«t. 3«4 ♦«.Jolwmg 1«-�ClfCI�C 0�0 eonnfog, J2,?la0u(IT«6
In den Volkswitzen vor hundert und mehr Jahren zu forschen, hat noch immer seinen hohen Reiz. Man sieht dann aus ergiebig sprudelnden Quellen zeitgenössischer Lokalchronisten sofort, wie neben den uns heut« verschrobenen und fast lächerlich erscheinenden Aeußer- lichkeiten des damaligen Berliners auch sein« geistige Verfassung «ine ganz andere war als die seiner Nachfahren. Sicher hat das matzlos erschwerte Leben unserer Zeit viel dazu beigetrogen, daß auch von dem«inst so urwüchsigen Berliner Volkston, wie er weit über die Mauern Berlins hinausscholl und in so mancher Lokal- posse für die weltbedeutenden Bretter verewigt ist, immer mehr abbröckelt«. Dieser schlagfertig«, derbe und doch niemals rohe Witz wird kaum mehr neugeboren. Man glaubt schon geistreich zu sein. im Platten und Seichten, im Schlüpfrigen und Eindeutigen zu fischen. Was damals die Volkspsych« an Lust und Laune, an Witz und Humor sprühte, floß wie aus der Pistole geschossen in ein großes Sammelbecken an einem einzigen Tag« des Jahres, beim Stralauer Fischzugsfest. Di« köstlichst«, dem vollen Menschenleben abgelauscht« Schilderung hat uns der witzigste Kopf, der feinst« Beobachter jener Zeit hinterlassen, Adolf Gloßbrenner, der Klassiker unter den altberliner Humoristen. Sein Name ist jedem einigermaßen literarisch Beschlagenen vertraut. Wie wenig« lesen sein« herzerfrischenden Studienl Beim Beginn des Stralauer Fischzugrummels sei darum einiges zu neuem Leben erweckt.
Die alte Kirche von Stralau.
Das Jubiläum ües Stralauer Zischzttges. Tiefernst, bevor es in den fruchtbaren Acker des Humorigen eht, beginnt Gloßbrenner feine Schilderungen des freundlichen .'ischerdörfleins. Wieviele grausige und blutige Geschichten, wieviele bunte Sage und seltsame Dinge mögen die plätschernden Wogen des Rummelsburger Sees deinen Aeckern und Gärten erzählenl Du hübsches, lebenslustiges Enkelchen ahnst nichts von deiner ernsten, wilden Urmutter, von der Ahnsrau deiner Hütten, die den Umgang mit den modernen Städtern nicht leiden mochte. In ihrer frühesten Jugend war sie eine Heidin und befolgte, was der gewaltige Drude auf Rügen von Bog und seiner Gattin Siwa, den Göttern der Götter, durch die Unterpriester verkünden ließ. Später wurde sie eine Christin. Noch mehr, du liebliches Fischerdorf, möchte ich erzählen von deinen Ahnen, aber sowohl ich wie die anderen Ge- lehrten wissen sehr wenig von deiner Kindheit und vom Entstehen des Stralauer Fischzuges. Gewiß haben hier vor tausend Jahren Wenden vom Stamme der Sorben gewohnt, gejagt und gefischt: gewiß sind sie von dem ersten Markgrafen Brandenburgs, dem Wendenfeinde Albrecht dem Bären, mit ihrem Führer, dem wilden Fürst Jaczo , der nach der Sage bei Schildhorn über die Havel schwamm, im Jahre IIS? oertrieben worden. Die früheste Urkunde über Stralau stammt aber erst aus der TNille bes vierzehnten Zahr. Hunderts. Der Rat von Berlin und Kölln kaufte 1358 von den Besitzern Stralaus, den Gebrüdern Carsten und Nikolaus Baroll- dorpe, einen Hof, eine sogenannte Kuria. Im Jahre 1391 kaufte der Rat von Berlin dem vielgenannten markgräslichen Richter Tyle von Brügge das Schulzenamt von Berlin und Kölln ab, zur Hälfte in bar, zur Hälfte in Lehnen auf den Dörfern und Gärten zu Stralau, Nynhofe. Reinkendorf und Wcsendal. Nach dem alten berlinischen Stadtbuche bestand das Dorf Stralau 1397 aus elf Gehöften und zwei Gärten auf der Feldmark. Bon nun an finden sich mehrere Unterhandlungen zwischen Berlin und Stralau, ebenso Gesetze, die von dem Kurfürsten über die Stralauer Fischerei erlassen wurden. Im Jahre 1574 setzte Kursürst Johann Georg fest, daß aus allen märkischen Flüssen zwischen dem grünen Donners- tage und Bartholomäi(24. August) mit dem großen Garne nicht gefischt werden solle. Nirgends findet sich aber eine Notiz über das Volksfest. Der Aischzug am Morgen des 24. August hat sicher zur Besoldung des früheren katholischen wie des späteren evangc- tischen Priesters beigetragen. Die Kunde aber, daß einer der Züge
mit dem großen Garne für den Magistrat von Berlin gewesen sei, hat keine Wahrheit und keinen anderen historischen Hintergrund, als daß, wie au» früheren Urkunden hervorgeht, es den Fischern oder„Bauern* von Stralau auferlegt war, ihren Herren, den Rats- leuten von Berlin , jährlich dreimal„redliche und gute Geschenke an Fischen" zu senden. Humor von einst. Die Volkstypen Glaßbrenners vom Stralau«? Fischzugsfest sind nicht erfunden, sind erlebt und spiegeln getreu das damalige wasi� echte Berlinertum wieder. Der Berliner — sagt er■— hak, wenn ihm fröhliche Stunden winken, das Talent, all und jede Last weit von sich zu werfen und sich so der Freude hinzugeben, als bliehg sie die Begleiterin seines ganzen ferneren Lebens.„Was keine Arbett! Was drei Kinder, die morgen vergebens um Brot schreien werden! Was Exekutor, der sich nur bis übermorgen vertrösten ließ und dann ohne Umstände die letzten Möbel fortschleppen wird! Kann ich dafür, daß heut« Stralauer Fischzug ist? Soll ich nur darum geboren sein, um zu arbeiten und zu jammern und mich von den reichen, schuftigen Nichtstuern noch obendrein grob behandeln zu lassen? Nur nicht ängstlich, mein Weibchen! Sei fidel, Charlotte! Zum Plinsen ist morgen und übermorgen noch Zeit genug. Heute ist Stralauer Fischzug, juch! Von morgen an arbeite ich mit dem
Aul dem Festplatz vor 100 Jahren.
