Sonntag 15. August 1926
Unterhaltung und Wissen
Der Bucklige.
Bon Andrei Globolj.
Unmittelbar bevor der junge ruffische Dichter Andrei Gsoboli Selbstmord beging, ift eine neue Sammlung seiner Erzählungen in Mostau erschienen. Wir bringen eine von ihnen hier zum Abbrud. In der vorliegenden Erzählung spiegelt fich die Geelenftimmung, die Gioboli vor seinem Tode beherrschte.
Heute, am 25. März, dem Mariä- Berkündigungstag, um 12 Uhr mittags, wird Ssergei Petrowitsch Storobogatscheff, Profeffor der Literatur an dem einstigen Mariengymnasium für Mädchen, aufgehört haben zu eristieren.
So muß es sein, so ist es notwendig, und fo ist es vorher. bestimmt.
Und Storobogatscheff bin ich selbst.
Ich erinnere mich, wie wir als Kinder an diesem Festtage arme fleine Bögelchen aus ihren Käfigen befreiten. Ich erinnere mich, wie wundervoll und wie ungebunden sie diesen Käfigen entflogen, dem flaren, in seiner Klarheit so weißen Himmel entgegen.
Und mun, in etwa zwei Stunden, wird sich auch meines Käfigs Pförtchen öffnen.
Der Himmel ist heute leicht bewölft. Das Glüd ist mir nicht hold; in irgendeinem Winkelchen meiner Seele hatte ich doch geglaubt, es werde ein sonniger Tag sein. An einem sonnigen Tag ist es leichter, die Lebensbilanz zu ziehen, an einem sonnigen Tag ift es leichter, sich selbst in die Augen zu sehen. Morgen sicherlich ( das Glück ist mir ja hold), da wird sich der Tag gänzlich aufheitern, die Kanäle werden rauschen, das Spakengezwitscher wird luftiger sein, aber ich fann nicht warten.
Ich habe 35 Jahre hinter mir, 36 Jahre der Erwartungen, doch fann ich es nicht um einen Tag hinausschieben, und so möge es" denn heute geschehen.
Nur so und nur heute.
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Ich bin also 36 Jahre alt, auf meinem Ueberzieher wadeln die hellen Uniformfnöpfe( sie wackeln tatsächlich, noch ein Weilchen, und fie werden abreißen und zu Boden fallen); ich bin verheiratet und habe einen siebenjährigen Jungen.
Meine Frau ist hoch gewachsen, hager, fie gleicht heute einem Reihervegel und verkauft in der Nikolajewskistraße Zeitungen. Sie verfauft sie heimlich und verstohlen; sie hat es irgendwie zuwege gebracht, die Moskauer 3fweftija" zu ergattern; die Prawda" wird ihr nun schon zwei Monate lang versprochen. Und wenn unser fleiner Igor raunzt und Süßigkeiten haben will, dann bittet ihn meine Frau, zu warten, bis einmal unser Nachbar, der Eisen. bahner, ihr endlich die Prawda" bringt.
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Die Prawda" soll also unser Hauswesen von Grund aus verändern.
In unserer Familie lebt die fleine Schurotschta.
Sie ist meine Nichte.
Ihr Bater, mein Bruder, ist bei Erzerum gefallen, und ich habe fie noch damals zu mir genommen.
Sie ist woh! schon 17 Jahre alt, aber budlig und nicht viel größer als mein Junge.
Auch fie treibt Handel, verkauft irgendwelche feltsame 3uderplätzchen, die sie den Käufern als„ Eibischzeltchen" anbietet. Sie tut dies errötend; die fleinen Jungen, ihre hauptsächlichen Kunden, hauen sie dabei übers Chr, aber sie hält wader stand. Und sie tröstet mich:
„ Es wird noch auch gut gehen."
Während meine Frau und Schurotschfa mit der Zubereitung au dieser Eibischzeltchen" beschäftigt find, riecht es im Zimmer uner. träglich nach Siegellad.
Ich weiß wohl, daß Siegellad nichts Eßbares ift, aber der Geruch erinnert mich doch daran.
In solchen Stunden verschmachte ich vor Kopfschmerzen, so daß ich aufschreien, heulen möchte, mir ist jedoch um Schurotschta leid.
Und ich spaziere von einer Zimmerece in die andere und leiere einen blöden und, soweit mir dies aus den Kinderjahren erinnerlich ist, unschicklichen Bers vor mich hin.
Bis endlich Schurotschta mit ihrem Tragbrettchen auf die Straße geht. Das Brettchen ist zweimal so groß als fie; sein Riemen zieht sie noch tiefer zur Erde hinab, und der flägliche fleine Buckel friecht so betrüblich, so hoffnungslos betrüblich zur Straße hin, zum fchlackerigen Kot, zu den nassen Gehsteigen, zu einer neuen Hoff nungslosigkeit.
