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Abendausgabe

Nr. 335 43. Jahrgang Ausgabe B Nr. 165

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nafsirasdil 10 Pfennig

Vorwärts

Berliner Dolksblatt

Montag

19. Juli 1926

Berlag und Anzetgenabteilung: Gefchäftszeit 9-5 Uhr

Berleger: Borwärts- Berlag GmbH. Berlin SW. 68, Lindenstraße 3 Fernsprecher: Dönhoff 292-297

Zentralorgan der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands

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Herriot bildet die neue Regierung.

Auf der Grundlage der vereinigten Linken.

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Paris , 19. Juli. ( WTB.) Havas zufolge bestätigt es sich, aller Kraft. Jeder neue Frankensturz aber ist unseren Hoch­daß im Laufe des Abends Herriot ein Kabinett auf der Grund- schutzöllnern, den Reaktionären und Feinden einer deutsch­lage der Vereinigung der Linken gebildet haben wird. franzöfifchen Lerständigung eine willkommene Unterstügung. Nach den umlaufenden Gerüchten ist etwa mit folgender Berteilung Selbst wenn die Reaktionäre mit ihren Forderungen nicht der Portefeuilles zu rechnen: Herriot Ministerpräsidium und durchdringen, wird die deutsche Arbeiterschaft einen erheb Außenministerium, de Monzie Finanzminister, Rene Re- lichen Teil der Frankeninflation aus ihrer Tasche bezahlen. Die Schleuderausfuhr Frant noult Juftizminifter, Chantemps Inneres, Daladier Unter- reichs, die durch jede Währungsverschlechterung begünstigt richtsministerium oder Kriegsminifterium, Dumesnil ma- wird, beraubt nämlich die deutsche Industrie an vielen rine und vielleicht Queuille Aderbau. Außerdem wollen in das Stellen des In- und Auslandsmarktes ihrer Absa mög Sabinett eintreten Painleve, der das Kriegsministerium oder lich feiten. So muß die Arbeitslosigkeit in den betroffe­Unterrichtsministerium übernehmen wird, Andre Hesse als nen deutschen Gewerbezweigen zunehmenn. Auf diese Weise Kolonialminifter, Coucheur als Handelsminister und le Troc. wird ein nicht unbeträchtlicher Teil der deutschen Ar­quer als Minister für öffentliche Arbeiten. Herriot soll außerdem beiterschaft die Valutagewinne der internatio­beabsichtigen, Jourdain als Pensionsminister beizubehalten. Es nalen Spekulation mit bezahlen helfen, ob er wird behauptet, daß der Senator Henry Cheron als Budget. will oder nicht. Dem franzöſiſchen Arbeiter aber entzieht jeder Frankensturz einen Teil der Kaufkraft seines Lohnes. Herriot mit der Kabinettsbildung beauftragt. Paris , 18. Juli. ( Eigener Drahtbericht.) Der für die Deffent Briand- Caillaug wird am Sonntag in der gesamten Linkspresse Frankreichs als ein ausgesprochener

minister in Aussicht genommen ist.

Danach wäre die neue Regierung so gut wie perfekt. Allerdings war schon bei der letzten Regierungsfrise zu Belichkeit etwas überraschende Stutz des Minifteriums ginn dieses Monats ein Ministerium Herriot bereits fertig, jedoch in der letzten Minute noch gescheitert. Man muß daher auch im vorliegenden Falle noch mit der Mög­lichkeit eines Mißerfolges rechnen.

Die vorliegende Ministerliste erinnert außerordentlich start an das erste Rabinett Herriot nach den Mai­mahlen 1924. Er hat eine ganze Anzahl seiner damaligen Mitarbeiter wieder berufen, dazu noch einige führende Bo­litiker der gemäßigten Linken, wie Loucheur, de Monzie, Jourdain und vielleicht auch den ehemaligen Mitarbeiter Poincarés Chéron, die ihm die Verbreiterung seiner Mehr­heit nach der Mitte zu sichern dürften.

Sieg des republikanischen Gedankens über die Diffaturgelüfte des Finanzministers Caillaug

gefeiert. Alle Blätter betonen, daß jezt, wo die Bahn für die demo­fratischen Parteien frei sei, der Präsident Doumergue schnell die Krise lösen und einen Mann mit der Kabinettbildung beauftragen müsse. Dieses Kabinett müsse, so wird weiterhin besonders in der radikalen- sozialistischen und bürgerlichen Linkspresse betont, möglichst ein Ministerium der nationalen Einheit" sein. Im übrigen scheinen aber die Blätter sich über die Schwierigkeiten dieser Kom: bination wenig Rechenschaft abzulegen. Sie scheinen vor allem zu vergessen, daß die Bildung dieses Kabinetts der nationalen Einheit von mehreren Vorgängern Briands vergeblich versucht worden ist. Doumergue scheint entschlossen zu sein, angechts der Gefährlich feit der politischen und der Währungskrise eine möglichst rasche Lösung herbeizuführen. Er hat deshalb im Laufe des Sonntag morgen Herriot neben zahlreichen anderen Persönlichkeiten empfangen und ihn mit der Kabinettsbildung betraut. Herriot hat diese übernommen.

