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Nr. 37$ 43. Jahrgang

7. Seilage öes vorwärts

Ireitag, 73. Mgast7H2ö

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Die Großstodt hat mancherlei Einrichtungen nötig, die in kleinen Orten ohne Schaden wegfallen können. Welche Unsumme von Arbeit, körperliche und mechanische Leistungen erfordert allein der Stoffwechsel einer Riesenstadt wie Berlin . Di« Beseitigung der flüssigen und festen Ausscheidungen ist für die Großstadt mit ge- schlossener Bauweise ein Problem von höchster Wichtigkeit. Wie es früher war. Es ist nicht allzu lang« her, da liefen noch in Berlin in den offenen Gröben für die Abwässer, die sich dicht an den Bürger- steigen befanden, die Rallen lustig herum. Frisches Wasser gaben Brunnen und Pumpen. Und erst 18SS wurde das erste Wasierwerk errichtet. Aber man war konservativ. Die Znanspruchnahm« der Röhrenleitung durch die Hausbesitzer ersolgte in den ersten Jahren nur zögernd. Das änderte sich mit dem Ausbau derHochstadl*, Schönhauser Allee mit ihren mehrstöckigen Häusern. Die Kanaü- sation wurde erst in den 70iger und SLiger llahcen gänzlich durch- geführt, nachdem die Stadt die Wasserwerke, die bis dahin einer eng- Alchen Gesellschaft gehörten, selbst übernommen halle. Als die neue Stadtgemeinde Groß-Berlin ins Leben trat, halten 31 Gemeinden sich in Zweckverbände und Entwäflerungsgenossenschaften zusammen- geschloffen. Andere Vorortgemeinden waren von dam Äanalisatwns- betriebe der Altstadt abhängig: zum Teil wurden die Abwässer in die nach den Berliner Rieselfeldern führenden Druckrohr« gepumpt. Vau und Vetrieb der Entwässerungsanlagen wurde durch die Zer- splitteruug wesentlich verteuert. Während in Berlin selbst das Leitungsnetz aus einem Guß ohne Rücksicht aus die schon damals vorhandenen Verwaltungsbezirke der inneren Stadt entworfen worden war, hallen fast alle Vororte, sehr zum Nachteil« des Ganzen, ihr Kanalisationsnetz auf ihr verhältnismäßig kleines Gemeinde- gebiet beschränkt.

