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Der letzte Tag im Moröprozetz Schröder.

B. S. Magdeburg , 17. September 1926. In dem weiteren Verlauf der Verhandlung gegen Schröder er- klärte der Oberstaatsanwalt Rasmus plötzlich: Mir wird hier ein Schreiben vorgelegt, in dem Herr Fabrikant. Haas vernommen zu werden wünscht. Herr Haas will bekunden, daß er Schröder zum erstenmal bei der Gegenüberstellung im Gefängnis kennen gelernt, daß er ihn vorher niemals gesehen oder in Beziehungen zu ihm gestanden hat. Bei den mysteriösen Andeutungen, die Schröder heute ivicder gemacht hat, benenne ich Herrn Haas selbst als Zeugen, um endlich mit dem immer wieder genährten Verdacht der Mittäter- schaft oder der Anstiftung gegen Herrn Haas endgültig aufzuräumen. R.-A. Dr. Z a e p e r: Dann beantrage ich, Herrn Kriminalkommissar t e n Holt als Zeugen darüber zu hören, daß trotzdem schon vor dem Fall Helling-Schröder Beziehungen zwischen Herrn Haas und Herrn Schröder bestanden haben. Vor Diesen Antrag müssen Sie näher begründen, denn der Angeklagte hat doch selbst immer wieder zugegeben, daß er allein als Täter in Frage komme. Sodann erstatteten die Sachverständigen ihre Gutachten. Zu- nächst berichtete Medizinalrat Dr. Thomas-Magdcburg über den Zustand, in dem die Leiche Hellings gefunden wurde. Ja dem Schädel worden zwei kugeln gesunden. die offenbar nur geringe Durchschlagskraft gehabt haben. Die ver- suchte Verbrennung mit so primitiven Mitteln sei sinnlos und ein Zeichen erheblicher Verwirrung und Aufregung. Das gleiche gelte für die Längsschläge an den Gliedmaßen der Leiche. Die Ver- wirrung beziehe sich auf die Zeit nach der Tat. Mcdizinalrat Dr. Boretius- Magdeburg äußerte sich über die Feststellungen, die hinsichtlich der Geistesverfassung der Eltern und Großeltern Schröders getroffen wurden. Der Vater, c i n T r i n t e r, der in der Trunkenheit durch Sturz von der Keller- treppe verunglückte.' Schröder oerfüge über eine erstaunliche Intelligenz und logisches Denken. Das innige Ver- hältnis zu seiner Mutter beweise, daß auch das ethische Gefühl bei ihm ausgebildet sei. Der Angeklagte habe eine starke Suggestiv- kraft. Er habe zu jedem Zeitpunkt das Strafbare seiner Handlungs- weise voll crmessen können. Eine nennenswerte Verminderung seiner geistigen Kräfte läge nicht vor. Zusammenfassend erklärte Dr. Boretius, daߧ 51 bei Schröder keineswegs zutreffe. Auf eine Frage des Verteidigers, ob der Mord im Affekt geschehen sein könne, antwortete der Sachverständige ablehnend. Das Gericht zog sich hierauf zu einer längeren Beratung zurück. Nach Wiedereröffnung der Verhandlung verkündete Landgerichts- direktor Dr. Löwenthal, daß das Gericht beschlossen habe, die Zeugin Hildegard Götze nicht zu vereidigen, da sie der Teilnahme verdächtig sei. Das Gericht habe beschlossen, den Fabrikanten Rudolf Haas und den Kriminalkommissar ten Holt zu oernehmen, um ihnen Gelegenheit zu einer Rechtfertigung zu geben. In der Nachmittagsverhandlung wurde unter ollgemeiner Spannung der Fabrikant Rudolf Haas als Zeuge aufgerufen. Haas, ein uMerfetzter jüngerer Mann mit gesunder Gesichtsfarbe wurde vom Vorsitzenden zunächst darauf aufmerksam gemacht, daß er auf Fragen, durch deren Beantwortung er sich einer strafrechtlichen Verfolgung aussetzen würde, die Auskunft verweigern dürfe. Dann fuhr Landgerichtsdirektor Dr. Löwenthal fort: Sie waren in diese Sache verwickelt und haben eine ganze Zeit in Untersuchungshaft gesessen. Wollen Sie mir sagen, wie Sie in sie hineingekommen sind? Zeuge Haas: Ich bin am 18. Juni d. I. von Kriminal. kommissar ten Holt verhaftet worden. Bei meiner Vernehmung wurde mir gesagt, ich sei wegen der Sache Helling festgenommen, und bei weiteren Verhören ließ ten Holt durchblicken, daß Helling eventuell als Zeuge in einem Steuerverfahren gegen die Firma Haas hätte auftreten sollen. Vors.: Sie sind dann Schröder gegenübergestellt worden und haben erfahren, was er von ihnen behauptete? Zeuge Haas: So war es nicht ganz. Bei der Gegenüber- stellung hat der Untersuchungsrichter Kölling den Schröder gefragt, ob ich Haas fei. Schröder antwortete: Za. da» ist.Adolf". Er behauptete dann auch, daß ich bei ihm in Groß-Rottmersleben gewesen sei und erklärt habe, zuerst seien die Schecks herange- kommen, jetzt kämen auch die Uhren Hellings heran. Vors.: War Ahnen bekannt, daß Schröder Sie als den An- stifter bezeichnete? Zeuge Haas: Jawohl, das habe ich dann erfahren.