Nach Briands Sturz.

Die Haltung der französischen Sozialisten. ( Bon unserem französischen Mitarbeiter.)

Paris , 18. Juli. ( Eigener Drahtbericht.) durch eine Mehrheit aus Sozialisten, Kommunisten, Radikal­sozialisten, Blocknationalisten und Vertretern der alleräußersten Rechten gestürzt war, wurde in den Wandelgängen der Kammer teine Frage eifriger erörtert, als die des Ein­tritts der Sozialisten in die neu zu bildende Regie­rung. Die Rolle, welche die sozialistische Fraktion in der Finanzdebatte gespielt hat, war so groß, der Eindruck, den das mehrfache Eingreifen Blums hinterlassen hat, so tief, daß man es diesmal für unvermeidlich hielt, daß die Sozialisten eine bejahende Antwort geben müßten, wenn Herriot, mit dessen Beauftragung zur Bildung des Mi­nifteriums von vornherein auf allen Seiten gerechnet wurde, eine unzweideutige Aufforderung an sie richten würde. Die Antwort auf diese Frage ist rasch erfolgt und unter Um­ständen, die innerhalb und außerhalb der Partei zu äußerst lebhaften Auseinandersehungen Anlaß geben

werden.

Parteivorstand, wie er auf Grund der Beschlüsse von Cler­Ein Zufall wollte es, daß am Sonntag der erweiterte mont- Ferrand gebildet worden ist, seine erste Bollfigung in Paris abhielt; eigentlich, um andere Fragen, unter anderem die der Tätigkeit Paul Boncours als Delegierter Frankreichs für den Bölkerbund zu erörtern. Durch die am Samstag abend ausgebrochene Krise wurde eine Aenderung der Tages­ordnung erzwungen und eine gemeinsame Tagung des er­beigeführt. Nun sind aber seit Clermont- Ferrand die Ber­weiterten Parteivorstandes mit der Parlamentsgruppe her­treter der Minderheit, die sich seit Jahr und Tag im Prin= zip für die Beteiligung an einem von Radikalsozialisten ge­bildeten Ministerium ausgesprochen haben, freiwillig dem Beteiligung feindlich gesinnte Strömung im erweiterten neuen Parteivorstand ferngeblieben, so daß lediglich die jeder Barteivorstand vertreten war. Umstände mit sich gebracht, daß der größte Teil der sozia= Andererseits hatten es die liftischen Abgeordneten schon am Freitag zur Propaganda in die Provinz abgereist war, so daß der Sitzung der Fraktion beiwohnten. Als die Fraktion und der Parteivorstand zu­am Sonntag fage und schreibe von 97 Mitgliedern nur 13 jammentraten, traf ein Schreiben von Herriot ein, der die sozialistische Partei offiziell zur Mitarbeit aufforderte. 3yromiti wollte sofort einen Antrag zur Annahme bringen, der ohne jede weitere Diskussion das Angebot Herriots a blehnte und ausdrücklich betonte, daß die Mit­arbeit der Sozialisten Herriot weniger als irgendeinem eine

Trotzdem ist der Grundzug dieses Ministeriums ein fräftiger Rud nach links, man fönnte fast sagen, daß das neue Kabinett eine& ampfregierung der Linken sein wird. Unter diesen Umständen ist es wahrscheinlich, daß die von Léon Blum in seinem Brief an Herriot in Aussicht gestellte Unterstützungspolitik durch die Sozia Listen Wirklichkeit werden wird. Allerdings machen die Sozialisten diese Unterſtüßung von der Einführung der Rapitalsabgabe abhängig. Ob sich nun die neuen Minister auf diese Formel ohne weiteres einigen werden, ist Im übrigen fam es, als Herriot vor dem Elysée, dem Balais jedoch noch feineswegs sicher, so daß man hinsichtlich der des Präsidenten der Republik, vorfuhr, zu einer bezeichnenden Pünftigen Haltung der sozialistischen Fraktion gegenüber der feindlichen Rundgebung des Publikums. Vor den Toren neuen Regierung noch auf lleberraschungen gefaßt sein muß. gierig auf die Ereignisse wartete. Als das Automobil des Kammer. anderen Politiker gewährt werden könne(?), und zum Schluß eine eingefunden, neu­präsidenten Herriot vorfuhr, erfcholl aus der Menge ein

Neuer Frankensturz.