in Die Sigurontin. Roman eine» Dienstmädchen» von Leon Atapte. Autorisierte Uebersetzung aus dem Französischen von Kunde-Grazia. Mit Ordensbändchen geschmückt, trug er hellgrauen Zy- linder, stahlgraues Jackett, weiße Weste, ebensolche Gamaschen, Lackstiefel. In einem sehr prunkvollen, salonartigen Studierzimmer, das mit schönen antiken Möbeln ausgestattet war, ließ er sich nieder und befahl Sulette, sich zu setzen. Durch einen großen, runden Mahagonitisch von ihr getrennt, beobachtete er sie einen Augenblick und ohne jeden weiteren Umschweif erklärte er: „Sie haben nicht das Aussehen einer berufsmäßigen Dienstperson. Gestehen Sie, Sie sind eben wieder freigelassen worden? Nicht wahr, Sie kommen von... da... nach- dem Sie...?" Seine Augen leuchteten phosphoriszierend. „Ich habe gar nichts zu gestehen," sagte Sulette halb ärgerlich, halb belustigt. Ich bin gegenwärtig in Stelle, heute ist mein Ausgang." Der Mann holte erleichtert und zugleich enttäuscht Atem. „Sie beruhigen mich," sagte er kopfschüttelnd.„Aber Sie werden mir einräumen, daß es unter den Dienstmädchen zu- weilen Diebinnen gibt?" Sulette betrachtete von der Seite die nüchternen, fast schwarzpolierten Eichenmöbel. Das Veraltete der Einrichtung glich dem antiquarischen Alter des gegenwärtigen Besitzers. Die Lade, der Sekretär, der Schreibtisch, die �Sessel mit Baldachinen figurierten als Museumstücke, deren man sich nicht bediente, die man nicht berühren darf. Das Kabinett selbst lag in einer matten, grauen, starren Beleuchtung, es schien wie die Einrichtung, wie der Greis, dem Leben nicht anzugehören. Nach einem Schweigen fiel der Mann wieder in den fragenden Ton: „Wollen Sie leugnen, daß viele Dienstmädchen ernstlich der Anständigkeit ermangeln?" Sulette schielte einen Augenblick zu dem Frager hinüber, jehe sie antwortete. Sie konnte wohl über die diebischen Dienstmädchen reden, hatte ihre Argumente bereit, dank Herrn Benoit, dank der Frau Coqueho, dank der Kameradinnen der Sechsten. Ach ja, sie kannte sich in dieser Frage aus! Und schließlich, ob fälschlich oder mit Recht, eine Beschuldigung des Diebstahls bildete die ständige Bedrohung der Sicherheit, des Lebens der Dienstmädchen, das war die Sache, die sie am pächsten betraf. Kein Zögern: Sulette brauchte sich keinen
Zwang anzutun, eine Stelle bei diesem unheimlichen Wahn- sinnigen würde ihr um keinen Preis passen. Sie lachte daher laut auf. „Wirklich, mein Herr, Sie ahnen, daß es unter den Dienstmädchen bisweilen Diebinnen gibt? Ha! Ha! Hq! Aber ein Dienstmädchen, das zum mindesten seit ihrer ersten Pariser Stelle niemals gestohlen hätte, gibt es nicht! Die Anständigen find diejenigen, die sich über kurz oder lang selbst korrigieren. Ueberlegen Sie doch: man kommt vom Lande, wird gleich den Wilden von allem, was glänzt, angezogen, — wie soll man da nicht einen Tand, eine Nippsache, mitten in dem umgebenden Besitz, der einen anlockt, stehlen?" In den Augen des Alten kam ein Flimmern, man mußte an ein wildes Tier denken, das einem Ueberfluß an Beute gegenüber nicht weiß, worauf es sich stürzen soll. Sulette schöpfte neu Atem, dann näherte sie ihm dreister ihr boshaftes Gesicht: „Je mehr man sich entwurzelt, beraubt von allem, was man besaß, getrennt fühlt, desto mehr hat man den unwider- stehlichen Drang, sich an einen neuen Besitz zu klammern. Und Sie vergessen, man steht in dem Alter der Entwicklung, die einen ganz verworren macht, wo die Vernunft yus dem Gleichgewicht kommt. Man ist achtzehn, zwanzig Jahre— ein Alter, wo es so in der Ordnung ist, daß Ihre gutsituierten Söhne