UnÜ heute. Nach dem Zusammenschluß der 94 Gemeinden ging man daran, die gesamte Entwässerung der Stadt einheitlich zu regeln, nur den 14 Außenbezirken wurde der Bau und Betrieb der Straßen- leitungen vorläufig noch belassen. Hinsichtlich der Pumpwerte und der Rieselfelder ist nun die Zentralisation durchgeführt, von den 9? 000 bebauten Grundslücken, die Berlin zählt, sind rund 78 009 der Kanalisation angeschlossen. Das Straßenleitungsnetz hat eine Länge von 4109 Kilometer, die Druckrohre eine solche von 999 Kilometer. Von der gewaltigen Ausdehnung dieses unter- irdischen Röhrennetzes gewinnt man erst eine richtige Vorstellung, wenn man sich vergegenwärtigt, daß die Eisenbahnlinie von Königs- berg bis Stuttgart nur 999 Kilometer mißt. In diesen Kanälen, die durch alle bebauten und regulierten Straßen es gibt deren jetzt S999 mit Anschlüssen an die Grundstücke, laufen neben dem Regen- waffer unaufhörlich die ungeheuren Mengen der verbrauchten Ab- wäffer. Wo bleiben nun dies« unreinen mit Fäkalien vermischten Gewässer? In die Gewässer in und um Berlin geleitet, würden dies« Schmutzmaffen nicht bloß den ganzen Fischbestand vernichten, sie würden der ganzen Bevölkerung zum verderben werden. Das ge- schieht also nicht, sondern diele Abwässer werden durch die 78 Pump- werke zu nützlichen Zwecken hinausgedrückt nach den städtischen Rieselgütern. Nicht weniger denn rund 189 Millionen Kubikmeter im Jahre, etwa 494 999 Kubikmeter Abwässer im Tage werden so der Landwirtschaft zugeführt. Dort kommen die Flüssigkeiten zunächst auf Klärbecken, die festeren Bestandteil« senken sich zu Boden, die flüssigen werden durch große und kleine Kanölchen über die Felder der Stadt Berlin es sind insgesamt über 11 999 Hektar geleitet. Di« Verwaltung der Pumpwerke untersteht dem Tiefbauamt, einer besonderen Abteilung unter der Leitung des Direktors Baurat Langbein. Es sind gewaltige Anlagen, dt« hier in Frage kommen. 75 Dampfmaschinen. 28 Dieselmotoren. 98 Elektrowoloreu. eine ganze Anzahl Gas- und Leuzinmoloren mit insgesamt Z7 000 Dferde- frästen arbeiten Tag und Nacht. Und diese eisern« Ungetüm« sreffen im Jahre rund 42 999 Tonnen an Kohl«. Außerdem sind 4,9 Millionen Kilowattstunden und 4,4 Millionen Tonnen Benzol nötig und 1599 Tonnen Treiböl bedarf es im Jahre, um die Riesen gelenkig zu erhalten. Rund 1899 Beamte, Angestellte und Arbeiter erfüllen in den städtischen Entwässerugsbetrieben chre Pflicht. Die Straßenreinizung. Von größter Wichtigkeit für die Hygiene in der Großstadt ist die Straßenreinigung. Sie erstreckt sich in Berlin auf eine Straßen- fläche von 3987,1 Hektar, davon entfallen auf Fahrdamm 2291,7 Hektar. An Kehricht werden im Jahre etwa Z70 000 Kubik-

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meter aus den Straßen befärdert. Die Kosten belaufen sich auf 3,59 Mark pro Kubikmeter. Zur Bewäliigung dieser Massen bedarf es einer großen Menge von Gerätschaften, handliches und maschinelles. Der Fuhrpark der Straßenreinigung verteilt sich in Alt-Berlin aus vier große Gerätehöfe, ein« Anzahl der größeren Außenbezirke unterhält eigene Fuhrhöse. Insgesamt sind vorhanden 74 Kehr- und Sprengwagen mit motorischem Antrieb, 839 mit Pferde- betrieb: ferner 135 elektrische Waschmaschinen und 28 mit Pferde- gespann. Bei Schneefall können etwa 299 Schneepflüge und 399 Handschneekarren eingesetzt werden. An menschlichen Arbeitskrästen sind zirka 3999 vorhanden. Das Waschen und Sprengen der Straßen erfordert im Jahr« rund 579 999 Kubikmeter Wasser. was geschieht mit öem Kehricht! Auch diese Ausscheidungen der Großstadt werden so viel wie möglich nutzbringend verwendet. Die Laubenkolonisten werden gegen geringe Entschädigung für Fuhrlohn mit Kehricht beliefert, der ihnen als Verbesserung ihrer Gartenerde sehr willkommen ist. Nach G r o ß.b e e st e n wurden vor kurzem 89 Kahnladungen gebracht und selbst in die Umgebung von Dresden gingen 299 Waggons in die dortigen Spargelfclder als Dung. Ferner werden Parks, Baum- schulen und Spielplätze mit Straßenschnill beliefert. Nach der Londoner Straße im Norden Berlins wurden 19 999 Kubikmeter ge- fahren, und zurzell sind 40 000 Fuhren zur Abplanierung und Ver­besserung des dürsligen Lodens in den Rehbergen angefordert, wo Anlagen und Spielplätze vorbereitet werden.

In einem folgenden Bericht wird über die Art und Weise der Müllbeseitigung in Groß-Berlin zu sprechen sein.

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Die Figurantin. Roman eine» Dienstmädchen» von Leon Frapie.

