Sonntag 1S.IulU92H
Unterhaltung unö ÄAissen
öeklage öes vorwärts
Gestranöet.
von Luciano Zuccoli . (Deutsch von Alexander Ssemjonoss.) Mondlicht lag in den Straßen, als ich, auf dem Heimweg zum Hotel, von der Via Chiaia her die Piazza S. Ferdinondo über querte. Wir waren im Theater gewesen, meine Freunde und ich. Von einer leisen inneren Freude getrieben, lenkte ich meine Schritte nach der Richtung von Santa Lucia, zum Gestade des Meeres. Im voraus schon empfanden meine Nerven den unbeschreib lichen Genuß, der meiner harrte. Ich wußte, welch majestätisch düsterer, erhaben-ewiger Anblick sich mir am ßJteere bieten würde: der Golf von Neapel , Ccpri, der Vesuv , der Posilippo, alles von silbernem Schimmer Übergossen, die ganze Landschaft in einen zart blauen Schleier gehüllt, der den Konturen die Schärfe nahm, ihnen jenen Hauch großer Zartheit verlieh, deren Zauber sich keiner von uns zu entziehen vermag: die Sentimentalität erwacht in der Seele und sucht sich in irgendeiner leise gesummten Melodie den Weg zum fließenden Mondlicht. Während ich durch die Straßen schritt, ließ mich der Gedanke an das Theater, von dem ich kam, nicht los. Ein rotes verräuchertes Theater. Paßten denn dorthin die Mädchen, die, eines nach dem andern, die Bühue betreten hatten? Jedes der Mädchen sang ein Lied: drei, vier Lied«, eines nach dem andern. Was unterschied sie eigentlich von Zirkuspferden, diese Mädchen? Waren sie nicht genau so in Freiheit dressiert? Wurden sie nicht genau so zur Schau ge- stellt? Diese bunten Kleider der einen! Halbnackt die andern! Jede ein anderes Lied! Nichts hatten sie gemeinsam, nichts als den falschen Namen. Als ich gerade an einem Tramway-Kiosk oorüberkam, fiel mein Blick seitwärts auf«in unförmiges Etwas, das einem menschlichen Körper gleichen tonnte. Irgend ein Ende, der Kopf vielleicht, lag gegen die Wand des Kioskes gelehnt. Um mich zu vergewissern, ob es ein Mensch war, ging ich hin und stieß mit dem Fuß an das Kleiderbündel: tatsächlich, es schKes da jemand. Und er mußte einen gesunden Sdjsaf haben, denn er wachte nicht auf unter der Be- rührung meines Fußes. Im Weitergehen nahm ich meinen alten Gedankengang wieder auf. Das Mondlicht begleitete mich, straßenentlang. Man durfte sie dennoch nicht geringschätzen, diese Mädchen. Nicht eines unter ihnen, das sich nicht rühmen konnte, gestern— oder vor Iahren— eine wahre und leidenschaftliche Liebe entflammt zu haben. Nicht eines, dos nicht, während es sang, während es tanzte, Gegenstand heißen Begehrens von feiten eines Mannes, einer ganzen Reihe von Männern war: auch heute noch. Und vor allem: sie geben nicht bloß die Illusion der Liebe, diese Mädchen, sie machen sich selber zu Dienerinnen der Liebe. Man sollte sie wahrhastig nicht gering schätzen. Noch etwas liegt über diesen roten, verräucherten Theatern. Ein Hauch von Tragik, der mich immer wieder anzieht, den ich aber mit Worten nicht gut zu fassen weiß. Die Verzweiflung ist es, die unseren Hunger nach Unterhaltung aufpeitscht,'die aus den Disso- nanzen chaotischer Musik schrillt, die über den Verzerrungen, 25er rentungen, exotischer Tänze schwebt, die uns bereitwillige Nachsicht gegenüber fremder Verzweiflung eingibt. Aber gerade ihretwegen sind die Stunden der Nacht die schönsten des Tages, romantisch in ihrem innersten Kern. Wir sind nicht gewillt, sie ungenützt ver» streichen zu lassen. Die Wahrnehmung, daß wieder ein Tag sich seinem Ende zuneigt und die Vergangenheit wächst, der Tod heran- rückt, Schritt für Schritt, wie der Mahnruf der Mönche es kündet: diese Wahrnehmung entzündet unseren Wünsch, erst noch zu leben, ehe wir uns dem Schlaf übergeben, dem Bruder des Todes. Und sie alle wollen noch leben, die in den roten, verräucherten Theatern sitzen. Was können uns diese Räume an Künstlerischem, Jnteresiantem, Außergewöhnlichem bieten? Nichts. Dennoch gehen wir hin. Lasse ich dann aber meinen Blick über die Zuschauermenge gleiten, so kommt mir jene unbestimmte Tragik, die über mir und über ihnen schwebt, zum Bewußtsein. In meine Logenecke oder in den Parkettsessel zurückgelehnt, philosophiere ich. im