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Abendausgabe

Nr. 351 43. Jahrgang Ausgabe B Nr. 173

Bezugsbedingungen und Anzeigenpreise find in der Morgenausgabe angegeben Redaktion: Sw. 68, Lindenstraße 3 Fernsprecher: Dönhoff 292-29% Tel.- Adreffe: Sozialdemokrat Berlin  

Vorwärts

Berliner Volksblatt

10 Pfennig

Mittwoch

28. Juli 1926

Berlag und Anzeigenabteilung: Geschäftszeit bis 5 Uhr Berleger: Borwärts- Verlag GmbH, Berlin   SW. 68, Lindenstraße 3 Fernfprecher: Dönhoff 292-29%

Zentralorgan der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands  

Personenwechsel in Magdeburg  .

Kriminalkommissar Busdorf   zurückgerufen.

Der Umtliche Preußische Pressedienst schreibt: umschlag, den Schröder dem ihm nur als Adolf" bekannten Haas In der Magdeburger   Mordfache Helling find an Stelle bei einer Autofahrt aus der Manteltasche gestohlen habe. Da ergibt des aus disziplinaren Gründen abgelösten Kriminalfommiffars fich doch die naheliegende Frage: Wenn schon der Untersuchungs­fen Hold die Berliner   kriminalbeamten kriminalober- richter den Haas für den Mörder hielt, warum ist nicht eine inspektor Dr. Riemann und Kriminalfommiffar Braschwih gründliche Haussuchung bei Haas abgehalten von friminalpolizeilicher Seite mit den weiteren Ermittlungen be- worden? Warum ist nicht nach dem Berbleib der Brief. Sie werden unverzüglich in Magdeburg   ihre tasche, des Siegelringes und des Berlobungsringes Tätigkeit unter Leitung des Untersuchungsrichters geforscht worden? Warum hat man nicht versucht, das Fahrrad aufnehmen. Kriminalfommissar Busdorf, deffen kriminali- zu finden, mit dem Helling am 10. Juni von zu Hause wegfuhr? frische Berdienste auch von den leitenden Beamten der Magde  - Warum ist bei Haas nicht nach der Kleidung gesucht worden, die burger Justizbehörde anerkannt werden, fährt lediglich im Adolf", bzw. der Mann in Chauffeurkleidung trug, der den Helling Intereffe einer gedeihlichen Führung der Zusammenarbeit zwischen am 10. Juni in seiner Wohnung besuchte und zum Ausgehen ver­den beteiligten Behörden nach Berlin   zurüd. Für den be- leitete? urlaubten Leiter der Magdeburger   Kriminalpolizei   Kriminaldirektor Müller übernimmt der Kriminalpolizeirat& unhe zunächst ver­tretungsweise die Führung der kriminalpolizeilichen Geschäfte.

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Warum bleibt der Schriftseher Fischer in Haft? Untersuchungsrichter Rölling hat den Chauffeur Große nicht in haft genommen, weil ihm die Berdachtsgründe nicht ge­nügten, obwohl er sie gar nicht geprüft hatte! Diese amtliche Mitteilung ist das Ergebnis des am Warum behält er Fischer in Haft? Gegen Fischer liegt nichts vor, gestrigen Tage in Magdeburg   abgeschlossenen Kompro als die durch keinerlei Tatsachen erwiesene Behauptung des Schrö misses zwischen den Beauftragten der Berliner   3entral- der, er habe die Bekanntschaft mit Adolf" vermittelt. Schröder hat behörden und den örtlichen Stellen. Auf den ersten Blid eine ganze Anzahl anderer Männer viel schwerer belastet als erscheint dieses Kompromiß insofern als unbefriedigerade Fischer, z. B. das Personal des tschechoslowatischen Konsulats, gend, als der Berliner   Kriminalkommissar Busdorf   den Chauffeur Reuter usw. Warum galten Schröders Angaben Warum ist Magdeburg   verlassen muß, obwohl er im Gegensatz allein gegen Fischer als anscheinender Haftgrund? zu den dortigen Stellen, die mehr als versagt haben, Hervor Fischer erst durch ten Holt festgenommen worden, während Kom­ragendes geleistet hat. Man kann sogar sagen, daß das ein- missar Rückriem, der den Fischer auf Grund der Anzeige Schröders zige, was in der Mordsache Helling positiv im Sinne der ermittelte, eine Festnahme für unnötig hielt. Gegen die Forderung Aufklärung dieses Verbrechens geleistet wurde, allein auf auf Freilaffung von Rudolf Haas mögen immer noch die Aussagen Busdorf   zurückgeht, während die Tätigkeit des Untersuchungs der vereidigten halb blinden Frau von Rottmersleben   ins Feld richters und der Magdeburger Kriminalbeamten eine An- geführt werden, die Fortdauer der Haft von Fischer häufung von unzulänglichkeiten, Fahrläs läßt sich aber nicht durch eine einzige tatsächliche Unter­figkeiten und Pflichtwidrigkeiten darstellt. lage begründen. Das amtliche Communiqué stellt übrigens die hervorragenden Berdienste Busdorfs ausdrücklich fest und bildet daher für ihn eine erste moralische Genugtuung, die zugleich eine schallende moralische Ohrfeige für den Unter­suchungsrichter Kölling ist, der das Zusammen­arbeiten mit ihm ablehnte. Das amtliche Communiqué deutet zwischen den Zeilen unverblümt an, daß Busdorf   nur deshalb abberufen wurde, weil nach der bestehenden Gesetzgebung das formale Recht auf der Seite des Untersuchungsrichters ſtand.

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Das Ministerium des Innern hat wenigstens in Magdeburg   das eine erreicht, daß der Untersuchungsrichter fich verpflichten mußte, in Zukunft mit den ihm benannten neuen Berliner   Kommissaren zusammenzuarbeiten. So besteht die Hoffnung, daß nunmehr in absehbarer Zeit ein völlig unschuldiger wieder in Freiheit gesetzt werden wird, und daß der wirkliche Mörder, der offenfundig fein anderer ist, als Schröder selbst, überführt werden wird, was unmöglich war, solange Rölling und Tenhold gehorsam nach seiner Pfeife tanzten.

Das Innenministerium hat somit das Aeußerste getan, wäs es tun fonnte, um dem Magdeburger   Skandal ein Ende zu bereiten Daß es nicht mehr hat erreichen fön nen, liegt eben an der Machtfülle, mit der die Richter gesetzlich ausgestattet sind, und gegen die es heutzutage geradezu unmöglich ist, erfolgreich anzufämpfen.

Wirrwarr in der Untersuchung. Magdeburg  , 28. Juli.  (( Eigener Drahtbericht.) Zunächst eine Feststellung: Im Juni 1925 wurde das Verschwinden

Der Waffenfachverständige Köllings.

In einer amtlichen Mitteilung ist angegeben worden, die im Schädel Hennings gefundenen Kugeln seien von 9 Millimeter­Kaliber, während der im Befiz Schröders gefundene Revolver eine 7 millimeter- Waffe ist. Wer ist der Waffenfachverständige, der diese Feststellung getroffen hat? Es muß ein blutiger Laie gewesen sein, der sich durch die Deformation der Mordkugeln täuschen ließ. In Wirklichkeit sind die Kugeln, mit denen Henning erschossen wurde, und der Revolver Schröders von gleichem Raliber. Burzeit wird von einem Sachverständigen untersucht, ob nicht Helling mit Schröders Revolver erschossen wurde.

Mißbrauch der Justiz durch reaktionäre Richter? Aus Magdeburg   werden Dinge bekannt, die wie Vor­spiele zu einem ungeheuerlichen Justizskandal anmuten. Am 21. Juli berichtete die Magdeburgische Zeitung": ,, Am Dienstag mußte sich bereits mit dieser Frage das Richterfollegium beim Magdeburger   Land. gericht befassen und entschied dabei, daß es mit der Magdeburger  Bolizei allein weiterarbeiten wolle."

Darauf stellte am 22. Juli unser Parteiblatt in Magde­ burg  , die ,, Boltsstimme", fest, daß dies Kollegium feine Befugnisse habe. Es sagte:

Wie kommt das Landgericht Magdeburg   zu einem Beschluß, zu dem es keinerlei Berechtigung besitzt? Wie ist die Nachricht von diesem Beschluß in die Presse gelangt? Warum werden die Gründe zu diesem Beschluß verschwiegen?" Nun geht das Berliner Tageblatt" auf diese andere Beschlüsse gefaßt habe:

Hellings angezeigt. Die Bearbeitung des Falles wurde dem Fragen ein, und teilt mit, daß das Richterkollegium noch