Während ich mir an dem Verschluß der Wohnungstür zu schaffen mache, bei der ich Schurotschka hinauslaffe, zittern mir die Hände( wir sind stets noch in Angst vor jemandem und haben einen schweren Verschluß an der Tür).
Schurotschta merkt dieses Zittern und sagt:
" Laß gut sein, Onfel, ich gehe über die Hintertreppe." Schurotschta läßt sich's nicht nehmen, mir beim Fortgehen die Hände zu füffen; ich bemühe mich aber, sie zu verstecken, denn sie find schmutzig, haben abgetaute Nägel.
Gerade Schurotschka hat sie anders gekannt; in früheren Zeiten habe ich mich gerne parfümiert, und Schurotschta pflegte zu sagen: „ Die Unseren( das waren die Schulmädchen, ihre Rolleginnen) nennen dich immer den Goldigen", du duftest so gut, bift über haupt goldig!"
Ich werde also verschwinden.
Es gibt Leute, die verschwinden mit Zähnelnirschen; andere wieder verfluchen Himmel und Hölle, che sie von hinnen gehen; ich aber gehe ohne Murren, ohne eine überflüffige Gebärde.
Ich bin im allgemeinen stets ein Feind von heftigen Körperbewegungen gewesen.
Und nun so leise heute das Frühlingsnahen, so leife ist auch mein Weh; so leicht eben jetzt der Lenzeshauch, so leicht ist auch meine Trauer.
Ich bin auf dem Lande aufgewad; fen, tam zur Stadt, als ich schon ein Jüngling war Bin aufgewachsen chne Aufsicht, habe die Tage und Nächte auf den Feldern, in den Wäldern verbracht, habe Wochen hindurch an den Flußmündungen gefischt. Die Natur ist für mich immer ein geliebtes und aufgeschlagenes Buch gewefen. Ich bin bloß durch einen dummen Zufall Philologe geworden. Zu meiner Schande gestehe ich, daß ich noch heute den amphibrachischen mit dem daktylischen Vers verwechsle. Dafür weiß ich, wie die Wachteln leben, wo der gelbe Steinflee wächst, wo der Portulad erblüht und wo die Schleihen zu Hause sind, und es tut mir weh, daß ich heute nicht auf dem Felde oder im Wald sterben kann. Ich sterbe in der Stadt da ist nichts zu machen, in eben jener Stadt, wo ich mich vor 12 Jahren in einer fleinen Kirche trauen ließ, in der ich, als wir den Altarteppich betraten, meiner Braut sagte:
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Der starke Landgerichtsdirektor.
Ich habe dem zufammengefnidten Kölling durch Handschlag meine Unterstützung angeboten!"
REDAKTION
Leven wilken
„ Ich habe als Bizepräsident Kölling zur Veröffentlichung des Briefes in der Rechtspreffe veranlaßt!"
Hier hat es nur ein Heim für Feuerwehrleute gegeben, wo sich bloß von Zeit zu Zeit Schauspieler einfanden, die sich auf Bande rungen durchhungerten. Im Sommer bog sich die Stadt unter dem Staub, im Herbst versant sie im Rot; in den Schenken zerschlugen die Leute einander die Köpfe mit Tabouretten, auf dem Fluß photographierte der städtische Tierarzt, hinter Büschen versteckt, die badenden Frauen und Mädchen und beschenkte hierauf seine Freunde mit einer Stollettion Photographien; mitunter larmten die Arbeiter und prügelten die älteren Gesellen durch; und heute gibt es in der Stadt zwei Zeitungen, eine Menge von verschiedenen Institutionen, ein Denkmal Lassalles und einen Dichterflub.
Ich sterbe aber nicht deshalb, weil dort, wo die Bauern sich einst ar Markttogen zu Füßen des Revierinspektors gewälzt, das Denkmal Laffalles steht, nicht weil unser Inspektor, Jakob Iwanowitsch, in vergangenen Zeiten der Freund des Dichters Gleb Uspenskis jetzt den Schnee vom Gehsteig megschaufelt.
Bom Revierinspektor bis zu Lassalle ist ja allerdings eine ganz beträchtliche Distanz.
Habe doch auch ich, Storobogatscheff, der ich vor drei Jahren morgens bei Kaffee und Butterbrot die Rußfia Bjedomosti" las und der ich heut in einem zerriffenen Ueberzieher umhergehe, auf dem die Knöpfe wadein( noch ein Weilchen und sie werden abreißen und zu Boden fallen), Denfmale umgestürzt und andere aufgerichtet. Und ich muß gestehen, ich tat dies mit weniger Erfolg, als es die heutigen tun.
Ich sterbe auch nicht deshalb, weil sich ein hübsches Fräulein
Beilage des Vorwärts
„ Aber die Verantwortung trägt allein Herr Kölling!"
Schurotschka aber-- Schurotschka wird noch fleiner werden, noch gebücter sein, ihre linke Schulter wird noch mehr herabfallen, ihre grauen Augen mit den schwarzen Pünktchen werden sich völlig trüben.