tausend Tollheiten begehen, ungeachtet des Gesetzes der Gesundheit, ungeachtet all der guten Führer, die sie umgeben, und ungeachtet, daß sie ohne Mühe das Nötige wie das Ueberflüssige haben. Aber wir dagegen, die Dienst- mädchen,— ohne Hygiene, ohne Wohlwollen, ohne eine Freistatt der Gedanken, �ohne irgendeinen Trost— unsere kleinen Diebereien, sind sie nicht sozusagen unschuldig? Verbrecherisch und häßlich ist es, wegen krankhafter Hand- lungen die armen, nicht verantwortlichen Mädchen gerichtlich zu verfolgen!" Der Mann hatte einen fast epileptischen Anfall, niemals noch wagte jemand derartig zu ihm zu sprechen: „Nein! Nein! Kein Mitleid mit den Dieben und den Diebinnen! Man muß sie festnehmen, verurteilen...." Cr schwieg, bewegte eine Weile wütend seine Kiefer und fügte leiser mit einer Art scheuer Gier hinzu: „Man müßte sie niemals wieder freilassen!" Dann schlug er ein gutturales Lachen an, so wie es Sulette ähnlich niemals gehört hatte. ,Ach! Sie sind frei, Sie! Ich, auch ich bin frei, hören Sie: es gibt keine gebesserten Diebe: im Fall der Straflosigkeit werden sie gegen das Verbrechen abgehärtet, und in dem der
Verurteilung wird ihre Bösartigkeit definitiv, weil sie sich rächen wollen. Ich habe mich jetzt— betrachten Sie mich, junges Mädchen— ich habe mich einer Vereinigung zur Fürsorge entlassener Strafgefangener angeschlossen, lediglich aus Haß gegen die sreigelaffenen Diebe, um darüber zu wachen, daß die öffentliche Sicherheit nicht durch unkluge Wiedereinsetzung und Rehabilitationen von Dieben gefährdet wird." Sulette blickte ihn mit großen, geängstigten Augen an, der Alte begegnete gleichfalls scharf den ihren: „Was? Halten Sie das für eine Erfindung von mir? Wohlverstanden, um so geworden zu sein, war es nötig, daß ich aus erster Hand belehrt, war es nötig, daß ich durch persönliche Erfahrung dazu getrieben wurde! Und die Gelegenheit hat sich mir geboten, einen entlassenen Dieb kennenzulernen und zu beobachten. Ich habe bei ihm keinen Aussöhnungsversuch mit der Gesellschaft bemerkt: nichts zeigte an, daß er die verbrecherische Vergangenheit durch eine ehrbare Lebensführung auslöschen wollte. Und dennoch war ich zu der Vermutung' berechtigt, daß dieser Mann nicht von Grund aus schlecht gewesen." Die Augen des Greises wurden wieder phosphoreszierend. „Und hat, da Sie hier sind... so freimütig... will ich auch... ich muß Ihnen das Erlebnis erzählen." Eine Stille trat ein, der Mann überlegte, lachte unheim- lich in sich hinein: betrachtete Sulette. blinzelte mit den Augen nach einem an der Wand hängenden Abreißkalender und murmelte ganz leise für sich: „Ich muß es jetzt erzählen, noch hat es niemand gehört." Die unerhörte Sprache Sulettcs sollte aus ihm nie gesagte Worte herauslocken. Ihre Behauptungen hatten seine Lebenslogik erschüttert, er war— unumgänglich— gezwungen, um die Sorglosigkeit seines guten Rechts wieder zu erlangen, der Unruhe durch eine grausige Erzählung wieder Herr zu werden. Sulette dachte: Frau Coqueho hat mich nicht getäuscht, das ist ein Schwätzer, danke dafür, ich werde ihn mitten in seiner Geschichte sitzen lassen! Aber sie blieb bis zum Ende und bewahrte eine unaus- löfchliche Erinnerung an diese Erzählung, so daß in der Folge jahrelang ein furchtbarer Traum von Zeit zu Zeit sie heimsuchte, trotz Wechsels der Herrschaften, der Quartiere, der Nachbarschaft, trotz tausendfacher Berändsrungen. Zwei» oder dreimal in der Woche stellte sie morgens beim Erwachen, mit/ einer ängstlichen Niedergeschlagenheit fest:„Ich habe wieder vom Alten geträumt."_(Fortsetzung folgt.)