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Kommiffar ten Holt übertragen, ohne daß es diesem gelang, auch Uns wird mitgeteilt, daß, was moch viel peinlicher wäre, dies nur eine einzige Spur zu ermitteln. Die Sache schien im Sande zu verlaufen. Als die falschen Scheds auftauchten, wurde mit Richterfollegium" auch in Sachen Bewersdorff schon zu der Ermittlung Kriminalfommissar Rüdriem beauftragt. Dieser sammengetreten ist. Das war damals, als der Reichstagsabgeord­nahm auf Grund der Beschreibungen, die von dem Scheckschwindler nete Landsberg gegen Bewersdorff und Schultze seinen gegeben wurden, auf der Straße den Schröder fest. Die weiteren Er- vernichtenden Angriff in der Zeitschrift Die Justiz" gerichtet hatte. mittlungen führten Rüdriem auf die richtige Spur. Die Schecks Wir haben diese Ausführungen seinerzeit in allen wesentlichen wurden als aus dem Besitz Hellings stammend erkannt und die Auf- Teilen wiedergegeben. Damals trat, so wird uns berichtet, das findung der Pfandscheine brachte die goldene Taschenuhr und die Magdeburger Richterkollegium" zu einer natürlich geheimen Armbanduhr Hellings zutage, und zwar in Köln  , wo die Braut Sigung zusammen. In dieser wurde man dahin schlüssig, daß ves Schröder wohnt. Aus unbekannten Gründen wurde nach die angegriffenen Richter Bewersdorff und Schulze weder gegen diesen Feststellungen Rüdriems, die Schröder als den Landsberg   noch gegen die feine Ausführungen Mörder Hellings erkennen ließen, die weitere Bearbeitung übernehmenden Berliner   Blätter Klage erheben des Falles dem Kommiffar ten holt übertragen. Bei ihm wurde sollten. Davon versprach man sich keinen Erfolg. Benn aus dem großen, blonden, schnurrbärtigen ,, Adolf" der kleine, schwarze aber die Magdeburger Volksstimme" die Ausführungen übernehme, und bartlofe Rudolf Haas. Gegen Haas wurde die Sache auf Mord dann sollte gegen diese in Magdeburg   porge. geführt, gegen Schröder schwebt aber bis heute noch lediglich ein Ver- gangen werden. Da das Magdeburger   sozialdemokratische Organ fahren wegen Diebstahls, Betrugs und schwerer Urkundenfälschung. bie Ausführungen Landsbergs nicht veröffentlichte, konnte dieser Monatelang hielt man es nicht für nötig, in der Wohnung Schröders Beschluß nicht zur Ausführung kommen. Wir fragen das Magde. in Großrottmersleben eine Hausfuchung abzuhalten. Entgegen burger Richterfollegium, wir fragen insbesondere den Magde seinem Auftrage, worüber der Untersuchungsrichter fich burger Landgerichtspräsidenten, ob diese uns über öffentlich beklagte, fand Kriminalkommissar Busdorf   die Leiche mittelte Nachricht, die wir zunächst nur mit Vorbehalt wiedergeben, in Groß- Rottmersleben und machte auch sonst allerlei Feststellungen, wirklich zutreffend ist." die Schröder als den Mörder erkennen ließen. Der Untersuchungs­richter entwidelte folgende Theorie: Haas hat den Helling nach der Tschechoslowatei abgeschoben und dort ermorden laffen. Die bei Schröder gefundenen Wertsachen samt Schedbuch hat er sich von den Mördern gewissermaßen als Beweis für den ausgeführten Auftrag übersenden lassen, und zwar in einem Aften­

Es entsteht also der Eindruck, daß am Magdeburger  Landgericht eine Gruppe reaktionärer Richter in Beratung gemeinsame Aktionen beschließt- politische Aktionen, die mit der amtlichen Aufgabe der Richter nichts zu tun haben. Das Justizministerium wird den Angaben des ,, Ber­liner Tageblatts" nachgehen müssen.

Das Führerproblem.

Anmerkungen zu einem Buch. Bon Friedrich Stampfer  .

Das berühmteste Buch vom politischen Führer, Machiavells Principe", wandte sich an einen eng begrenzten Kreis von Adeligen und Gelehrten des Italien   der Renaissance. Es wäre ja auch zwecklos gewesen, ein solches Buch für Bauern und Tagelöhner zu schreiben, die nicht nur ohne politischen Einfluß waren, sondern auch nicht einmal zu lesen verstanden. Das neueste Buch vom politischen Führer ist nun in einer Schriftenreihe erschienen, Schriften zur Zeit", die von August Rathmann und Franz Osterroth   in Verbin­dung mit Radbruch, Bröger und Sinzheimer   bei J. H. W. Dietz herausgegeben werden. Es wendet sich an die ganze Jugend des deutschen   Volkes, vor allem an die Ar­beiterjugend. Sein Titel ist: Führer und Masse in der Demokratie", und sein Verfasser ist der Redakteur am ,, Borwärts" Curt Geyer  .