Vors.: Der Angeklagte behauptet jetzt, daß er etwas Un­richtiges gesagt habe, er sei aber nicht derjenige gewesen, der Sie bineingebracht habe, er hätte Sie nur zu seinem eigenen Schutz nicht herausgebracht aüs der Sache. Er behauptet auch, daß Sie an dem Mord beteiligt seien, er will Sie aber kennen und mit Ihnen in irgendwelcher Verbindung gestanden haben. Sagen Sie mir zu- nächst: Wissen Sie etwas von dem Mord an Helling? ZeugeHaas: Ich wußte von dem Mord an Helling nichts. Ich habe nur über fein Verschwinden das gehört, was in der Zeitung stand. Erst vier Wochen vor meiner Verhaftung habe ich von dem Mord erfahren und auch gehört, daß mir eventuell die Verhaftung bevorstehe. Später hat es mir denn auch ten Holt vorgehalten. Vors.: Sind Sie vor dem Mord jemals mit Schröder zu- fammengewefen? Zeuge Haas(sehr entschieden): Nein, niemals. Ich habe Schröder zum ersten Male bei der Gegenüberstellung gesehen. Ich bestreite sehr entschieden, ihn jemals vorher gesehen zu haben. Eben­so habe ich nie eine Verbindung mit ihm gehabt. Vors.: Angeklagter Schröder, wollen Sie selbst eine Frage an Herrn Haas richten? Angekl.(ziemlich zögernd): Nein, ich habe ja gesagt, daß Haas mit dem Mord nichts zu tun hat. Ich gebe weiter keine Er- klärung ab. Vors.(sehr ernst): Angeklagter, Sie haben Ihre Mutter fahr- lässig getötet und trotzdem haben Sie den Mut aufgebracht, noch ein Menschenleben auszulöschen. Es wäre geradezu ungeheuerlich, wenn Sie jetzt gar einen Schuldlosen in irgendeinen Verdacht bringen würden. Sie müssen den Mut haben, der Wahrheit die Ehr« zu geben. Angekl.(sichtlich nervös): Aber ich habe doch gesagt, daß Haas mich nicht angestiftet hat, noch daß er an dem Mord beteiligt war. Das muß doch genügen. Vors.: Sie haben aber behauptet, Sie kennen Herrn Haas. Angekl.: Daß Haas mich kennt, habe Ich nicht behauptet. (Große Entrüstung im Zuschauerraum, der Vorsitzende rügt das scharf.) Der Angeklagte fährt fort: Aber ich, ich kenne Herrn Haas, weiter will ich nichts erklären. R.-A. Z a e p e r(zum Zeugen): Es ist doch ein merkwürdiger Zustand, daß gerade Helling an dem Tage ermordet wurde, als er vor dem Steuerinspektor Liebing als Zeuge bestellt wurde. Zeuge Haas: Das habe ich vorher gar nicht gewußt, das habe ich erst später erfahren. Vors.: Nach den Akten haben Sie am 8. Juli von diesem Steuerverfahren erst etwas gehört. ZeugeHaas: Jawohl, um der Wahrheit die Ehre zu geben, muß ich allerdings feststellen, daß wir zu unserer großen Ueber- raschung schon vierzehn Tage vorher in einem Schriftsatz dunkele Andeutungen darüber erhielten. R.