, daß nie mand mehr ihr Entrüstungsgeschrei über solche Unruhen wird ernst nehmen können. Erfreulicherweise sind diese Zusammen­ftöße ohne ernste Folgen abgegangen, fie zeigen aber, wie not­wendig es ist, ein wachsames Auge für alle die zu haben, die im Trüben fischen möchten. Es besteht nicht die geringste Besorgnis, daß die Polizei ihrer Aufgabe nicht gewachsen sein würde. Es muß aber dafür gesorgt werden, daß solche Hoffentlich sind auch die Kommunist en vernünftig genug, Propofationen überhaupt gar nicht erft Erfolg haben können. einzusehen, daß sie alle Veranlassung haben, den Reaktionären nicht den Gefallen zu tun, den man von ihnen erwartet. Die 3uspigung des politischen Kampfes um den Volksentscheid wird noch oft genug die Situationen schaffen, in denen Provokateure hoffen fönnen, auf ihre Rechnung zu kommen. Das muß mit allen Mitteln verhindert werden.

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Eine größere Anzahl von Personen wurde teils erheblich

Strafverfolgung Wulles.

Fronttämpferbund seine Mitglieder einigermaßen vollzählig verlegt. Ein Mann wurde mit einer schweren Schädel herausgezogert hatte, dauerien die Ruheſtörungen noch fort. Der verlegung in das Neuköllner Krankenhaus eingeliefert, tonnte Straßenverkehr wurde erheblich behindert. Die Polizei aber nach Anlegung eines Rotverbandes entlaffen werden. Auch auf beamten wurden mit Steinen beworfen und durch wilde und der Rettungsstelle 5 in der Erfstraße mußten 4 Personen ärzt beschimpfende Zurufe beleidigt und provoziert. Da es der Boliche Hilfe in Anspruch nehmen. Es besteht die Vermutung, lizei trotz der zeitweiligen Sperrung der Straßen für jeden Verkehr daß weitere Personen bei den Zuſammenſtößen verletzt wurden, und trotz wiederholter Säuberung der Straßen nicht gelang, die die sich aber in privatärztliche Behandlung begeben haben. in den Nebenstraßen, in den Hausfluren und in den umliegenden Wirtschaften sich ansammelnden radauluftigen Elemente zu zer­streuen, wurden schließlich die im Mittelpunkt der Ruhestörungen liegenden Hausflure und Gastwirtschaften geräumt und geschlossen. Darauf trat allmählich Ruhe ein, und da auch die Kommu Beim Preußischen Landtage ist jetzt der Antrag des preußischen nistenführer sich bemühten, die Menge zum Auseinander Justizmiifters auf Genehmigung zur Strafverfolgung des gehen zu bewegen, fonnte die Polizei in erheblichem Umfange auf völtischen Abgeordneten Wulle wegen des Berdachts der An das Revier zurückgezogen werden. Einen eigentlichen politischen stiftung zu politischen Attentaten eingegangen. Das Schreiben um Charakter haben die Ruheſtörungen nicht gehabt. Ernstere Berfaßt mit der näheren Begründung des Antrages nicht weniger als legungen sind nicht vorgekommen. Sieben Beamte wurden zwölf Seiten. Es wird zunächst dem Geschäftsordmungsausschuß des durch Steinwürfe leicht verlegt, außerdem eine Anzahl der Landtages überwiesen werden, der über die Aufhebung der Immuni­Ruheftörer durch Schläge mit dem Gummifnüppel. Die Polizei tät zu beschließen hat. nahm insgesamt 27 3wangsgestellungen vor.

Bemerkenswert ist, daß einer der festgenommenen Hauptruhe­ftörer außen auf dem Rod ein Reichsbannerabzeichen, auf der Weste aber ein Hakenkreuz trug, außerdem noch ein Abzeichen des Roten Frontfämpferbundes.

Das Auffallendste an der polizeilichen Meldung ist die Feststellung, daß einer der Festgenommenen nicht weniger als drei verschiedene Abzeichen geführt hat. Damit

Bon Rube noch keine Rede.

Die endgültige Entscheidung trifft dann der Landtag selbst. Die nächste Sigung des Geschäftsordnungsausschusses findet bereits am Montag statt. Der Fall Bulle steht allerdings noch nicht auf der Tagesordnung. Es liegt aber im Ermessen des Borsitzenden, diese Angelegenheit noch zur Berhandlung zu stellen.

Bein Reichstag ist ein ähnlicher Antrag gegen den völkischen Abgeordneten Kube, wie er vom preußischen Justizministerium angekündigt wurde, bis jetzt noch nicht eingegangen.

gleich Null. Wichtiger jedoch als das Studium der organisa­Das offizielle Ergebnis dieser Studienkommission ist also torischen Einrichtungen ist das Studium der Ursachen des Arbeitslosenproblems in Großbritannien . stoßen wir auf das Zentralproblem der sozialen Frage, nicht Hier nur in Großbritannien , ebenso auch in Deutschland wie in der ganzen Welt.