Autorisierte Uebersetzung aus dem Französischen von Kunde-Grazia. Die gefundene Erklärung vermehrte den Kummer Sulettes nicht: sie hatte Geschmack an den Sitten der Dienstbotenetage gefunden und hätte nicht mehr unter einem Verschluß mll ihrer Herrschaft schlasen wollen. Sie hielt sehr darauf, ihre Beziehungen zu den Käme- radinnen des Boulevards Beaumarchais und anderen Orts. wo man sie vorgestellt hatte, aufrecht zu erhalten und empfing gleichfalls Besuche von Freundinnen. Ihr« sechste Etage zählten die nächtlichen Lieferanten unter ihre besten. Das Haus war ein dreiteiliges Gebäude mit fünf herrschaftlichen Etagen, die Etage zu zwei Wohnungen, dys bedeutete eine Bevölkerung von, minimal berechnet, vierzig Dienstboten. Sulette fand daher nicht nur den ossentlichen Schriftsteller, sondern auch alle Kolporteure unddie Herren Künstler" wieder. Unter den Leibkomödianten der Dienstherrschaft war Herr Benoit der merlwürdigste, er hatte bartloses, faltenreiches Gesicht von grünlicher Färbung: sein Alter ließ sich nicht bestimmen er stand zwischen fünfundzwanzig und fünfzig. Für Sulette bekannte er heftige Neigung: bei jedem feiner Rundgänge im Hause trug er ihr(es war selbst- verständlich blauer Dunst) in ernstem Tone die Ehe an und versprach, sie auf den Brettern debütieren zu lassen, denn er fand sie fürs Theater begabt: einige Anstands- und Vortragsslunden würden genügen: das wäre Ruhm und Geld. '..Sehen Sie! Sie hat wirtlich das tragische Mienen- spiel." Er rief die Nachbarn zu Zeugen an, indem er ihnen das Gesicht Sulettes mit markierten, ausdrucksvollen, belebten Zügen und das in der Tat tragische Gepräge ihrer Mimik zeigte. Da Sulette entschieden in den theatralischen Bund nicht willigte, wechselte Herr BenoU sein Verfahren. Kommen Sie doch ein bißchen mit Luft schöpfen, in einer Viertelstunde gehen Sie wieder hinauf." schlug er an einen lauwarmen Abend, als der Himmel ganz mit bläulich schimmernden Sternen besät war, vor. Sulette brach, ohne zuzusagen oder abzulehnen, bei dieser Einladung in Lachen aus. Tun Sie das niemals, Sie llnglückskind," flüsterte eine Kameradin.

Kaum war Herr Benoit fort, als man das Beispiel mehrerer Dienstmädchen zitierte, die mit ihm ebenso, in bloßem Kos, die Tür offen, ihre Siebensachen in Unordnung lassend, hinuntergegangen waren, um einen Spaziergang von einer Viertelstunde zu machen, und nie mehr hatte man sie wiedergesehen! Schlimmer noch: niemals mehr halte man etwas von ihnen gehört! Sogar die Polizei, die die Dienstherren in Bewegung setzten, hatten keine Spur von ihnen gefunden. Infolge so eines befremdenden Berschwindcns unterbrach Herr Benoit eine Zeitlang die Besuche. Bei seinem Wieder- auftreten auf der Szene erzählte inan ihm den Vorfall, er wußte nichts. Mnerte sich an nichts! Schließlich fanden mit beharrlicher Unverständlichkeit niemals Nachforschungen betreffs des Herrn Benoit, trotz der ausdrücklichen Denunzierungen der Bewohner der sechsten Etage statt. Und man sprach es ganz leise aus, ganz leise, daß Herr Benoit und die Polizei nicht ohne Beziehungen wären. Gewisse Annäherungen ließen keinen Zweifel zu. So hatte ein Dienstmädchen einen sehr gut verhehlten Diebstahl begangen, er war unmöglich zu beweisen. Herr Benoit säumte nicht, sich zum besten Freund des verdächtigten Mädchens auszuwerfen, und anstatt kleine Geschenke seiner Gewohnheit gemäß zu beanspruchen, zeigte er im Gegenteil eine Freigebigkeit. Eines schönen Tages waren die Beweise da: das verdächtigte Dienstmädchen wurde beschuldigt, fest- genommen, verurteilt. Wenn nun Herr Benoit inmitten der Bewohner der Sechsten die Melodie des Mordcouplets genügend abgeleiert hatte, worum man ihn wie hypnotisiert bat, im Drange, seine eigenen Makel zu sehen und sich selbst zu denunzieren, das waren Geschichten von Diebstählen. Das Meeting wurde auf dem Gange abgehalten, der drei Meter breit und genügend lang war, um eine Reihenfolge von dreißig Türen aufzuweisen. Herr Benoit hatte immer wieder neues zu erzählen und schilderte unter einem für die Dienstmädchen eigenartigen Gesichtspunkt den Diebstahl, dieses trostlose und unaufhörliche Deruisdtoma. Trotz ihrer Antipathie gegen seine Person hörte selbst Sulette, die keine Diebin war, sich bis dahin mit dem Naschen von Eßwaren begnügt hatte, ihn mit Würde zu. Ach! Man hätte geschworen, Herr Benoit sei der Freund, Beistond, Berteidiger der Dienstmädchen, wenn er nicht das Denunziantentum aus allen Poren geschwitzt hätte!