-A. Z a e p e r: Es ist doch von Ihrer Seite auch der Antrag gestellt worden, Zeugen darüber zu vernehmen, daß Helling noch lebe, während er wirklich schon ein Vierteljahr tot war. Zeuge Haas: Ten Holt hat mir bei der ersten Vernehmung gesagt, er wisse gar nicht genau, ob Helling tot sei. Vielleicht sei er in der Tschechoslowakei . Vors.: Nach den Akten haben sich tatsächlich Zeugen gemeldet, die Helling noch lange nach seinem Tode gesehen haben wollen. Dann war die Vernehmung Rudolf Haas' beendet und der Vor- sitzende ließ den Kriminalkommissar ten Holt als Zeugen ausrufen. Vor der Tür des Schwurgerichtssaales hatte sich inzwischen ein Spalier von Publikum gebildet, so daß ten Holt bei seinem Auf- ruf ironisch sagte, ob er hier vielleicht Spießruten lausen müsse. Die Vernehmung des Kommissars ten Holt war nur kurz. Der Vorsitzende fragte ihn, ob er Material hätte, um erklären zu können, daß der Fabrikant Haas an dem Morde beteiligt sei. Kriminalkommissar ten Holt gab jedoch ausdrücklich die Versicherung ab. ihm seien keinerlei Talsachen betannl. außer denen, die er von Schröder erfahren habe. Damit war die Ver- nehmung ten Holt? beendet. Dann erhielt Dr. M a r c u s e- Berlin das Wort zu seinem psychiatrischen Gutachten, in dem er zu dem Schluß kommt, daß der Angeklagte weniger intelligent, als an- passungsfähig mit snobistischem Einschlag sei. Eine wesentliche Herabminderung seiner Zurechnungsfähigkeit fei jedoch nicht vor- banden und 8 51 sei überhaupt nicht anwendbar. Auf weitere Zeugenvernehmungen wurde verzichtet und die Beweisausnahme geschlossen.

Oer Gberftaatsanwalt beantragt Todesstrafe. Darauf ergriff Oberstaatsanwalt Dr. Rasmus das Wort zur Anklagered«. Er wies auf das riesige Aufsehen, auf dem leidenschaftlichen Pressestreit hin, den dieser Fall im ganzen Reiche hervorgerufen hat. Deswegen fei der Tag der Hauptoerhandlung herbeigesehnt worden, weil er Klarheit bringen sollte. Erst als die Braut des Angeklagten Ausschluß gab, kam die Untersuchung in die richtige Bahn. Ich habe dann sofort die Berliner Beamten Dr. Rio- mann und Braschwitz nach Köln geschickt, um bei der Götz« Haus- suchung vorzunehmen und sie nach Magdeburg zu bringen. Schon unterwegs legte sie«in Geständnis ab, das sie dann in Magdeburg wiederholte. Ich war von ihrer Glaubwürdigkeit so überzeugt, daß ich sofort die Aufhebung der Haftbefehl« gegen Haas, Fischer und Reuter beantragte, was auch erfolgte. Ich stehe nicht an, von dieser besonderen Stell« aus zu erklären, daß auch nicht die Spur eines Verdachtes gegen Haas und die anderen mehr besteht. Wer das nicht glaubt, der kann oder will nicht belehrt werden. Und das Letztere ist das Schlimmste! Der Anklagevertreter legt« dann zunächst die juristischen Voraussetzungen für einen Mord dar, der automatisch die Todesstrafe auslöse. Dann befaßte er sich eingehend mit dem Hergang der Tat, wie ihn die Beweisaufnahme ergeben hat. Oberstaatsanwalt Dr. Rasmus schloß sein Plädoyer mit den Worten:Der Angeklagte ist de» INordes schuldig und ich fordere von Ihnen, meine Herren Geschworenen , seinen Kops.