Der franzöfiche Franken steht schlechter als der belgische. Der franzöfifche Franc war heute vormittag an der Berliner Börse der Spielball wilder Spekulation. Die Kurse schwanften fol­gendermaßen: Für 1 Pfund Sterling( 20 Goldmark) wurden nach einander gezahlt 218, 230, 235, 224, 225 französische Francs. Im Durch schnitt erhielt man also nach den Kursen des Freiverkehrs für 1 Mart 11,25 Francs, etwa 1,20 Fr. mehr als am Sonnabend. Wie sehr die Spekulation fich auf die politischen Borgänge in Frankreich ſtützt, geht aus einem Vergleich mit dem belgischen Franc hervor, der mit 215 Fr. je Pfund ziemlich stabil blieb.

wüftes Johlen und Pfeifen,

ins Auge fassen könne. Im Verlauf einer heftigen Debatte fam es fogar zu persönlichen, tätlichen Zusammen= gemischt mit Rufen: Nieder mit herriot!" Starfe Bolizei- tößen zwischen dem Abgeordneten Payra, der den Vor­fräfte griffen sofort ein. Es tam zu unblutigen Zusammenstößen. Die Zugänge des Elysée werden seither von Neugierigen freigehalten. Diese Kundgebung ist für die in Paris deutlich fühlbare Sorge bezeichnend, die in weitesten Kreisen der französischen Bevölkerung angesichts dieser plöglich hereinbrechenden Krise herrscht, von der eine Berschärfung der Frantfrise befürchtet. Herriot hat sofort seine Besprechungen aufgenommen.

man

Erklärungen Herriots über die Lage. Paris , 19. Juli. ( WTB.) Gestern abend erklärte Rammer­Die unvermeidliche Folge des Sturzes der Regierung Briand- Caillaug ist eingetreten: mit rasender Gepräsident Herriot nach Berlassen des Elysees, wo er dem Präsidenten schwindigkeit saust der französische Frank a bwärts. der Republif über seine Verhandlungen berichtet hatte, Vertretern Die französische Hochfinanz und mit ihr die internationalen der Presse, über seine Eindrüde und Abfichten befragt: Balutahyänen fönnen mit dem Franken bequem spekulieren, ist ihnen doch durch das Scheitern aller Sanierungsversuche gunächst einmal die Bahn gänzlich frei gegeben. Die Stabilisierung des Franken ist auf unbestimmte Zeit ver­tagt. Sie fann erst wieder in Angriff genommen werden, wenn eine arbeitsfähige Regierung vorhanden ist. Nachdem bereits in der letzten Zeit zwei Kabinette über den Bersuch einer Sanierung gestürzt sind, wird man der Saiffespekulation gar nicht so unrecht geben können, wenn sie daran zweifelt, daß überhaupt in absehbarer Zeit eine Einigung in dieser lebenswichtigen Frage zustande kommt. Auch die Markspekulation hat vor Jahren aus derartigen Rabinettskrisen immer ihre stärksten Angriffsmomente gegen Die Papiermark geschöpft.

Noch vor wenigen Tagen stritt man darum, ob das Kapital oder der Berbrauch die Mehrleistung aufbringen follten, die zur Sanierung der franzöfifchen Staatsfinanzen notwendig ist. Seit Sonnabend ist der franzö fische Frank um 12 Prozent gesunken. Ebenso hoch ist die radikale und unsozialste Steuer gestiegen, die es in der ganzen Finanzpolitik gibt, die Inflationssteuer. Fran­ zösische Bauern, Rentner und Arbeiter zahlen diefe Steuer. Das Rapital aber flüchtet aus der Währung. Die Entwidlung der französischen Währung fann die deutsche Arbeiterschaft nur mit größter Sorge erfüllen. Schon haben Schwerindustrie und Landwirtschaft bei der Reichsregierung ihre Forderungen dahin angemeldet, daß gegen das Dumping untervalutarischer Staaten er= höhte Einfuhrzölle geschaffen werden sollen. Die Arbeiterschaft fämpft gegen diese neuen Zollmauern mit

,, Aus den letzten Kammerdebatten hat sich die Wahrnehmung er­geben, daß 3 mei Methoden einander gegenüberstehen, nämlich die Methode der auswärtigen Anleihe und die Methode der allgemeinen Anstrengung, zwischen denen die Wahl getroffen werden muß, des weiteren, daß die Mehr heit der Kammer dem Berjuch geneigt sei, eine Lösung mit inneren mitteln zu sichern. Diese lettere habe ich im Verlaufe meiner Besprechungen genauer zu umschreiben gesucht und mich dabei be­müht, ihr jeden inquisitorischen und selbst politischen Charakter zu nehmen.

