Unterhaltung unö �Vissen
Vie perle. 61 Von Jack London . Um drei Uhr morgens war dem Orkan das Rückgrat gebrochen. Um fünf Uhr wehte nur noch eine steife Brise. Und um sechs Uhr war es totenstill, und die Sonne schien. Die See hatte sich gelegt. An dem noch unruhigen Rande der Lagune sah Mapuhi die zer» fleischten Leichen derer, denen die Landung mißglückt war. Zweifel- los waren Tefara und Rauri unter ihnen. Er ging suchend am Strande entlang und fand seine Frau, die halb im, halb über dem Wasser lag. Er setzte sich nieder und weint« mit den tierischen Lauten primitiven Kummers. Da bewegte sie sich unruhig und stöhnte. Er blickte genauer hin. