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Itr. 370 43. Jahrgang
1« Heilage öes VorWärts
Sonntag, 8. Mgust1H2b
p e t e r Fern sehr fern liegt die Zeit, die eine liebenswürdige Poesie ihrem Wanderburschen in das verstaubte Wams hineingewoben hat: ßn Versen, aus denen lustig das 5)orn des Postillons klingt, zwischen deren Zeilen der Herr Meister und die Frau Meisterin rumort und in denen der Wein mit des Wirtes Töchterlein sich reimt. Unsere Aest begeistert sich nur in Paragraphen, Verordnungen Straf- gesegen für die, die ruhelos die Straßen des Landes ziehen. Wohin sie auch ihren Weg wenden, überall sind sie von einer amtlichen Für. sorge umgeben, die Schutz sein soll für Land, Leute und ihre Habe, gegen einen Feind, den hungergepeinigt� Eingeweide in Menschen, die die Not entnervt, gebären. Mit Recht ist man bedacht, ihre Wege und ihr Tun verfolgen zu können, denn es find Legionen geworden, und immer neue Scharen spült die Elendsflut der Großstädte hinaus auf die Straße ohne Ziel. Kommt man ein gutes Stückchen aus Berlin   heraus, vielleicht nach Stendal  , Magdeburg   oder Wittenberg  , kann.man an den Zugängen zur Stadt große weiße Schilder f'itrden: Wanderarbeits statte, Westerwall(Stendal  ), oder wo sie sich gerade befindet, und darunter steht groß und fett:»Bettelei ist verboten und wird streng bestraft." Das ist Einladung und Mahnung zugleich für die, die hier Einkehr zu halten gedenken. »Mit oüer ohne!* Umfang und Einrichtung der Wanderarbeitsstätte ist grundvcr- chiedon und entspricht der Bedeutung des Ortes, in dessen Mauern sie 'ich befindet. Bald liegt sie draußen einsam zwischen Gärten und veldsrn, bald verkriecht sie sich in einem abseitigem Gäßchen, grau, zwischen anderen grauen Hausern. Ebenso verschieden ist der bau- .ichc und hygienische Zustand der Stätten, die gegen Arbeitsleistung
»mittellosen Wanderern" Unrerkunft und Verpflegung gewähren. Für die Ausnahme ist es jedoch Vorbedingung, daß der Obdach. heischende einen ordnungsmäßig geführten»wanderschein" vorweisen kann, denn die Arbeitsstätten sind so verteilt, daß sich eine genaue Kontrolle der zurückgelegten Wegestrecke durchführen läßt. Spät am Nachmittag kommen bestaubt oder durchgeregnet die ersten Gäste und mit des Zeigers Laus kommt eine bunte Gesellschaft zu- sammen, aus ollen Himmelsrichtungen,- im Schicksal gleich wie ein« große Familie. Alte Menschen, junge, blühende und zerfallene, vom Elend der Straß- zermürbte, die in allen möglichen Stellungen ihre Müdigkeit plastisch gestaltete, haben doch die meisten einen Weg von etwa 3t) Kilometer hinter sich. Manches Auge sucht sehnsüchtig die.Futterklappe", die sich bald öffnen und dampfende Näpfe her, geben soll, denn trotz der strengsten Trennung zwischen Küche, Ver. waltungsräumen und den Aufenthalts- und Schlafräumen der Wan  - derer hat sich der feine würzige Dust einer kochenden Erbsensuppe durch die Spasten geschlichen. Damit aber der stärkste Appetit hin- gehalten wird, gibt es erst eine peinliche Prozedur.»Hemden aus", heißt es, und im Nu wimmelt es in der Stube von nackten Leibern, die sich einer Ecke zudrängen, wo mit einer elektrischen Handlampe bewaffnet der.Vize" des Haüses die Gäste sorgsam nach.rein" oder '.unrein" scheidet: nicht etwa nach dem gleichmäßig schämigen Grau der Hemden, sondern ob mit oder ohne Ungezilßer. DieUnreinen" müssen gleich in den Keller in die.Bienenkammer", wo sie in der Abgeschiedenheit ihr kahles Lager finden. Dann gibt es das Abend- brot, einen Liter Suppe, der die in allen Mundorten redenden Mäuler beschäftigt. In das satte Behagen, das sich schnell bemerkbar macht, bringen die blitzenden Gestalten zweier Polizeibeamten eine unangenehme drückende Stimmung. Sie kommen jeden Abend zum »Ztachslebben", mit dem dicken roten Fahndungsbuch unter dem Arm. Sie kommen hierher aber zu jeder anderen Tages- oder Nachtstunde. Fehlt irgendwo ein Regenschirm, oder sonst ein Gegenstand, wo vor- her ein Bettler vorgesprochen hat, dann wird mit Zeter und Mordio die Polizei alarmiert, die an dieser Stätte' pflichtgemäß, aber ver. drossen Nachsuche hält. Sie weiß es genau, wie der Hausvater, daß hier nur Leute mit einemziemlich" reinen Gewissen Einkehr halten. Selten, sehr selten geht hier jemandhoch".-- Langsam schleicht die Zeit durch die Tabakschwaden der Fremdenstube, zu langsam für die müden Wanderer, bis es Schlafenzeit wird und es hoch geht in die Schlafsäle mit den einladenden Betten richtigen Betten. Trotz der klaffenden menschlichen und moralischen Unterschiede, die unter den Menschen hier herrschen, kann man eine außergewöhnliche Eintracht und Ordnung bemerken, die fast eigenartig zu dem frag- würdigen Aussehen der GestaUen, die sich emsig entkleiden und das wärmende Lager suchen, wirken. Sei öer Arbeit. Morgens um 8 Uhr geht es los. nach einem bescheidenen Früh- stück von Kaffee und Marmeladcnbrot. Zögernd, nicht unwillig folgt die bunte Gesellschaft den Anweisungen des..Vize", der die Arbeits- stätten anweist und Handwerkszeug ausgibt. Für einige Leute gibt es Hausarbeit. Bettenmachen. Scheuern, und zwei oder drei ganz Alle müssen Kartosfeln schälen, für die, die am Abend hk»r Einzug halten. Die hauptbeschäsligung ist aber holzsagen und-spalten und Landarbeit.-So emsig auch der Betrieb sich bald ansieht es ist lein freudiges Schaffen unter dem Zwange der Selbsterhaltung sür Brot und Bett und dann hindert die Unerfahrenheit in der Ver- richtung der primitivsten Arbeiten. Der da mit z-rlotschten Lack-
schuhen, die auf Asphalt und Pflaster ihren Glanz ließen, den Spaten in die Gartenerde treibt und mit weichen Händen, sein Werkzeug mühsam meistert, hat hinter seinen Büchern, in die er zu seinem Er-. werb Zahlen aus Zahlen hineinmalte, nie etwas von des Gartens Bestellung geahnt. Jetzt murmelt er in seiner Hilflosigkeit Ver- wünschungen über die Erde, die mit gebärender Kraft gesegnete. Hellauf kreischt die Süp, die eine ungeübte Hand in den Stamm hin- eintreibt und mancher Schlag der Äexte verfehlt den Kloben. Das Ergebnis von vier Arbeitsstunden ist darum beschämend. An manchen! Orten gibt es nur Hausarbeit und Straßenrcmigung: wo anders! müssen Reinigungsorbeiten in Schulen oder Gasanstalte» gemacht j werden. Von einer rationellen Ausbeute der zur Verfügung Stehenden> kann wohl keine Rede sein, wenn auch die Wanderer an jeder gc- eigneten Stelle aus ihreLeistungen" deuten. Die Organisation. Von der großen, großen Schar, die die Straßen zieht, ist es aber nur ein verschwindend kleiner Teil, der mit einem wanderschein in der lasche Obdach und Verpflegung in den Wanderarbeitsstätten sucht. Man sucht ober jetzt der großen Masse dadurch beizukommen, daß an vielen Orten die Wanderer, die sich obdachlos bei der Polizei melden, an die Arbeitsstätten gewiesen werden, wo sie gegen Arbells- leistung von einundeinhalben Tag einen Wanderschein erhalten, wenn sie denselben nicht sür Geld erwerben können. In diesen buchartigcn Schein wird genau Abgangszeit und Ziel eingetragen, so daß der Wanderer gezwungen ist, Route und Zeit einzuhalten, wenn er nicht Obdach und Verpflegung verlieren will. Die Verwaltung der WASt. erfolgt durch den Deutschen Herbergsoerein unter der Kontrolle des Landeshauptmanns und mit Zuschüssen der«tädte. Der Hausvater, der jeweils die Arbeitsstätte leitet, hat zu seiner Unterstützung einen logenanrten.Vize", der sür Sauberkeit und Ordnung zu sor-'cn hat Er oerteilt die Arbeit und auch das Essen.-
Memdea aus." Vom Sechzehnjährigen, der noch nicht die Lektionen der Schule vergessen haben kann, bis zum gebeugten Graukops ist jedes Aller auf der Landstraße vertreten, doch überwiegen die Gestalten der Jugend, in denen das Nomadenleben des Krieges wachgcworden ist, in der Enge der Arbeitslosigkeit. Es sind nicht wenige, denen ein Entlassungsschein aus der Strafanstalt den Zugang zu Heimat und Haus versperrt. Manchen trieben fordernde Gläubiger hipaus. Un- wisscnhest, Mutwillen und Leidenschaften sind aber meistens die Ver- sührcr, die auf die weite, weite Straße ohne Ziel führen.
Die Sigurantin. Roman eines Dienstmädchens von Leon Arapie. Autorisierte Uebersetzung aus dem Französischen von Kunde-Grazia. Man versprach Sulette die Adresse einer Stelle für den folgenden Morgen. Beim Verlassen des Nachweisbureaus amüsierte sie sich aus Kosten einer hochgewachsenen liothaarigen, die dem Alter nach schon als Köchin gehen konnte und die ein Gymnasiast in Jnternentleidung mit 'er Brunst eines zu kleinen Hundes umwarb. Sulette aber erstand bald, daß ein Herr im schwarzen Anzug sich an ihre Zersen heftete. Ein Wagenandrang, der sie nötigte, am t.ande des Bürgersteigs zu warten, erleichterte den Angriff. Schönes Wetter heute abend. Fräulein...- Haben öie weit zu gehen?". Sie wich zurück und wollte stehenbleiben, bis dieser Zudringliche sich entfernte, aber jetzt fühste ihr der Menschenstrom zahlreiche seingekleidete Herren entgegen, welche in schräger Richtung auf sie zukamen und ihr mit Annäherungsoersuchen drohten. Sie wechselte den Steig und plötzlich fühlte sie in sich as Erwachen eines neuen Sinnes: sie erlangte dieses :'.si!.niert-wcibliche und Pariser   Talent, nach der Seite zu cken, ohne hinzuschauen, hinter dem Rücken den Passanten , ahnen, der ihre Formen einer Musterung unterzog. Sie -stand auch mit Hilfe der Schcksifensterscheiben seitwärts > schielen. Unter den zahlreichen Nachstellungen eilte sie, h duckend, die Lippen zusammengepreßt, mit unter dem ch gefalteten Händen weiter. Ain andern Morgen bestand ibr einsiges Abenteuer in daß beim Weggang aus dem Vermittlungsbureau ein rnn sie mit der liebevollen Absicht ansprach(während er ' r sd'nstar geheimnisvoll obstöne transparente Karlen o». d ah er ihr eine großartige Stelle im Ausland oder ich leichten und angenehmen Dienst in einer Kneipe des -uartier Latin nachweisen wollte. Er verfolgte sie lange seit mit werberhafter. Zudringlichkeit, wobei er versuchte, sie in eine Droschke zu bekommen. Dank energischer Zurückweisung erreichte sie es, ihren Weg ruh'g fortsetzen zu können: nicht ungern fühlte sie die verlangenden Blicke der auf dem Wege nach ihrem Schreibtisch begriffenen Angestellten auf sich ruhen. In einem fünften Stockwerk der Rue des Batignolles östnete eine bejahrte Frau, die einen triefäugigen Mops- bastard im Arm hielt, halb ihre von einer Sicherheirskette gehaltene Tür.
