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Nr. 406 4Z. Fahrgang

7. Seilage öes vorwärts

Sonntag, 20. August 1026

Berlin steht im Zeichen des Drachens: nicht des chinesischen, nein, des schönen bunten, selbstgeklebten. Jede größere Freifläche wird zum.Sportplatz', über dem die bunten Boten des Herbstes stehen. Denn jetzt mutz jeder daran glauben, der bisher immer noch vom Sommer ' fabulierte: Es wird Herbst. Die Drachen steigen, auch im steinernen Berlin , draußen in den Borstädtcn hängt schon oft der leichte blaue Rauch der Kartoffelfeuer in der Luft, und an allen Ecken und Ende» feiert man Erntefest. Erntefest! In Berlin , in derSteinwüste'! Ja, man feiert's, mit dem alten Berliner Motto alsjrade wat Schönet" und wer mal richtige Berliner Ernte- feste mitgemacht hat, der weiß, daß hier mit Humor und Selbftironie ein Stückchen sommerlicher Karneval lebendig wird, der oft viel, viel liebenswürdiger ist als fein in winterlich dumpfen Sälen regie- rcnder Bruder.. war in heinersSorf... Wie lange ist es denn her zwanzig oder fünfundzwanzig llahrc, da lagen zwischen demVerbinder' und Weißensec und Heinersdorf noch schöne Felder, zwischen denen man auf labkraut- duftenden Wegen seinen Sonntagsspaziergang machen konnte. Früh morgens klapperten die Wagen der Heincrsdorfer Gärtner und Milchfuhrleute die Prenzlauer Lbaussee entlang, imvrdonnanzhau»' h der Reuen Königstraße und in den anderen Ausspannungen der Vrenzlauer Vorstadl waren alle Ställe besetzt von den Frachtfuhr- hüten der Orte, die nun an der Reinickendorf -Liebenwalder Bahn liegen. Ach, war diePrenzlauer Vorstadt' noch ländlich! Noch einen richtigen Gutshof hatte sie, bei dem altenAmtmann Bötzow 'apperten im Herbst sogar noch die Dreschflegel im Dreitakt. lind wenn in der Prenzlauer Vorstadt auch nicht mehr Erntefest gefeiert wurde, kurz hinter demPerbinder', in Heinersdorf , gab es noch ein richtiges Erntefest, mitKronebindcn' und einem Ernte­zug mit herrlich falscher Blasmusik, der vor jeder der Haustüren

Festlicher Abend im Schloß ScbSabaasea am 31. August.

3n den Laubenkolonien. U eberall, wo die Häuser ein wenig Raum gaben, hat die Natur- sehnsucht des Großstädters Laubenkolonien hingepslanzt. Wenn er auch mit gutmütiger Selbstironie über seinRittergut" spricht, im Innersten seiner Seele ist er doch unbändig stolz auf alle seine land- wirtschaftlichen Erfolge. Und niemand, der nicht schon selbst so ein Stückchen Erde bebaute, kann ermessen, wieviel jzreude auf den paar Quadratmetern Sand oder Lehm wachsen kann, wie so ein kleines Stückchen Erde gleich der Natur nahe bringt, wieviel ver- bundener allem Werden, Wachsen und Vergehen in der Natur der Laubenkolonist ist als der landlose Großstädter, der der Natur nur alle Sonntage eine Respektsvisit« macht. Im Herbst, wenn die Drachen in den Lüsten stehen und ein Beet ums andere kahl wird, dann hat die Laubenkolonie noch mal ihren großen Tag! Bunte Papierwimpel leuchten um die Wette mit den Herbstblumen, jede Laube ist herrlich herausgeputzt, und am Nachmittag bewegt sich der Erntezug" durch die benachbarten Straßen. Die Musik bläst bald so schön falsch wie damals in Heinersdorf , und wenn man leider keinen richtigen Dorfschulzen beibringen kann, dann spielt irgendein Kolonist in Bratenrock und Zylinder die Rolle oder auch ein Fuhrwerksbesttzer schirrt seine Rosinante vom Wagen und spielt hoch zu Roß denGutsherrn ". Dann aber kommen in buntgeputzten Wagen oder in langem Zug die Kinder, mit Blumenkränzen im Haar die Mädel, hemdärmlig die Jungen, mit blumcngesthmückten Harken oder Hacken, und aus allen Augen leuchtet die Freude über i h r Erntefest. Das Schönste an den Festen unserer Laubenkolonisten aber sind ihre Gäste: denn seit dem Kriege ist in den wirklichen Arbeiterbezirken wohl kaum ein Fest gefeiert worden, zu dem die Kolonisten nicht Kinder von Arbeitslosen, Waisenkinder oder alte Leute zu Gast gebeten hätten. Und damit die Gäste auch recht teil an aller Erntesreude haben,»werden sie jedesmal reich beschenkt. Die Laubenkolonien sind ja die Domänen der kleinen Leute, der Kleinen, die nicht große Mittel fürWohltätereien' im üblichen Reklamestil zur Verfügung haben. Was aber hier mit beschränkten Mitteln an materieller Hilfe und Gaben von Mitfreude und Kinder- glück geleistet wird, das verdient wohl ein besseres Lob als die paar trockenen Zeitungszeilen: �heute feierte der Pflanzerverein.. geben können.