Variete, während die Mädchen mit den falschen Namen auf der Bühne ihre hübschen Beine zeigen! Ist das nicht tragisch und grotesk zugleich? Aber was schadets, wenn wir manch- mal etwas komisch sind? Wäre es nicht, ich ginge mit getragener Würde ins Variete, kennte alle Lieder auswendig und erkundigte mich nachher nach dem echten Namen der Mädchen, die sie sangen. Unter solchen Gedanken war ich nach Hause gelangt. Ich öffnete das Fenster, um das erhabene Schauspiel zu betrachten: aus dem feinen Silberschleier hob sich schwarz und schwer das Castel dell' Ovo. Unbeweglich schliefen am Strand die kleinen Boote, von denen aus bei Tag die Knaben zu baden pflegen. Blaßgelb stieg hinter dem Schloß am Horizont ein Leuchten herauf. Die Promenade entlang dämmerten einige blaue Lichtchen. Hüpfend tönte im Rhythmus der Wellenschlag, weich erfüllte das nächtliche Schweigen die Luft— für Augenblicke yur wurde es unterbrochen vom Geklapper einer vorübereilenden Kutsche, vom Klang einer Frauenstimme: dann trat wieder Stille ein. » Andern Tags ging ich(es mochte vier oder fünf Uhr nach- mittags sein) über die Piazza S. Ferdinands. Da begegnete ich einem' jener seltsamen Kinderleichenzüge, die für Neapel so charakteristisch sind: weißer Wagen, vier dürre, kastanienbraune Gäule mit grauen Zeugbehängen, die Leidtragenden mit einem grünen Zweig im Knopfloch, der einzigen lebenden Farbe in all der Trauer: es ist eine südländische Eigenart: hinter dem Leichenwagen fährt eine weiße Kutscha der andere geschlossene Wagen mit Kränzen folgen. Und die Pferde lausen im Trab. Keine Stadt der Erde außer Neapel kennt diesen Brauch. Bei den Großen dieser Welt ziehen nicht braune, sondern sechs schwarze Pferde den Wagen, der die sterblichen Ueberreste enthält. Alle diese Pferde denken wohl gleichmäßig, das Leben besteht nur aus Totentransporten. Haben sie doch nie eine andere Tätigkeit ausgeübt. Auch die Führer und offiziellen Begleiter der Kondukt« müssen allmählich diese Ueber- zeugung gewonnen haben. Oder nicht? Beim Tramwoy-Kiosk standen ein paar Neugierige, die etwas auf dem Boden betrachteten. Ein toter weiblicher Körper lag da. Es war derselbe, den ich In der vergangenen Nacht mit dem Fuß angestoßen hatte. Ich erkannte ihn an der sonderbaren Stellung der Glieder: den Oberkörper etwas aufgerichtet, die Knie bis in Magenhöhe angezogen, lehnte er mit dem Kopf gegen die Wand des Kioskes. Aber eines hotte sich geändert: die tot« Frau deckte kein nächtlicher Schatten mehr, erbarmungslos war sie dem blendenden Sonnenlicht preisgegeben,
Die baperilche Voltsseele.
Vas bringt üie bayerische Volksseele nicht zum kochen.
Vas bringt üie bäuerische Volksseele auch nicht zum Kochen.
ßber das bringt üie bayerische Volksseele zum sieüenöen Ueberkochen.
Ueber den Kopf der Leiche hatte man einen grauen Sack ge- warfen. Um den Kops wimmelte es schwarz von einer Wolke surren- der Fliegen, die unter die Hülle zu dringen suchten, weil der Instinkt sie zu dem Gegenstand der beginnenden Verwesung hinzog. Weich widerlicher Schwann schmutziger dunkler Rüssel!„Ija"— sagte jemand zu mir und-stieß mich seitwärts am Arm,„mit der ist es aus.....* Eine Art grundlos grausames Genugtuung klang aus den Worten.„Wer ist es?' fragte ich. Der Mann zuckte mit den Achseln, verzog die Mundwinkel, zum Zeichen, daß er es nicht wisse. Ich hob mit der Spitze meines Spozierstockes einen Zipfel des Sackes in die Höhe. Nicht aus mangelnder Ehrfurcht, gewiß nicht. Aber ich tonnte mich nicht selbst herabneigen, ohne mein Gesicht der Gefahr auszusetzen, von diesem Fliegenhaufen förmlich entstellt zu werden. Für einen Augenblick starte mir das bitterste Elend entgegen. Der Tod selbst. Gelblich hing die Haut um die Backenknochen, zwei bläulich-violette Streifen zogen sich um die Augen, die Höhlungen des Schädels traten bereits hervor. Aber inmitten dieses großen Lebensstromes, an der Kreuzung, wo die beiden Hauptverkehrsadern der Stadt zusammenstießen: die Via Chiaia und die Via Roma, verlor der Leichnam seine schreck- liche Bedeutung. Ein Stück Abfall, ein Stück Auswurf, weiter nichts. Für einige Zeit mochte er