Abendausgabe
Nr. 29143. Jahrgang Ausgabe B Nr. 143
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23. Juni 1926
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Berliner Dolksblatt
Zentralorgan der Sozialdemokratifchen Partei Deutschlands
Ungünstiger Stand der Fürstenvorlage.
Die Mitte bleibt spröde. - Alle fozialdemokratischen Anträge bis jetzt abgelehnt.
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Der Rechtsausschuß des Reichstages begann heute die Spe=[ zialberatung des Fürstengesetzes. Es fiel auf, daß Die Deutschnationalen den Abgeordneten Everling jezt durch den Abgeordneten v. Lindeiner Wildau ersetzt haben.
fommen, das die Regierungsparteien nicht für die geeignete Grund lage für die Auseinandersetzungen hielten. Es müsse daher den Ländern Gelegenheit gegeben werden, eine Nachprüfung zu veranlassen darüber, ob die früheren Aus. einandersegungen mit den jetzt aufgestellten Rechtsgrundsätzen über
Bei der Abstimmung wird der sozialdemokratische Antrag abgelehnt.
Genosse Rosenfeld richtet die Anfrage an die Regierung, ob sie noch auf dem Standpunkt stehe, daß der Gesezzentwurf vereinstimmten. fassungsändernd sei oder ob die Pressenachrichten richtig seien, nach denen die Regierung jetzt einen anderen Standpunkt einnehmen wolle. Es sei nicht vertrauenerweckend gewesen, aus den Zeitungen ersehen zu müssen, daß man mit der Frage spiele, ob etwas verfassungsändernd sei oder nicht. Die Regierung müsse schleunigst Klarheit schaffen.
Reichsfanzler Marg erwiderte darauf, daß die Regierung nach wie vor auf dem Standpunkt stehe, daß das Gefeh eine Berfaffungsänderung bedeute.
Bei der Beratung des§ 1 wurde zunächst die Bestimmung, durch die ein besonderes Gericht eingefeßt werden soll, vom gesamten Ausschuß einschließlich der Kommunisten angenommen. Zur Frage der Zusammensetzung des Gerichts begründete Genosse Rosenfeld den sozialdemokratischen Antrag, daß die Mitglieder des Gerichts vom Reichstag zu wählen seien, daß nicht nur Richter, sondern auch andere Juristen und zur Hälfte Laien im Gerichtshof fizzen sollen.
Demgegenüber vertrat Abg. Barth von den Deutschnationalen den Antrag, daß nur Mitglieder höchster Gerichte in dem Gerichtshof fizen follen.
Bei der Abstimmung wurden sowohl die fozialdemokratischen wie die deutschnationalen Anträge abgelehnt. Bei der Abstimmung über die fozialdemokratischen Verbefferungsanträge enthielten sich die Kommunisten der Abstimmung.
§ 1 der Regierungsvorlage wurde mit 11 Stimmen der Regierungsparteien gegen die drei kommunistischen Stimmen bei Stimmenthaltung der 13 Deutschnationalen und Sozialdemokraten
angenommen.
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3um§ 2 des Gesetzes beantragen die Sozialbemo kraten, daß das Eingreifen des Gerichts unabhängig sein müsse von Anträgen der Regierungen oder der Fürsten . Genosse Rosenfeld hob hervor, daß das Gericht, wenn sein Eingreifen von einem Antrage abhängig gemacht werde, möglicherweise überhaupt niemals praktische Bedeutung haben würde.( Zuruf des Abgeordneten Kahl:„ Dann hat es seinen Zwed erfüllt!") Genossen Rosenfeld ( fortfahrend): Dieser Zuruf beweist am besten die Richtigkeit unserer Einwendung. Wenn aber zutrifft, daß das Gesetz unter Umständen gar feine praftische Bedeutung erlangt, so hat es teinen Wert, ein solches Gesetz zu machen.
Borsitzender Kahl erklärt, daß er nur gemeint habe, nach An nahme des Gesetzes würden die Fürsten Vergleiche abschließen und dadurch allerdings das Gericht überflüssig machen, das Gesetz sei aber deshalb noch nicht bedeutungslos. Abg. v. Richthofen( Dem.): Wenn durch das Gesetz erreicht werde, daß ohne Eingreifen des Gerichts die Fürstenfamilien fich endlich bequemen, dem Lande günstige Bergleiche anzubieten, dann sei das mit Freuden zu begrüßen.