Und leise( es wird dies nachts sein, wenn meine Frau nach einem langen, mühevollen Tag erschöpft auf dem Diwan eingeschlafen ist), da wird Schurotschka zu mir tommen und mir sagen: „ Ontel, ich weiß alles, du bist bucklig."
Und sie wird noch leiser hinzufügen:
Man hat mich als Kind zu Boden fallen laffen, ich wuchs bucklig heran. Ich war wie eine Tanne, nun bin ich eine Mißgestalt. Auch du haft sozusagen 35 Jahre gerade verlebt und jetzt, im 36., erst wahrgenommen, daß du bucklig bist. Ach, welch großen Buckel du haft! Und wohin follst du, Buckliger, dich wenden, wo doch alle Geraden so heftig dahinstürmen? Wie könntest du da mittun? Das hast du eben begriffen bist vor der Wahrheit nicht erschrocken. andere jedoch haben Augst und verbergen ihren Buckel.
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Und ihre Lippen nähern fich mir, und sie flüftert zärtlich und liebend: „ Schlaf, Teverer. Schlaf ruhig. Den Buckligen streckt nur das Grab gerade. Schlaf Liebster." Und fie betreuzt mich.
Und ich schlummere ein... Ich schlummere ein...
in der Villa des Fabrikanten Biſchnew Kommandantin nennt; hat Der Pilgerzug für den Frieden.
sich doch auch der gewesene Kreispolizcichef einen für den Kreis von Gott Gefalbten genannt, und er war doch roh wie ein Ochse, stahl wie ein Zigeuner und war heimlich Aktionär der Freudenhäuser. Und doch habe ich mit ihn: Grüße getauscht, ja jogar häufig als erster den Hut ror ihm gezogen.
Und ich sterbe auch nicht deshalb, weil ich mitunter nichts zum Effen habe und weil die schwarzen Strümpfe meiner Frau mit rofa Fäden gestopft sind. Wenn eine Welt ins Wanten geraten ist, find auch rosa Fäden auf schwarzen Strümpfen nicht schrecklich und lönnen jogar noch fefter ans Leben seffein als ein geteertes Seil.
Ich sterbe, weil... darüber weiß Schurotschta Bescheid. Wenn sie heimkehrt( und sie fehrt spät heim, bis sie ihre Eibischzeltchen" verfauft hat), findet fie mich schon nicht mehr unter den Lebenden I und sie wird verstehen, wird wissen. Sie wird sich über mich neigen, mich füssen, mir feine Vorwürfe machen, wird nur unmerklich mir ins Ohr flüstern:
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„ Ontel, ich weiß, Onkel, es war nicht anders möglich." Meine Frau natürlich, die wird mir Vorwürfe machen: wie fonnte ich es wagen, aus der Welt zu scheiden, wenn ein Pfund Brot soundsoviel loftet, wie fonnte ich es wagen, meinem Leben ein Ende zu bereiten, wo es doch allgemein heißt, daß die Marienschule für Heute, wenn sich meine Frau vor mir ausfleidet, mende ich Mädchen in zwei bis drei Monaten wieder eröffnet und den Lehrern thr Gehalt für die ganzen verlorenen Jahre ersetzt werden wird.
Mein Gott, wie schön du bift!"
mich ab.
Fernab von Paris , gegen Orleans zu, liegt ein stilles Schloß, 3wischen uralten Ulmen und gründigen Seen. Alter französischer Adel faß darauf, der sich hier von Paris erholte. Bielleicht einst gefürchtet und noch mehr gehaßt. Heute ist es das Salem FrantSein reichs, die Geburtsstätte des neuen Frankreichs , Bierville. Befiger ist Marc Sangnier , Deputierter von der Partei Herriots, der Gründer der Jungen Republit". Anfänglich verspottet, wuchsen seine Ideen zur großen Friedensbewegung." Liebe überwindet den Haß und den Krieg." Aus katholischen Kreisen heraus geboren, vereinigt die Junge Republik" heute Friedensfreunde aller Richtungen, Sozialisten, Demokraten. Das. offizielle Frankreich Poincares ist kein Freund Marc Sangniers, feine erbitterten Stämpfe in der Kammer und in der Presse gegen Poincaré sind noch in zu frischer Erinnerung. Marc Sangnier ist der französische Josef Birth. Beide haben denselben reinen Glauben an die Menschheit, verbunden mit jenem Optimismus, der alle Widerstände mit dem Lächeln der Gewißheit überwindet. Von diesem Mann spricht man heute in Frankreich . Sein Schloß ist der Mittelpunkt und die Sammelstätte der Friedensfreunde der ganzen Welt. Der Friedensmonat August" ist in aller Mund.
Tausend Deutsche sind nach Bierville gefahren, acht Tage durch Nordfrankreich. Der Pilgerzug des Friedens." Acht Tage be