vielleicht noch daliegen, der kleine Fetzen, den es von jenem phantastischen Gefährt, vom Wagen der neun- hunderttausend Lebendigen dieser Stadt, herabgeweht hatte. Weiter ging die Fahrt. Diese Tote? Eine Lappalie. Eine Episode. Nichts. Hätte sich der Leichnam nicht so rasend schnell in einen schwirren- den, unheilvollen, gefahrdrohenden Fliegenschwarm oerwandelt, ich selbst hätte mich keineswegs oerwundert, eine Leiche hier, an diesem Ort und zu dieser Stunde, liegen zu sehen. Es hätte mich auch Nicht in Erstaunen versetzt, daß nur einige wenige Menschen sie be- trachteten. Aber die Fliegen, die Fliegen, die das Gewürm, die die Würmer erzeugen, machten mich schaudern. Den Grund, weshalb ich ausgegangen war, hatte ich vergessen. So stieg ich in die Elektrische ein. die nach Margellina führt. Von Margellina zum Castel bell' Ovo spannt sich der breite Streifen des Strandes im Bogen, vollkommen, wie die Linie eines Kopfes, wie die Rundung eines Busens. Von der Höhe einer Terrasse herab verlor ich mich in den Anblick des unendlichen Blau, das wett, weit draußen in einem leichten Nebelschleier verschwamm. An den Leichnam dachte ich nicht mehr. Aber ein wenig noch. von Zeit zu Zeit, an die Fliegen, die häßlichen schwarzen Insekten. Waren sie nicht die Verkörperung alles Elenden und Gemeinen, alles Schmutzigen und Böswilligen auf Erde »? Feinde, die wir
niemals besiegen werden. Der Tisch, das Kopfkissen, die Fenster, das Brot, die Lippen der geliebten Frau verschonen sie nicht. Ueber den Brief, den ich schreibe, eilen die haardünnen Beine, die Wände hinauf, hm zum Tanz um das Licht in der Mitte des Zimmers. Nicht der Schatten einer Bewegung, der den tausendfältigertFazzetten- äugen entginge, den sie nicht im voraus bemerkten, um für einen Augenblick zu entfliehen, im nächsten schon wieder furchtlos zurück- zukehren. Sie können uns sogar den Tod bringen, die abscheulichen Tiere. Im winzigen Rüssel tragen sie gefährliche Krankheitskeime, das Gift jener Leiche, stechen es uns ins Blut, durch den Strumpf bindurch oder im Nacken, während wir über unsere Arbeit gebeugt sitzen. Kann sein, daß wir die Gefahr mit einer lässigen Hand- bewegung entfernen. Oft genug aber setzen wir uns dem Zugriff des Todco aus, wenn wir, in der Zerstreuung oder aus Gewohnheit, die Hand nicht rühren, auf der das Insekt läuft. » Am Tag noch meinem Spaziergang ndch Margellina las ich in der Zeitung eineki sechszeiligen Bericht, daß man die Leiche agnofti- ziert und weggeschafft habe. „Die Tote, namens Ermenegilda Cheti," hieß es hier,„stammte aus den Abruzzen. Sie war nach Neapel gekommen und hatte sich einem Freudenleben hingegeben. Von einer fürchterlichen Krankheit angesteckt, war sie von Stufe zu Stufe gesunken, um schließlich als Bettlerin zu enden." Fürchterliche Krankheit und um Almosen betteln! Da« Uebcl im Leibe: unaufhaltsam frißt es die roten Blutkörperchen, zerfasert die Gewebe, treibt die Drüsen auf. Aber nichts, den verzehrenden Hunger zu stillen, nichts, sich Linderung und Heilung der Krankheit zu verschaffen. Das war der Schluß ihres Freudenlebens. Während zweier, dreier Nächte hatte sie sich müde neben dem Kiosk niederfipken lassen, hingekauert, das bittere Gefühl im Herzen, daß die Kälte des Todes herankam, näher und näher. Instinkt- mäßig oder aus alter Gewohnheit war sie tagsüber in die Haupt- ftraßen und auf die besuchtesten Plätze gegangen: wenige Schritte vom Kiosk entfernt befand sich eine Konditorei, in der die galant« Welt zu verkehren pflegt. Dort mochten die Freunde eines einzigen Tages an ihr, dem Mädchen der Freude, vorübergegangen sein: sie erinnerte sich- ihrer nicht, kannte vielleicht die Nomen nicht. Eine Bitte drängte sich über die Lippen. Unter der raschen abweisenden Geste erstarrte sie zu Schweigen. Da verkroch sich Ermenegilda. um auf das Ende zu warten. Ohne einen Laut ist sie gestorben, den Kops in müder, ver- zwcifclter Haltung zurückgelehnt, wie ein Knäuel eingerollt, die Knie in Magenhöhe. So wurde sie gefunden, wie ein nasses Bündel. Und weggeworfen. Eine Sache für die Fliegen nur noch, die sich auf ihren Leichnam stürzten.