Genosse Landsberg : Die Annahme unseres Antrages würde die Bergleichsbereitschaft der Fürsten noch größer machen. Wenn also die Demokraten tonsequent sein wollten, müßten fie für unseren Antrag stimmen.
Abg. Bell( 3.): Nach den sozialdemokratischen Anträgen würde ein Vergleich ausgeschlossen sein.( Zuruf der Scz.: Nein!) Genoffe Rosenfeld : Auch nach unseren Anträgen fönnte vor Gericht ein Bergleich abgeschlossen werden. Es sei aber zu befürchten, daß nur in Preußen und höchstens noch in Thüringen , dort aber auch nur wegen Sachsen- Koburg- Gotha, das Gefeß eine praf. tische Bedeutung erlangt; ein folches Gefeß tönne ganz und gar nicht befriedigen. Bergleiche feien auch vor dem Reichssondergericht nach den sozialdemokratischen Anträgen durchaus möglich.
§ 3 der Regierungsvorlage wird mit derselben Mehrheit wie die §§ 1 und 2 angenommen.
3u§ 4 liegt ein sozialdemokratischer Antrag vor, der eine Schädigung des thüringischen Landes durch den Auseinanderseßungsvertrag des Landes Koburg mit dem Herzog von Sachsen- Koburg- Gotha verhüten will.
Genossin Pfülf begründet diesen Antrag mit der Notwendigkeit, die allgemeinen Interessen des Volkes zur Geltung zu bringen. Abg. Neubauer verlangt Berücksichtigung der thüringischen Interessen. spricht sich für den sozialdemokratischen Antrag aus. Der Bertreter der thüringischen Regierung, Gesandter Münzel,
Abg. Wunderlich bekämpft diesen Antrag, indem er erklärt, es fönnte nur in Frage kommen, daß Gotha das, was dem Roburger Herzog früher zugesprochen wurde und jetzt in Bayern liegt, für Thüringen fordere. Das dürfe nicht geschehen. Der baŋe rische Bertreter Dr. Quard erflärt sich gegen den sozialdemokratischen Antrag.
Nach Ablehnung des sozialdemokratischen Anfrages wird die Regierungsvorlage zum erstenmal mit Zustimmung der Deutschnationalen angenommen.
Bei der Beratung des§ 5, der die Rechtsgrundfäße aufstellt, nach denen die Unterscheidung zwischen Staatseigentum und Privateigentum getroffen werden soll, beantragen die Deutsch nationalen eine Abjch wächung der Bestimmungen, die Bermutungen zugunsten des Staatseigentums aufstellen, während die Sozialdemokraten die Vermutungen für das Vorliegen von Staatseigentum erweitern wollen. Nach kurzer Begründung dieser Anträge durch Abg. von Lindeiner für die Deutschnationalen und durch den Genossen Rosenfeld erklärte Reichstanzler Marr:
Für die Frage, ob etwas Privat- oder Staatseigentum sei, sein. Wenn müsse die Erwerbsart entscheidend durch Kabinettsorder ein Vermögensobjekt an das Fürstenhaus gekommen sei, dann werde zu untersuchen sein, aus welchen Mitteln das Geld genommen worden sei. Wenn es aus dem Staatsvermögen stamme, müsse das Erworbene Staatseigentum sein, andernfalls Privateigentum. Der
sozialdemokratische Antrag, der an den Gefeßen einer tonftituonellen Boltsvertretung rütteln wolle, sei un annehmbar. Bei der Abstimmung werden die sozialdemokratischen Anträge ebenso wie die deutschnationalen abgelehnt.
Der§ 5 der Regierungsvorlage wird von den Vertretern der Regierungsparteien gegen die Kommunisten und Deutschnationalen angenommen.