Sie kommen vom Dienstbotenbureau?" fragte sie in mißtrauischem Tone,reichen Sie mir den Ausweis durch die Türspalte." Nach peinlicher Durchsicht des Scheines wurde Sulette hereingelassen und das Examen begann: Sind Sie wenigstens reinlich?" Reinlich?..." Gott  , ich frage nicht, ob Sie noch ins Bett... Sind Ihre Eltern dick? Ich will das wissen, weil ich sehe, Sie sind mager wie ein Brett: ist das Anlage, dann hats nichts zu sagen, aber wenn Sie ausgehungert sind, bin ich nicht gesonnen, Sie zu beherbergen, weil Sie mir sonst alles im Hause verschlängen. Und dann muß man Ausdauer bei der Arbeit haben, darf mit seinem Schweiß nicht sparen: muß nüchtern und willig sein.... Sind Sie ein eheliches Kind? Ich möchte in meinem Hause kein Dienstmädchen von außerehelicher Geburt." Ihre Eltern sind niemals bestraft worden? Schnell, überlegen Sie wohl, selbst ihr Dater nicht, gar nicht ein einzigesmal wegen Trunkenheit? Sie werden mir unter- fchriebene, beglaubigte Zeugnisse verschaffen, ebenso Atteste über Ihre Eltern, Brüder, Schwestern, wenn Sie welche haben... ich bin einverstanden, auf diese Urkunden zu warten, bis sie aus Ihrem Ort eintreffen." Madame, ich..."' Es ist Ihnen nicht gestattet, so zu sprechen, mich so anzusehen, sich so zu schnauzen, noch auch so zu seufzen. Und dann haben Sie eine Frisur, die ich nicht liebe, und zu enganliegendes Kleid, das ist unanständig. Ich setze voraus, Sie glauben doch nicht, meine Wohnung mit Ihren Jagd- stiefeln zu betreten. Kaufen Sie sich Halbstiesel zum Knöpfen, das lasse ich zu. Sie werden mir zu beweisen haben, daß nichts an Ihrer Wäschcausstattung fehlt. Die Dienstmädchen, die nicht genug Wäsche haben, schämen sich nicht, die ihrer Herrin zu brauchen, diese Diebinnen!" Madame wird meinen Koffer durchsehen..." B'S auf den Boden, seien Sie dessen sicher! Und dann, keine Parfüme: Sie scheinen nach Kampfer zu riechen? Verheimlichen Sie keine Krankheit? Strecken Sie die Zunge heraus. Mein Gott, was für eine spitze Zunge! Ist denn das natürlich? Ich wette, daß Sie schwatzhaft find: Sie werden mich zum Vorbild nehmen. Ihre Hände sind nicht aufgesprungen genug, sollten Sie Furcht vorm Scheuern haben? Wie lautet Ihr Name auf diesem Schein?" Sulette, Madame." Wie? Ich verstehe nicht, daß ein Dienstmädchen sich gestattet, einen solchen Namen zu tragen! Das ist ein
Romanname, wahrhaftig! Ich hoffe, daß Sie bei der Arbeit nicht träumen, merken Sic sich, das Dienstmädchen gehört mit Leib und Seele seiner Herrschast, es ist ihm nicht gestattet, an etwas anderes als feine Arbeit zu denken, es muß den Kopf leer haben, auf diese Weise macht man keine Fehler, zerbricht nichts, trödelt nicht, um den Fliegen zuzusehen, wie sie mausen. Ich habe eben eine deswegen fortgeschickt, weil sie sich dieVeillees du dimanehes" kaufte, die freche Person!... Uebrigens bin ich nicht anspruchsvoll und gebe monatlich fünfundzwanzig Franken." Sulette hielt nur sechs Wochen jiuf der Rue des� Batignolles aus. Der geringste ihrer Schmerzen war, daß man sie zwang, die Ueberbleibsel zu essen, die der triefäugige Hund nicht mochte. Beziehungen knüpften sich zwischen ihr und dem Ver- mittlungsbureau, sehr beständige, freundschaftliche. Sie wechselte in sechs Monaten fünfmal mit ihrer Herrschaft. Halt," sagte endlich der Agent, der Mitgefühl mit dem Unglück seinesSchützlings" heuchelte,diesmal haben wir besseren Erfolg: ich bringe Sie bei einem Offizier, einem noch aktiven Hauptmann unter." Leider! Auch bei dem Hauptmann herrschte wie bei dem Professor, dem Beamten oder dem kleinen Kaufmann die Knauserei, die Bettelhastigkeit, die man mittels spanische� Wände zu verbergen eifrig bemüht war, und der Hauptpunkt dieses Augenbetruges war dos Dienstmädchen. Das Dienst- mädchen! Unglückliche Dekorationsfigur, die man nie ausgab und die in Ueberanstrengung und Elend die ganze Last der Repräsentation zu tragen hatte. Ohne Privatvermögen war der Hauptmann das Opfer seiner goldenen Tresse, der Etikette, der Garnisonwechsel, der Familie. Die Geldklemme und Eitelkeit mochten tzut militärisch sein, das Dienstmädchen litt deshalb nicht weniger darunter. In der Küche wurden Kämpfe um das zugeteilte Brot zwischen Sulette und der hungrigenOrdonnanz" aus- gefochten. Eine beinahe vollige Fastenzeit folgte- den prunkvollen Diners, die von Zeit zu Zeit, je nach den Berpflichtungen, veranstaltet wurden. Im Keller hatte man keinen Wein: die bei jedem Empfang nöttgen edlen Gewächse bekamen ihr altes Aussehen beim benachbarten Delikatessen- Händler. Wenn eine Flasche am Leben blieb, tauschte man sie nach dem Fest gegen Zucker und Seife um. War sie unglücklicherweise entkorkt worden, dann bemühte sich die ganze Familie klopfenden Herzens, den Verschluß neu zu versiegeln. (Fortsetzung folgt.)