(Be- wegung.) Die Welt hat an diesem Menschen nichts verloren, wenn er ausgetilgt wird. Ich erinnere Sie, daß gut« und tapfer« Menschen in den Jahren des Krieges schuldlos sterben mußten. Ich beantrage gegen Schröder die Todesstrafe. Bezüglich der Verleitung zum Meineid an Hildegard Götze beantrag« ich«in« Zuchthausstrafe von 1 Jahr und 6 Monaten, wegen Scheckschwindeleien eine Ge- sängnisstras« von 6 Monaten, umzuwandeln in 4 Monate Zuchthaus , so daß«in« Gesamtstrafe von 2 Jahren Zuchthaus und Aberkennung der bürgerlichen Ehrenrechte auf Lebenszeit beantragt wird." Nach einer kleinen Pause hielt dann der Offizialverteidiger. R.-A. Zaeper-ZNagdeburg, sein Plädoyer. Er nahm zu den Angriffen Stellung, die von einem Teil der Presse gegen die Unabhängigkeit der Richter und der Justiz erhoben worden seien. Dann ging der Verteidiger aus die Tat des Angeklagten ein, die unbedingt zu verdammen sei und von keinem anständigen Menschen vertreten werden könne. Zweifelhaft sei nur, ob es sich um Tot- schlag oder Mord handele. In längeren Ausführungen suchte der Verteidiger darzulegen, daß Schröder den Helling nicht mit Ueberlegung niedergeschossen habe, daß also nur Totschlag in Frage kommen könne. R.-A. Jaeper oertrat die Ansicht, daß Schröder die Tat infoig« seiner vollkommenen Hemmungslosigkeit be- gangen und den Mord in einem Augenblick vollbracht hat, in dem ihn jede Ueberlegung verlassen habe. Der Verteidiger bat die Ge- schworenen, nicht auf die Todesstrafe zu erkennen und mildernde Umstände zuzubilligen. Der Angeklagte Schröder betont« dann im letzten Work«nt- schieden, daß die finanziell« Not ihn zu der Tat gezwungen hätte. Feige," so erklärt« er,bin ich bei dem Morde nicht gewesen. Auch habe ich nicht aus Feigheit den Fluchtversuch unternommen. Vielmehr hatte ich Bedenken, mich in Magdeburg dem Gericht zu stellen, denn ich fürchtete, hier nicht objektiv behandelt zu werden. Ich habe immer mit der Person desgroßen Unbekannten" operiert und mich selbst damit gemeint. Lediglich meine Braut wollte ich schützen, solang« es ging. Das ist mein Leitmotiv gewesen. Ich bin wirklich nicht der verstockt« Lügner, als der ich hier hingestellt wurde, und, angesichts der drohenden Todesstrafe erklär« ich Ihnen: Ich habe keineswegs «ine Verleitung zum Meineid oersucht. Ich habe das schwerste Der- brechen begangen, dos nach dem Slrasgcsetzbuch mit dem Tode be- straft wird, und muh sterben. Das sehe ich ein. Ich hätte hier ja eine Komödie vorspielen können, aber, wie Sie sehen, habe ich Ihnen nichts vorgeheuchelt. Sie werden über meine Ruh« erstaunt gewesen sein, aber bedenken Sie, daß ich zahllose Male in meiner sieben. monatigen Untersuchung vernommen worden bin. Das hat mich abgestumpft. So konnte mich auch der Strafantrag nicht erschüttern. Ich bitte nochmals, beurteilen Sie mich objektiv, obwohl dieser Pro- zeß große Schatten vorausgeworfen hat, und jeder von Ihnen sich wahrscheinlich ein« wüste Meinung zu meiner Ungunst'gebildet hat. Prüfen Sie, mein« Herren, ob ich mein Leben verwirkt habe!" -i- t Nach kurzer Beratung fällte dann das Gericht das an anderer Stelle wicdergegebene Urteil.

Der Weg des blinden Bruno.

Roman von Oskar Baum .