Zu§ 6 der Regierungsporlage beantragen die So= 8ialdemokraten, daß früher ergangene Urteile das Reichsfürstengericht nicht binden sollen. Genosse Rosenfeld begründet diese Anträge, indem er darauf hinweist, daß es ganz besonders unmöglich sei, die Urteile aus der Zeit der Monarchie auch weiterhin als unbedingt maßgeblich anzusehen, dagegen die Urteile nach der Revolution unter Umständen aufheben zu lassen. Er meist darauf hin, daß nach der Regierungsvorlage jenes berüchtigte Urteil des Obertribunals vom 28. Juni 1862 bestehen bliebe, welches auf einem Urteil des Ge heimen Justizrats beruhe und von heute geradezu unmöglichen Gefichtspunkten ausgehe. In dem Urteil werde davon gesprochen, daß auch ein berühmter Rechtslehrer wie Suarez nicht unfehlbar sei und daß Erklärungen einer Kurfürstin besonders maßgebend seien, weil fie sehr intelligent gewesen sei. Das Urteil beruhe auf alten Hausgefeßen, altem Lehnsrecht, auf Kabinettsordern und legtwilligen Verfügungen der Fürsten . Letzten Endes gründe sich das Urteil auf eine hohenzollernsche Erbfolgeordnung vom 19. Mai 1385. Wie solle das ganze Gesetz beurteilt werden, wenn es solche veralteten Urteile unbedingt aufrechterhalte.
Genaffe Landsberg fügte hinzu: Man fönne zur Not noch be greifen, wenn überhaupt vor rechtsfräftigen Urteilen haltgemacht werde. Wenn man aber frühere Urteile überhaupt aufrechterhalten wolle, dann könne man nicht gerade die Urteile nach der Revolution für aufhebbar erklären. Jenes Urteil, das Dr. Rosenfeld erwähnt habe, habe außerdem den Widerspruch der preußischen Finanzminister herausgefordert. Es sei in erster Instanz von dem berüchtigten Geheimen Justizrat erlassen worden, der, entgegen dem Gesetz, seine gar nicht gegebene Zuständigkeit angenommen habe. Gerade dieses Urteil fönne unmöglich aufrechterhalten bleiben. Abg. Brodauf( Dem.) und Abg. Wunderlich( D. Bp.) erklärten sich für die Regierungsvorlage.
Bei der Abstimmung werden die sozialdemokratischen Anträge abgelehnt.
Das Ergebnis der Beratungen der ersten sechs Paragraphen der Regierungscoorlagen ist also, daß fämtliche sozialdemokratischen Verbefferungsanträge abgelehnt wurden und daß die Regierungsvorlage meiffens nur von den Regierungsparteien bei Stimmenthaltung der Deutschnationalen und Sozialdemokraten nur für einen Paragraphen stimmten die Deutschnationalen angenommen wurde.
Vollkommen neue Orientierung.
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Paris , 23. Juni. ( WIB.) Havas berichtet, daß im Ber -| den Quai d'Orsay verließ. Für den Fall, daß Caillaug zugefagt laufe der um 10 Uhr 30 Minuten fortgesetzten Konferenz eine habe und das Finanz- Portefeuille übernehmen würde, steht es Einigung mit Poincaré und Doumer nicht erzielt wurde. Briand hat sich ins Elysee begeben, um den Präsidenten der Republik hierüber zu verständigen. Inzwischen hat sich Juftizminifter Caval zu Caillaug begeben, der im Außenministerium erwartet wird. Briand wird ihm das Finanzminifterium nunmehr offiziell anbieten. Im Falle fich diese nach richt bestätigt, wäre mit einer vollkommen neuen DrienAbg. Wunderlich( D. Vp.): Wenn die sozialdemokratischen Antierung hinsichtlich der Zusammensetzung des zukünftigen träge angenommen werden, dann müsse das Gericht die Verhältnisse Minifteriums zu rechnen. in zwanzig Ländern prüfen. Das sei aber überflüssig, wenn die Landesregierungen und die Fürsten darüber einig feien. Abg. Neubauer( Romm.) erklärt, daß er die Ausführungen des Genoffen Rosenfeld nur unterstreichen könne.
Bei der Abstimmung werden die sozialdemokratischen Anträge von allen bürgerlichen Parteien abgelehnt.