Ich beinühe mich, nußbringende Arbeit zu leisten, und suche die Finanz- und Währungslage zu bessern. Unter diesen Bedingungen habe ich meine Besprechungen fortgefeßt. Ich fu che eine Formel, um diese Bemühungen mirtfam zu machen. Ich bin überzeugt, daß die Herabsetzung der schwebenden Schuld durch eine nationale Anstrengung geschehen muß. Um hierfür die nötige Stimmung herzustellen, muß man die Bemühung als einen Schritt zur Rettung des Vaterlandes erkennbar machen, man muß dieses Wort gebrauchen, genau so wie zur Zeit des Krieges. Das liegt im Interesse jedes einzelnen wie im Intereffe aller. Was ich mit bestem Gewissen suche, ist die Formel, die es gestatten wird, diese Be­mühung zu verwirklichen. Morgen vormittag werde ich mit einigen Bersönlichkeiten, mit denen ich heute noch nicht habe Fühlung nehmen fönnen, verhandeln und alsdann mit der Bildung des Kabinetts be­ginnen. Gegen 1 Uhr 30 werde ich mich zum Präsidenten der Re publik begeben, um ihn über den Fortgang der Bildung meines Kabinetts in Kenntnis zu sehen."

Agence Havas" glaubt, daß die Formel, für die sich Herriot entschieden habe, eine Politit der Bereinigung der Linken sei.

fiß führte, und 3yromsti. Schließlich wurde der von Blum und Renaudel bekämpfte Antrag abgelehnt und die Entfendung einer aus Blum, Auriol und Renaudel bestehen­den Abordnung zu Herriot beschlossen. Ihnen er­klärte Herriot, er sei bereit, den Sozialisten etwa die Sälfte der Ministerposten zu überlassen und sich in großen Linien das von Blum vertretene Finanz­programm zu eigen zu machen, wenn die Partei in die Re­gierung einträte. Er sei natürlich gezwungen, die Grund­lagen feines Rabinetts nach rechts zu erweitern, wenn die Sozialisten auch diesmal nicht eintreten wollen. Die Ab­ordnung erstattte dann in der gemeinsamen Sitzung des er­weiterten Parteivorstandes und der 13 Abgeordneten Be­richt über die Unterredung mit dem bisherigen Kammer­präsidenten. Nach vier Stunden leidenschaftlicher Diskussion, in deren Verlauf sich Léon Blum , wie schon früher, gegen den Eintritt in ein Kabinett Herriot aussprach, während Renaudel und Auriol für die Beteili gung eintraten, wurde beschlossen, die Einladung zum Eintritt in die Regierung auch diesmal abzu­lehnen, Herriot jedoch wieder die Unterstützung der Sozialisten in Aussicht zu stellen. In einem furzen Antrag des Parteivorstandes und einem Schreiben an Herriot wurde diese Ablehnung so zum Ausdruck gebracht, daß die Fraktion Herriot für sein Angebot dankt, jedoch die Versicherung hin­zufügt, daß fie feine Stellung als Ministerpräsidenten durch ihren Nichteintritt eher zu befestigen als zu schwächen hoffe und wünsche. Renaudel, Auriol und andere erklärten, mit dieser Ablehnung nicht einverstanden zu sein. Re­naudel fündigte sogar an, daß er durch einen Offenen Brief fein Nichteinverständnis vor der öffentlichen Mei­nung des Landes zum Ausdruck bringen wolle, auf Drängen Auriols beschränkte er sich schließlich auf die Erklärung, daß diese, neuerliche Ablehnung der Beteiligung an der Regie­rung in Frankreich bis tief in die Arbeiterkreise hinein ein Auf­sehen erregen wird, dessen Folgen nicht abzusehen find. 3war ist Herriot entschlossen, diesmal unter allen Umständen ein Rabinett zu bilden und sich auch mit der Unterstüßung durch die Sozialisten zufrieden zu geben. Aber ob das neue Kabinett, in das Herriot zwar weder Ver= treter des Nationalen Blocks von Louis Marin noch der Fraktion Bokanowski, jedoch Vertreter der vom Nationalen Blod losgelösten Le- Trocquer- Gruppe berufen will, von Dauer sein wird, erscheint allgemein als zweifelhaft.