Morgengrauen liniierte durch Rollvorhänge das lang- gestreckte schmale Schlafzimmer. Frau Görnitz glitt vom Bett und zog sich geräuschlos an. Ihr Mann schlief so ruhig! Spät abends war er abgespannt und zerärgert aus einer Sitzung gekommen: da hatte sie ihm die Nachtruhe nicht nehmen wollen. Und so hatte sie einsam gewacht und geweint die langen Stunden der Dunkelheit. Erschrocken riß er jetzt die Decke weg und sprang auf den Bettvorleger:Wie spät ist es schon?" Er wußte, daß seine Frau ihn eher die Schule versäumen ließe, als ihn zu wecken. Noch Zeit, Paul!" Sie atmete tief.?jetzt mußte sie es ihm sagen. Mechanisch strich sie mit der Hand über eine Ecke des Toilettentischchcns vor sich. Die runde, glatte Fläche tat ihren Fingern wohl:Du, Dr. Glaser war noch gestern abend hier." Na, warum?" Ohne, daß ich ihn hätte rufen lassen!" Was wollte er denn?" Mit schwerem Herzen sah sie seine unachtsamen, eiligen Bewegungen, in denen er sich beim Sprechen nicht unterbrach. Die Wichtigkeit, die das Anziehen, die Schule, die Uhr hatte, war heute so schrecklich! War sie nicht im Begriffe, einen ahnungslosen Menschen hinterrücks mit einer Mordwaffe zu überfallen, die ihm alle Freude seines weiteren Lebens ab- schneiden mußte? Es würgte sie, die Wangen zuckten, aber sie tonnte sich noch beherrschen:Es betrifft den Kleinen!" Bruno?" Professor Görnitz ließ den Schuh fallen, den er eben anziehen wollte. Er wandte sein erschrecktes Gesicht nach ihr. Sie konnte es nicht ansehen. Krampfhaftes Schluchzen schüttelte sie und einiges, das sie sagen wollte, wurde von ihren unregelmäßigen Atemstößen zerrissen: es klang er- barmungswürdiger in seiner Unverständlichteit. Er stand auf und ging um die Betten, den Tisch und die Stühle, aber als er bei ihr war, nahm er sie nicht in die Arme, sie zu streicheln.So rede doch! Du folterst mich!" Es klang fast roh in seiner dringenden nervösen Unruhe. Und er wußte doch, was sie ihm sagen würde: er mußte es doch w'ssen! Ihr jüngstes Kind, das dritte, der Knabe Bruno, erst wenige Monate alt, war blindgeboren. Der Arzt hatte anfangs nur den Vater vom vollen Um-

fang der Wahrheit unterrichtet. Lorenz und Melli, die schon halb erwachsenen Geschwister und die Mutter ahnten es nur. Das Unglück, das so ganz unerwartet, ganz unmöglich schien, drängte sich zwischen die Glieder der kleinen Familie, rückte sie voneinander. Keines getraute sich, mit dem anderen mehr als nötig zu reden. Jeder beobachtete sich genau und fürch- tete, den anderen jetzt zu lustig, dann wieder zu traurig zu scheinen. In jedem harmlosen Satz fühlt« man eine An- deutung. Es hing so schwer und dicht über ihnen! Wußten sie ja, morgen, nächste Woche oder in einem Monat wurde es von ollen beim Namen genannt, besprochen und die lastende Beklemmung würde sich von ihnen nicht mehr rühren. Brunos Augen waren klar, und wenn auch ohne viel Bewegung, nicht ganz ohne Ausdruck. Wenn ein Geräusch an sein Ohr drang oder wenn er beim Erwachen die Lider hob, hätte man schwören können, daß er einen ansah. Jeder Schrei des Säuglings, jedes Wimmern erfüllte die kleine Wohnung hoch oben in der vierten Etage mit Angst und Aufregung. Als er an einem Darmkatarrh erkrankte, zitterten alle, waren übermäßig besorgt, und jeder hielt gequält die Möglichkeit von sich fern, er könnte es ganz tief im Herzen irgendwo vielleicht für besser ansehen, wenn er stürbe. Er wurde aber ein kräftiger Knabe voll Leben und Ge- sundheit. Fühlte er sich wohl und das war sehr oft schlug er Hände und Beine ohne Rhythmus wild in den Raum und gurgelte dazu feine, weiche, rollende Laute, �schon