!Tr. 256 ♦ 45. Jahrgang
7. Heilage öes Vorwärts
Donnerstag, 5. Juni 1426
r Letzte
II.») Die letzte Station des Rundganges durch das Berliner Arbeitshaus in Rummclsburg war das Lazarett der> Frauenabteiluno. Es ist derselbe freudlose Raum, roie drüben bei den Männern. Eine Ecke macht eine Ausnahme; in der liegt eine >cit II Jahren gelähmic chospitalitin. Sie hat neben ihrem Bett eine kleine Stellage von Wandbrettern, auf denen sie chandarbeits- Material usw. unterbringt. Und sie hat Radio! Das Radio wurde von einer Wohlsahrtsstelle gestiftet. Ich fühle förmlich, wie der Herr Oberinspektor aus meinen Bewunderungsausruf wartet. Radio im Ochsenknpp! Aller Komsort der Neuzeit! Wenn dos nicht jede Skepsis totschlägt!— Aber gleich danach erfahre ich, daß die gc- lähmten Patientinnen(es sind drei) nicht hinaus in den chofgarten gefahren werden können; der einzige Fahrstuhl ist in sehr wackliger Verfassung. Man müßte sich vom Männcrla.zarctt einen Stuhl borgen. Der wird da auch gebraucht. Das Runterbringen über die Treppe ist sehr beschwerlich, da haben die Patientinnen„freiwillig" auf diese Ausflüge auf das„Garten" getaufte Hofviereck verzichtet. Veranden auf gleicher Höhe wie der Saal existieren nicht. Die drei Gelähmten— zwei Frauen, ein junges Mädchen— sehen tagaus, togcin, Winter wie Sommer, dieselben grauen Wände, die Gesichter ihrer Leidcnsgcsährtinnen; hinaus kommen sie nie. Schicksale. Wer kommt in den ,.O ch s e n k o p p"?—„Wir hoben wirklich nur den Ausschuß von allem," wird von der Direktion geantwortet. „Wir bekommen nur vorbestrafte Hospitaliten oder solche, die sich in anderen Hospitälern durch Unverträglichkeit. Aufsässigkeit oder Trunksucht unmöglich gemacht hoben. Von den Korrigenten aber werden die wirklich geschickten, gut arbeitenden Leute van der Pro- vinz bei den örtlichen Anstalten zurückbehalten; uns schickt man nur den Ausschuß und wir müssen, ihn nehmen. Wir sind richtig„Ab- scdestclle".— Drei Schicksale, beliebig herouegegrifsen, können zeigen, was hier zum Schutt gerechnet wird— und wie diese Menschen hierher gelangten.
») Siehe auch Nr. 250 des„Vorwärts" vom 30. Mai 1926.
der fllte. Ludwig G. ist 71 Jahre. Ein großer, bedächtiger, alter Man». Seine Akten zeigen keine Disziplinarstrafe aus, nach der Auskunft der Verwaltung hat er sich immer tadellos geführt, trinkt nicht, hat bis zum vorigen Jahre sich immer im Sommer Urlaub geben lassen, um noch als Biehhüter ein paar Groschen zu verdienen. Wie kommt der Alte hierher?—„Ja, gelernt habe ich mal Seiler. Ich bin im Posenschen geboren, aber evangelisch. Als ich 14 Jahrs alt war, sind meine beide» Eltern in einer Woche an den Pocken gestorben. Da mußte ich denn fünf Jahre lernen, weil für mich weiter kein Lehrgeld gegeben wurde. Aber dann bin ich noch Russisch- Polen gemacht und habe Arbeit und guten Verdienst gehabt. Wie ich nieinen Paß erneuern wollte, hat man mich sestgehalten; ich sollte erst dienen. Da sing mein Unglück an. Ich kriegte einen schlechten Vorgesetzten, und wie der mir mal eine Ohrfeige gehauen hat, habe ich wiebergeschlaoen— aber gleich ordentlich, denn ich war ein kräftiger jünger Kerl. Da habe ich 211 Jahre Festung gekriegt, und wie ich rauskom, gab es für mich keine Arbeit. Dann kamen auch die Maschinen, das Gewerbe ging zurück. Da habe ich mir das Mähen angenommen und bin immer aufs Land gemacht. B'S dos nicht mehr recht konnte, dann bin ich bei das Vieh gegangen. Wie ich alt wurde, haben sie mich im Winter nicht mehr behalten. So bin ich auf die Straße gekommen."— Das alte Lied. Der „Putz ", der„Spitztopp"(Gendarm) hat ihn dann beim„Klinken- putzen", beim Ansprechen erwischt, und Ludwig G. wurde Zlmal wegen Betlelns bestrast t Zweimal Hot man ihn dafür auf je zwei Jahre ins Arbeitshaus gesteckt.— Er ist nüchtern, fleißig, sparsam. zuverlässig. Was tut das?— Er ist vorbestraft, ist ein früherer Korrigent. Daß er das Opfer unseres(hoffentlich) endgültig über- wundenen Militärsystems, unserer industriellen Entwicklung ist, kommt daneben gor nicht in Betracht. Raus mit ihm auf den Schutthaufen! Vorbestrast! Noch dazu Bettelei! Alter Kunde!— Und so sind dem alten Mann die Hospitäler der ehrbaren Bürger verschlossen, so muß er seinen Lebensabend zwischen gesängnis- gleichen Ziegelmauern, bei elender Kost, mit„Trunkenbolden und Unverträglichen" verbringen. das junge Mäüchen. Sie liegt im Lazarett der Frauenabteilung, liegt da seit einem Vierteljahr, ist rechtsseitig völlig gelähmt und hat eine schwere Unterleibsopcration durchgemacht. Der Vater zahlt für sie 3 M.