Man mußte ihn seine Geschichte mit der rührendsten Logik erläutern hören. Woher kommt die Ehrbarkeit der ehrlichen Leute? Entweder aus dem Mangel an Versuchung oder an dem Fehlen der Not. Nehmen Sie diese Schutzmittel weg, alle würden, soviel kann man sagen, der Versuchung erliegen. Die Redlichkeit ist eine Frage des Anteils am Glück. Also ist der Diebstahl ein Zwangsvergehen der Dienstmädchen, ist das Verhängnis der jungen Geschöpfe, die inmitten der Versuchung ununterbrochen, von Morgen bis Abend, leben.- Ueberlegen Sie: das Dienstmädchen ist eine Bettlerin,eine des Besitzes Beraubte ", und ihre einzige Tätigkeit besteht in der Handhabung des Besitzes anderer.... Und der Diebstahl ist nicht nur vom Standpunkt einer gewissen Krankhaftigkeit. vom Standpunkt seelischer und körperlicher Not, man stiehlt aus Kummer, aus Schmerz über das Alleinsein, stiehlt aus Bedürfnis nach Liebe, aus Anreiz der Sinne. Alle sagen es: Man nimmt oft unnütze Dinge, ohne zu wissen, warum, wobei man nicht einmal sicher ist, ein Verlangen danach zu haben." Die Hörerinen wußten nur zu gut, daß Herr Benoit seine Argumente als tückische Lockmittel vorbrachte, um irgendeine verräterische Aeußerung festzustellen, sie konnten sich nicht enthalten, ihm beizupflichten, einige Brocken von Geständnissen verlauten zu lassen. Die Wahrheit tönte aus seinen Worten, trotz des falschen Blickes, trotz des Verrätergesichtes, trotz seines plötzlichen. lauernden Sichvorbeugens, das den Eindruck erweckte, als wollte er plötzlich jemanden an der Kehle packen. Und man weinte, wenn er das Ungerechte der Unter- drückung anklagt. Unterdrückung u. priori(als Srstes), Ungerechtigkeit von Grund aus, da das Vergehen als eine Tat aus zwingenden Gründen sich darstellte, da ja die Deliquentinnen durchgehend? im Zustand der Unzurechnungs- fähigkcit sich befanden. Aber welche Ungerechtigkeit! Was für unerhörte Bei- spiele! Wieviel um eines geringen Diebstahls willen ver- nichtete Dienstmädchen! Wieviel mit dem Tod bestrafte Eigentumsoergehen! Denn schon die Entlassung die einfache Entlassung eines Mädchens wegen einer Ungehörigkeit ohne Zeugnis oder mit einem zweifelhaften, ist der Verlust des Verdienstes, die wahrscheinliche Vernichtung, aber nun gar die un­auslöschliche Verurteilung durch die Strafkammer, das ist das Ende jeder Hoffnung, ist per sichere Untergang. mfim MflffT-!- tSortsetzung folgt.)