ganz menschliche, keinem mechanischen Geräusch oder Tierlaut auch nur im Entferntesten mehr zu vergleichen. Größtes Glück, wenn hierbei die Silberrassel an ihrem langen Faden über dem Bett ins Baumeln kam. Augenblicklich hielt er still, in welcher Lage die Glieder auch gerade waren, und lauschte mit verzücktem stummen Lachen dem laut aufklirrenden und immer leiser verschwindenden Klingeln. Und nicht, nein, gar nicht lange dauerte es und er hatte den Zusammenhang zwischen seinem Strampeln und dem Klingeln heraus. Frau Görnitz behauptete überhaupt und belegte es mit Beweisen genauester Daten, daß keines ihrer älteren Kinder so rasch sich entwickelt habe. Wurde er zu Ende der grausamen vier Stunden zwischen den Mahlzeiten ungeduldig, und die Mutter betrat nur sein Zimmer der Hunger dauerte ja noch immer kort ver­wandelte sich schon sein Weinen in übermütige Schreie und Lachen und er zappelte so glücklich mit allen Vieren, daß sie ihm d'e Flasche kaum zum Munde brachte, ohne zu verschütten. Die Menschen, wie sehr auch Staunen und scheue Er- regung sie bewegte, sprachen nie miteinander über das

Wunder, das da zwischen ihnen geschah: daß es Mutters Schritt war, den er erkannte, daß ihn ihre Stimme beruhigte, wenn er sie im Nebenzimmer hörte Jede Berührung bedeutete für Bruno eine Ueberrafchung, Schrecken. Oft bei einem Kuß fuhr er zusammen und begann zu weinen. Die plötzliche Begegnung seiner Wange oder Stirn mit einem feuchtwarmen Druck, wenn er ahnungslos dalag! Zuweilen war er so reizbar, daß er schon in Erregung geriet, wenn man sich zu ihm niederbeugte. Es war wie ein Schatten, der sich über ihn legte, noch ehe er den fremden Atem an sich vorbeistreichen fühlte. Und derlei mußte sich nur immer mehren. Die Mutter gewöhnte sich wohl, ihn anzureden, ehe sie ihn auf- oder zu- deckte, ihn trocken legte. Aber er verstand ja die Worte nicht. Hierin besserte sich vieles, als er an Stuhlbeinen. Sofa- ecken und Bcttkanten sich aufzustellen und zu kriechen versuchte, selbst schon zur Berührung mit den D-ngen der Welt beitrug. Vater ordnete an, seinen immer begierigen hurtigen Reisen auf allen Vieren in Zimmer und Küche(unter Beobachtung) uneingeschränkte- Freiheit zu lassen.Er soll selbständig werden," sagte er, und seine Frau bat ihn nicht, näher zu erklären, wie er das meinte, obgleich sie durchaus nicht ver- stand, was für eine Entwicklung der Selbständigkeit das ein- leiten sollte. Gerade aufgerichtet, ganz den Beinen vertrauen, und mit leeren Händen frei daherzulaufen, darauf wäre Bruno selbst vielleicht nie gekommen, obgleich er kräftiger war als Kinder seines Alters sonst. Er begriff nicht, was man von ihm wollte. Man mußte ihn mit List und Strenge geradezu dazu zwingen. Vielleicht eben, weil solches Drängen nach Betätigung und so viel Neugier in ihm war, und er auf Vieren v'el schneller und sicherer vorwärtskam. Das Vorbild der Erwachsenen. beirrte ihn nicht. Wenn Bruno sich an einer scharfen Ecke das Köpfchen stich, die Hand in eine Fuge klemmte oder mit dem Fuß unter einen schweren Gegenstand geriet, ließ ihn Frau Görnitz lange nicht von der Hand und machte dem Vater Vorwürfe. Meinst du es gut mit ihm, darf dir das nichts machen! Auf welche andere Weise könnte er Vorsicht lernen? Und die ist ihm nötiger als allen!" Die harte Methode war nicht von ihm ersonnen. Fedor Kapetan. Oberlehrer der Landesblindenanstalt draußen hinter dem Villenviertel, der viel über Verbesserung der bestehenden Scbulgrundsätze nachdachte, hatte mit Professor Görnitz lange Gespräche über Erziehung der ersten Lebensjahre. (Fortsetzung folgt.)