täglich. Sie erzählt:„Ich bin ein voreheliches Kind; meine Mutter hat meinen Vater nach kurzer Ehe verlassen. Von ihr habe ich meine Krankheit: Vererbte Lucs. Schon als Kind hatte ich eine schwere Lähmung, in der Kinderheilktätte wurde ich kuriert. Ich l'in mal bei der Großmutter, mal in Heilstätten, dann auch, zu Hause bei meinem Vater gewesen, als der sich wieder eine Frau genommen, hatte. 1922 wurde ich eines Diebstahls angeklagt; man hat mich verurteilt, ich schwöre es, ich war unschuldig! Im Gesängnis bekam ich wieder eine Lähmung, man mußte mich entlassen; ich war wieder in Behandlung, schließlich mußte ich ins Hospital. Und ich kam hierher! Mein Voter zahlt für mich: es kostet in Buch oder im Sicchcnhaus nicht mehr, man nimmt mich da nicht, ich bin ja„vorbestraft".— Hier liege ich, komme nie heraus, mein Leiden hat sich verschlimmert, die Heilmittel sind unzil- länglich, die Kost ist fade und schwer verdaulich. Das Leben hier ist unerträglich!" Das Mädel ist intelligent, hat eine gute Bildung: ob sie wirklich unschuldig verurteilt ist, kann dahingestellt bleiben. Jedenfalls war es ihre erste Strafe. Der Richter gibt oft genug in solchem Fall Bewährungssrisl; die Stadt Berlin gibt keine. Sie sperrt dos junge Mädchen zu alte» Kontrollipädchen und Säufc- rinnen. Vorbestraft! Das genügt. Der korrigenS. Otto C. sitzt freiwillig in der Arrestzelle. Das Schloß schnappt. Bon dem niederen Hocker erhebt sich langsam ein junger Mensch: er drückt sich scheu an die Wand und antwortet stockend und fast
In der Arrestzelle.
„Hat er sich so sehr über mich jcärgert?" forschte Mutter. „Ueber dich? Nein," gab Fritze zurück.„Ich habe ihm erzählt, was der Kamerad, was der Lehrer über die Bastler gesagt hat, die keine Ahnung vom Funtsystem haben und das viele mühsam verdiente Geld verpulvern." „Hättste ihm nich sagen brarichen," meinte Mutter betrübt. „Wenn er mich fragt, muß ich die Wahrheit sagen," er- klärte Fritze. .La, ja." sagte Frau Knorke gedankenvoll,„warum muß er auch über alles fragen." „Das ist doch besser, als wenn er unnütz das Geld ver- tut," meinte Anneliese altklug. „Und nun will Vater überhaupt keinen Röhrenkasten?" forschte Mutter bei Fritzen in beinahe bedauerndem Tone. „Ach ja, haben möcht er schon einen. Aber nich selber bauen, fertig kaufen." «Fertig kaufen? Watt kostet son Ding?" „Ich habe keine Ahnung, aber Kamerad— Lehrer sagte uns, manchmal kann man ganz billig zu einem guten Apparat kommen. Jetzt zum Beispiel. Eine Witwe, deren Sohn Elektrotechniker ist und'nc gute Stellung in Schweden be- kommen hat. wohin er seist? Mutter nachkommen lassen will. verkauft hier allerlei. Darunter auch einen Fünfröhrcn- apporat." „Fünf Röhren?" riefen die drei anderen wie aus einem Munde, und Mutter fügte hinzu;„O jch, der kost't sicher een Vermögen." „Kann ja morgen mal fragen. Ich glaube gar nicht, daß er so teuer ist," erklärte Fritze unternehmend. „Mutter," stürmte Anneliese wieder auf sie ein;„Du würdest?" „Unsinn," entgegnete diese,„wo soll ick denn det ville Icld hernehmen." „Mutter, liebe Mutter! Ich gebe alles aus meiner Spar- kasse mit dazu." rief Anneliese.