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Der Ruf nach geistiger Führung", den Curt Gener er­hebt, ist nach ihm selbst ein Ruf an die neue Generation", eine Mahnung an alle anonymen Kräfte". Und so ist sein ganzes Buch ein Appell an die Namenlosen der Gegenwart, die einmal die Namensträger der Zukunft sein werden. Zu Zeiten Machiavells gab es für den Sohn des Volkes nur einen Weg, zu öffentlichem Einfluß zu gelangen: den über die Kirche. Heute geht dieser Weg über die Partei. Parallelen zu ziehen wäre reizvoll, führt aber vom Wege zu weit abseits. Genug, darauf hinzuweisen, daß Geyer dem Hader, in dem sich die junge Generation mit dem Kollektiv­willen" der Partei befindet, fräftigen Ausdruck verleiht. Mögen fich die Jungen sagen lassen, daß den Alten diese Ge­fühle nicht fremd sind. Es gibt in der Demokratie keinen Führer, der sich nicht mitunter gegenüber dem Kollektiv­willen der Partei in persönliche Ohnmacht zurückgeworfen fieht, der sich nicht manchmal fnirschend fügen müßte. Man könnte daraus, auf die Parallele zwischen Kirche und Partei zurückgreifend, schlußfolgern, daß ohne ein erhebliches Maß von innerer Disziplin, von Selbst zucht, feine neue Macht entstehen kann, und daß solche Selbstzucht vor allem auch denen not tut, die einmal selbst Führer werden wollen. In der Demokratie entscheidet die Mehrheit. Der Führer aber ist ein einzelner, der einem Ganzen die Züge seines Geiftes aufprägt. Dieser scheinbare Gegensatz schließt das Problem der Führerschaft in der Demokratie in sich ein. Wir können uns nicht lange aufhalten bei der Vorstellung des charismatischen Führers", des Führers von Gottes Gnaden, des personifizierten Wunders, des Heilands und Retters, der in der Gedankenwelt der Diktaturapostel und Faschisten eine so große Rolle spielt. Gener verwirft diefe Ausgeburt einer naiven Spießbürgerromantik nachdrück­lich. Auf der anderen Seite sind aber auch wir Sozialdemo= fraten längst aus dem Stadium heraus, in dem wir den Begriff des Führers nicht gelten lassen wollten, weil er einem letzten Ideal der Gleichheit zu widersprechen schien. Wir haben keine Führer!" hieß es einst. Demgegenüber erklärt Gener:

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Wir haben Führer in der Sozialdemokratischen Partei, wir haben Führer in der sozialistischen   Bewegung über den partei­mäßigen Rahmen hinaus, wir haben Führer in den Gewerkschaften aller Richtungen, wir haben Führer von politischen Parteien, von Sozialpolitischen   Bewegungen, wir haben Führer der großen demo­fratischen Boltsbewegung... Wir haben auch Führer jener jungen und zukunftsfrohen Bewegung, aus der der Ruf nach Führern im besonderen kommt.

Wie ist es also? Hat Carlyle recht, und machen Männer die Geschichte? Oder sie ist, wie es ein mißverständ­lich vergröberter Marrismus möchte, nichts anderes als ein automatischer Ablauf von Massen erscheinungen? Hier verläuft sich das Führerproblem in das Problem der mensch­lichen Willensfreiheit überhaupt. Gener erkennt richtig, daß alle Politit aufhört, wo die Möglichkeit negiert wird, den Gang der Ereignisse durch persönliche Willens­äußerung zu beeinflussen. So erscheint denn auch das Ver­hältnis zwischen Führerwillen und Massenwillen als stete Wechselwirkung: Der Massenwille ist ebensosehr das Pro­duft des Führerwillens wie umgekehrt. Demokratie ist die Herrschaft der Mehrheit, zugleich aber auch die Freiheit und die Chance, den Massenwillen zu beeinflussen."

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Für die Führerschaft in der Demokratie gilt daher das­selbe, was Goethe von der Freiheit sagt: Nur der verdient fie, der täglich sie erobern muß. Sie kann nicht durch Er­folge, die in der Vergangenheit liegen, für Lebenszeit er­worben, sondern nur durch immer neue Bewährung der Führer eigenschaften erhalten werden. Führer ist nicht, wer Führer heißt, sondern wer wirklich führt. Daraus er­gibt sich bei der Bielgestaltigkeit unseres gesellschaftlichen Lebens, daß ein einzelner überhaupt nicht in allen Fragen Führer sein kann, weil eben feine einzelne Person alle Eigen­schaften, Fähigkeiten und Kenntnisse in sich vereinigen kann, um überall für sich allein den Ausschlag zu geben. Darum wäre es wenigstens auf unsere Partei bezogen- vielleicht richtiger, statt von Führern" von einer Führung" zu reden, deren Personenkreis und deren Spize veränderlich sind. Wobei sich, wohlverstanden, die Veränderungen feines­falls immer durch Neuwahlen innerhalb der Organisation vollziehen, sondern vielmehr so, daß je nach Lage der Um­stände bestimmte Personen und fallweise sich bildende

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