Auch die Kommunisten enthalten sich der Abstimmung, ob. wohl der Abg. Neubauer vorher für unseren Antrag gesprochen hat. § 2 der Regierungsvorlage wird mit den 12 Stimmen der Regierungsparteien gegen die 3 Stimmen der Kommunisten bei Stimm. enthaltung der 13 Deutschnationalen und Sozialdemokraten ange.
nommen.
Genosse Landsberg begründet den sozialdemokratischen Antrag, nach welchem bei schon stattgefundener Auseinandersetzung eine Nachprüfung auf Antrag einer Landesregierung erfolgen fann.
Er führt aus: Dadurch, daß ein Gesez mit Richtlinien geschaffen wird, die vom bürgerlichen Recht sich entfernten, werde zum Ausdrud gebracht, daß die Auseinandersetzungen nach dem ordentlichen Recht nicht stattfinden könnten, wenn das Ergebnis mit der Moral im Einklang stehen soll. Die abgeschloffenen Auseinandersetzungen seien unter der Herrschaft des bürgerlichen Rechts zustande ge
Briands Schwierigkeiten.
Auch Caillaug verlangt Bollmachten. Paris , 23. Juni. ( Eigener Drahtbericht.) Das Kabinett Briand ist noch immer nicht fonftituiert und der gestrige Tag läßt in feiner Form die Lösung der Krise voraussehen.
Es kann unter diesen Umständen alfo taum etwas anderes als eine rein proviforische Lösung der Finanzkrise unter dem neuen Minifterium Briand erwartet werden, selbst wenn Briand Briand im Laufe des heutigen Vormittags noch irgendein Minifterium auf die Beine bringt, oder er in Ermangelung eines anderen Kandidaten felbft gezwungen wäre, das so gefürchtete Finanz- Portefeuille zu übernehmen. In diesem Falle würde das Portefeuille des Auswärtigen entweder Herriot oder Barthou über fragen werden.
Eine andere Möglichkeit tönnte auch noch ins Auge gefaßt werden: Briand hat gestern lange Besprechungen mit Caillaug gehabt. Man weiß nicht, mit welcher Antwort, ob mit einer verneinenden oder mit einer zusagenden, Caillaug gestern nach 12 Uhr nachts nach der letzten langen Besprechung mit Briand
jedoch außer Zweifel, daß er Bedingungen gestellt hat, die für Briand schwer annehmbar sind. Caillaur hat nie verhehlt, daß er nur mit beinahe unbegrenzten Bollmachten ausgestattet das Finanzministerium übernehmen werde, ja, daß er fogar an feinem Minifterium sich beteiligen werde, in dem er nicht zugleich die Ministerpräsidentenschaft in Händen habe, da es ihm nur so möglich sei, fein Ministerium homogen zu gestalten. Heute vormittag wird Caillaug noch einmal im Quai d'Orsay erwartet. Aus dieser letzten Aussprache wird das zehnte Ministerium Briand hervorgehen oder nicht. Für den Fall, daß es Briand nicht gelingen follte, die Widerstände Caillaug' zu überwinden, so ist man ziemlich davon überzeugt, daß er unter diesen Umständen den erhaltenen Auftrag der Kabinettsbildung in die Hände Doumergues zurüdlegen, und daß er in diesem Falle selbst beantragen werde, Caillaug mit der Kabineffsbildung zu befrauen.
Die Elfaffer Autonomiebewegung. Paris , 23. Juni. ( WTB.) Wie der Straßburger Berichterstatter des" Temps" meldet, greift die 3erfeßung innerhalb der Bar. teien infolge des Manifestes des Heimatbundes weiter. Die radikale Vereinigung des Departements Niederrhein , die lezhin ihre natio. nalen Flügel abgestoßen, habe sich nunmehr gegen die ertremistischen Bestrebungen des Heimatbundes, aber auch gegen jede Berfolgungspolitit ausgesprochen. Sie verlange eine Zusammenarbeit unter Berücksichtigung der lebens. wichtigen Interessen des Elsaß und den nationalen Interessen Frankreichs , fomie eine örtliche Berwaltung, die jedoch das Elsaß nicht, wie der Heimatbund verlange, isoliere. Eine ähnliche Berseßung zeige fich innerhalb der katholischen Boltsvereinigung durch den Austritt verschiedener Persönlich feiten.