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Die Sigurantin. Roman eines Dienstmädchens von Leon Frapie .

Autorisierte Uebcrfetzung aus dem Französischen von Kunde-Grazia. Die noch etwas eckigen Formen offenbarten vielleicht mehr Neiz als die gewöhnliche Rundung weiblicher Linien. Die Schultern zeichneten sich unterm Gewand ab: die Einbuchtung des biegsamen Rückens verriet die heißblütige und mächtige Spannkraft des Katzengeschlechts. Das rote Mieder legte sich geschickt in Falten, um die säumige Entwicklung des Busens zu verbergen: die Hüften fingen an, deutlich, etwas zu stark, hervorzutreten. In der eleganten Wohnung der Familie Leroy fühlte sich Sulette sogleich heimisch. Trotzdem ahnte sie, daß die Existenz des Herrn Albert sich ihr allzusehr aufdrängen würde: überall in der Lust sog sie die Gegenwart des jungen Mannes e n: daher ein Bangen, eine leichte Betäubung, was ihr, der Neuheit halber, gar nicht einmal unangenehm war. Als Herr und Frau Leroy schon von Tisch gegangen waren, blieb Albert eines Abends, Mandeln verspeisend, zurück. Sulette hatte schon abzuräumen begonnen: während sie zwischen Tafel und Büfett hin und her manövrierte, begann er höflich in gemächltchem Ton der Verdauungs- Unterhaltung Fragen an sie zu richten. Sie heißen Sulette? Ein garnicht gewöhnlicher Name! Die Abkürzung von Ursula? Woher stammen Sie? Gefällt Ihnen Paris ?" Auf die lakonischen Antworten Sulettes bemerkte er, wie wenn irgendein Vergleich zwischen ihnen beiden erwachsen könnte: Ich bin in Paris geboren, ich bereite mich auf das Examen von Saint-Eyr vor." Seit jenem Augenblick behielt er den Ton zerstreuter Bertraulichkeit, den alte Bekanntschaften gestatten» bei. Er blieb oft als letzter bei Tisch und machte sich immer gern in den Zimmern, wo Sulette allein war, zu schaffen. Er ließ sich nicht bedienen, befahl nicht, gebrauchte kurze, ganz natür- liche Wendungen, um seine kleinen Erlebnisse zu erzählen, um z. B. zu sagen, aus Grund welchen Entschlusses er den Hut wechselte, um zu fragen, ob das Wetter schön bleiben würd? oder auch, welchen Braien man zun: Diner äße. Trotz ihrer scheuen Natur vermochte sulette nicht daran zu denken, stch gegen diese Unbefangenheit, die keine Hutter-

gedanken verriet, zu verteidigen, und sie vertraute ihm, ge- wähnte sich daran, bei Verrichtung der Arbeit, wenn sie von einem Zimmer ins andere kam, auf Albert zu stoßen, ihn nahe zu wissen. Und es schien ihr, daß diese große Nähe, dieses erzwungene Beisammensein im Grunde nichts Unge- fundes bedeute. . Zuweilen plauderte Albert, ohne sie anzusehen, ohne sich in seiner Beschäftigung zu unterbrechen: andere Male wieder ließ er alles im Stich, ruhig hafteten feine Augen an ihrer Gestalt, als spräche er zu einem Altersgenosien. Seine Ma- Nieren bewiesen, daß Vertrauen, Kameradschaft, Gleichheit zwischen ihm und dem Dienstmädchen herrschten. Nach Verlauf einiger Wochen vervollkommnete sich diese Harmonie zu einem geheimen Einverständnis: Sulette. unterlassen Sie jene Kleinigkeit nicht, Mama würde Sie auszanken, ich kenne ihre Manier. Sulette, ich möchte Kaffee trinken, ich habe einen Kater, Sie werden nichts verraten, nehmen Sie doch ein wenig davon. Wollen Sie Rum?" Dann verfiel Albert wieder in einen spaßig-befehlshabe- rischen Ton: Sagen Sie doch, Sulette, Sie schreiben ebenso gut wie ich, das habe ich aus Ihrem Ausgabenbuch ersehen: Sie würden sehr nett sein, wenn Sie mir drei oder vier Seiten aus dem phisikalischen Kolleg abschrieben, ehe Sie schlafen gehen. Ich habe mir das Kollegienheft eines Kameraden ge- borgt." Die Schmeichelei, die in diesem Ersuchen lag, erweckte in ihr eine träumerische Bewunderung für Herrn Albert, der Wissenschaften studierte, von denen man fast gar nichts ver- stand. Und der junge Mann ließ es dabei nicht bewenden, er gewann noch auf eine andere Art einen liebenswürdigen Einfluß auf das Dienstmädchen. Sie mußte die Befehle des Herrn und der Frau verletzen und ohne Erlaubnis für ihn Tabak kaufen, Briefe auf die Post schaffen. Manchmal ver- langte er während des Waschens, nackt bis an die Hüften, Wasser, bat dann, daß man ihm den Hemdtragen zuknöpfe. Eineunwiderstehliche Herrschaft bildete sich aus dem Zu- fammentreffen verschiedenster Elemente: dem normalen Des- potismus des Herrn, den Ansprüchen des verwöhnten Kindes, der Bildungsüberlegenheit, der Zartheit und dem Freimut, der haibvertraulichen, ungewohnten Bitten um Dienste. E:ne gewisse Genugtuung überkam Sulette, der sie sich unbewußt hingab, sie fühlte sich dein vulgären Bedientenstand entrissen,

trat in ein anderes, ihr aufgespartes, unbekanntes Dienstver- hältnis. Die Gärung in den beiden zu eng nebeneinander leben- ven Menschen hörte nicht mehr auf. Als man definitiv bei familiärer Gleichstellung anlangte, nach und nach die Befehle auch vertraulichen Ton annahmen, als Sulette sich zu einer Fügsamkeit, ähnlich bei einer Amme, Mutter, älteren Schwester, verstanden hatte, brauchte Albert nur mehr aus diesem Vorteil Nutzen zu ziehen; jetzt konnte er sich erlauben zu spaßen, zu necken, zu tändeln, zu belästigen: keine Bewegung, keine Weigerung oder Verstimmung war ja ernst �u nehmen, und außerdem hatte Sulette von ihrer ungebärdigen Kraft eingebüßt, sie konnte nicht mehr zornig ihren Wunsch,in Ruhe gelassen zu werden", zum Ausdruck bringen. Von nun an gab es vom Morgen bis zum Abend von feiten Alberts knabenhafte Signale, Augenzwinkern freund- schaftlichen Einverständnisses, neckende Mienen, lokalisierte Androhungen, schon fast Berührungen, die nahe tätliche Kühn- heiten vorbereiteten. Wirklich kamen diese Späße, diese Schein- Plänkeleien zwischen Jüngling und Jungfrau der Beschlag- nähme eines Individuums durch ein anderes gleich: gewisse Arten, sich etwas in die Ohren zu schreien, den Atem ins Gesicht blasen, �ich nahe zu kommen, gedrängt beieinander zu stehen, sich in die Augen zu schauen, mit feinem Willen den ihren zu beeinflussen, brachten die gleiche Verschmelzung des Lebens hervor, als wenn eine Berührung der Körper vor sich gegangen wäre. Die Folge war, daß an dem Tage, da Albert auf den Zehenspitzen in die Küche schlich und unversehens einen Kuß auf Sulettes Nacken preßte, diese zwar rief:Ach, Sie haben mich erschreckt... ich will dieses Benehmen nicht!" aber doch kaum mehr eine Steigerung wahrnahm: Albert hatte, in Winkel verborgen, ihr schon einmal Furcht vor einer Um- armung eingeflößt Sie hatte das erste Ansinnen erduldet: es war zu Ende, sie gehörte sich selbst nicht mehr, es konnte noch mehr oder weniger Zeit vergehen, aber die verführe- rischen Zärtlichkeiten mußten sie völlig gewinnen. Herr und Frau Leroy beschäftigten sich außerhalb des Dienstes nicht mit dem Mädchen und schienen keineswegs das Treiben ihres Sohnes zu bemerken. Wenn Sulette das Frühstück aufzutragen begann, heftete Herr Leroy immer einen bedächtigen Kennerblick auf sie: das war eine schnelle und strenge Untersuchung, der eine vollständige Gleichgültig» keit folgte,(Fortsetzung folgt-), f