„Hier," sagte Karle und legte ein altes zerlästertes Porte- monnaie auf den Tisch,„sind die ersparten Fensterscheiben von de letzten drei Monate." Er hatte wirklich nie wieder eine zerschlagen, seit man in der neuen Schule sich über den Schutz von Eigentum und von Gemeinschaftseigentum insbesondere unterhalten hatte. Jetzt rückte Fritze sein altes Schaukelpferd heran. Ein Familenerbstück, das schon aus Großvaters Jugendzeit stammte. Man konnte sich daran wenigstens vorstellen, wie damals die Pferde ausgesehen haben. Bald werden die Autos das letzte Pferd aus dem Gedächtnis der Menschheit verdrängt haben. Fritze hob den Sattel hoch, nahm eine ganze Anzahl glatter Geldscheine aus seinem Bersteck und sagte stolz;„Das opfere ich zur Herstellung einer internationalen Verbindung zwischen der übrigen Welt und Knorkes." „Junge," sagte Mutter mißtrauisch,„wo haste das viele Geld her?" „Keine Angst, Mutter, ehrlich erworben!" „Aha," sagte sie, durch- aus nicht beruhigt,„deshalb läuffte nachmittags zu einer bestimmten Zeit immer fort. Du hast wohl'ne Stelle an- jenommcn? Du weißt, daß Bater dos nicht duldet, denn er sagt mit Recht, es laufen so viele Erwachsene arbeitslos herum, daß nicht noch die Kinder das bißchen Arbeit fortnehmen brauchen." „Würde mir mein Kamerad— mein Lehrer, wenn das der Fall wäre, die Stelle nachgewiesen haben? Was ich dafür mache, kann kein Erwachsener." „Na, da bin ich aber neugierig," sagte Mutter. „Kann ick da nich ooch hinkommen?" meinte Karle. „Nee." sagte Fritze,„du bist schon zu groß." „Na sagste nu, wat is?" fragte Mutter ärgerlich. „Die Mutter von unserm Lehrer ist Malerin und arbeitet an einem Bilde„Engel von einst und jetzt", und da stehe ick Modell." „Als welcher denn?" � „Für alle beede." „Du," sagte Karle,„wenn das Dater hsert, lacht er sich tot!"
„Alle Wetter!" rief die Mutter und horchte zur Tür hinaus.„Ick jloobe, der Vater kommt schon wieder, und ick habe det Mittag noch nich fertig!" „Die Kartoffeln sind ja schon gerieben," meinte Slnne- liefe. „Au, et jibt Puffa!" schrien beide Jungen. Als Vater sich ausgezogen und es sich bequem gemacht hatte, stand schon der erste Puffer vor ihm auf dem Tisch, denn Mutter hielt darauf, daß sie frisch von der Pfanne gc- aessen wurden. Während Anneliese weiter backen mußte, stand sie schmunzelnd hinter seinem Stuhl und fragte, als sie sah, wie es ihm mundete:„Na?" „Knorke," war feine Antwort, und man konnte nicht eist- scheiden, ob das freundliche Lächeln, das über sein Gesicht huschte, dem knusprigen Puffer oder seinem als Bezeichnung für alles gute zur Berühmtheit gelangten Familiennamen galt. Mutter und Anneliese buken nun in zwei Pfannen, und schließlich saß die ganze Familie am Tisch und prepelte. Nun stellte sich auch heraus, daß Vaters schnelle Wieder- kehr und sein freundliches Schmunzeln eine dritte Ursache hatte. Er war zur Fabrik gewandert in der Hoffnung, daß er in der Mittagspause den Kollegen, der ihn veranlaßt hatte, die Kinder in die neue Schule zu schicken, treffen würde, da derselbe heute arbeitete. Statt dessen redete ihn plötzlich auf der Straße jemand mit den Worten an;„Na Knorke, warum denn so ein miesepetriges Gesicht?" Als er aufsah, stand sein Vorarbeiter ihm gegenüber. Knorke, immer noch verdrießlich, antwortete ziemlich unwirsch: „Ja, wie kann mqn denn, wenn man auf halbe Kost gesetzt wird, die Straße lang vor Freude Jazzband tanzen?" „Nein, nein.— So n modernen Tanz traut man solchem deutschen Bär wie Knorke überhaupt nicht zu. Aber ich bitte mir sofort ein anderes Gesicht aus, wenn ich erkläre, von morgen früh ab wird wieder voll gearbeitet." „Ist das wahr?" fragte Knorke mißtrauisch. „Heute," entgegnete der Borarbeiter,„sind Bestellungen eingegangen, die uns bis Ende des Quartals flotthalten. Ich habe soeben die Karten an die feierndew Arbeiter in den Kasten gesteckt, und denke, die Familien werden sich auch freuen." „Jawoll, ick kehre sofort um, det wird'ne vcrheißungs- volle Botschaft sind, die ich den Meinen bringe. Morgen bin ick mit jewohnter Pünktlichkeit zur Stelle." (Fortsetzung folgt.)