Berlin , unter dem Titel: Sturm über England" ein In diesen Tagen erscheint im Industriebeamtenverlag, Buch, das sich mit den Problemen der Arbeitslosigkeit in Großbritannien ausführlich auseinandersetzt. Sein Verfasser ist Friz Croner, der Leiter der sozialpolitischen Abteilung des Deutschen Werkmeisterverbandes, der als Vertreter des AfA- Bundes an jener Studienreise nach Großbritannien teil­nahm.

Und

Seit Jahren lastet auf Großbritannien eine riesen­hafte Arbeitslosigfeit. Alle Versuche, ihrer Herr zu werden, sind bisher gescheitert. Aber die in ihr liegenden fozialen Gefahren haben wenigstens im Gegensatz zu Deutsch­ land dazu geführt, daß man versucht, sich mit den ökono mischen Ursachen ernsthaft auseinanderzusetzen. so wird hoffentlich dieses Buch dazu beitragen, daß man auch bei uns anfängt, sich tiefer mit diesem Fragenkompler zu befassen. Wir haben wiederholt auf diese Notwendigkeit hin­gewiesen. Viele Anzeichen sprechen dafür, daß auch bei uns die große Arbeitslosigkeit zu einem Dauerproblem geworden ist, dem man nur mit ernst­haften ökonomischen Maßnahmen zu Leibe rücken kann. Von einer solchen Einsicht ist unsere Reichsregierung allerdings noch weit entfernt. Zwar hat der Reichsarbeits­minister Dr. Brauns bei den letzten Etatsberatungen zu­gegeben, daß wir mit einer größeren Arbeitslosigkeit auf lange 3eit zu rechnen haben. Dennoch ist man im Reichsarbeits­ministerium von jener in England längst vorhandenen Ein­ficht, der G. Nicholls in seiner History of English Poor Law mit den Worten Ausdruck verlieh, daß es unter solchen Um­ständen billiger sein kann, den leeren Magen zu füllen, damit er wieder gehorsam wird, als die hungernden Elenden durch Waffengewalt zu zwingen, das Roastbeef ihrer Nachbarn zu respektieren, noch weit entfernt.

Anders ist die Haltung des Reichsarbeitsministeriums bei der Neuregelung der Erwerbslosenfürsorge nicht zu verstehen. Ist die Arbeitslosigkeit in Deutschland eine langandauernde Erscheinung, dann sind die gegenwärtigen Unterstützungssäge erst recht eine beispiellose Sünde an der Nation, weil ihre Unzulänglichkeit ein gewaltiges Stüd Volkskraft zerstört. Was lehrt die Entwicklung in England?

Zunächst an Hand der Untersuchungen Croners einige Tatsachen.

arbeitslose Mitglieder; 1911 waren es 3 Broz., 1912 3,2 Broz., Vor dem Kriege hatten die Gewerkschaften 2 bis 3 Proz. 1913 2,1 Proz. Im Februar 1926 find es 10,6 Proz., bei den gegen Arbeitslosigkeit Versicherten sogar 11,1 Proz. In Bahlen ausgedrückt beläuft sich das Heer der Arbeitslosen im Jahre 1913 auf rund 200 000, steigt 1914 eine furze Zeit auf 700 000, um dann in den darauf folgenden Jahren bis Ende 1918 fast ganz zu verschwinden. In den Jahren 1919 und 1920 bewegt fich die Zahl der Arbeitslosen um 200 000, fie steigt Ende 1920 auf 600 000, um dann im Verlaufe des Jahres 1921 auf über zwei Millionen zu steigen. In immer über eine Million! Zu diesem offiziellen den nachfolgenden Jahren bleibt das Heer der Arbeitslosen Heer der Arbeitslosen kommt das inoffizielle, das sich bei den Armen unterstüßten befindet. Es ist sehr interessant, bei Croner nachzulesen, wie die Verminderung der Arbeits­lofenzahl im November 1925, die die Regierung Baldwin fich als besonderes Verdienst anrechnete, in der Vermehrung der Armenunterstüßten wiedererscheint.

Nichts charakterisiert den Widersinn fapitalistischen Pro­duzierens treffender als die Tatsache, daß einer erhöhten Produktionsfähigkeit eine erhebliche Produktionsminderung gegenübersteht. Die volle Ausnutzung der Produktionsfähig feit würde bedeuten die Eingliederung des Ar­beitslosen heeres in den Produktionsprozeß. Warum geschieht das nicht? Die Vermehrung der Produktion ist doch auch die Voraussegung einer Erhöhung der gesamten Lebens­haltung. Des Rätsels Lösung liegt in der Tatsache beschloffen,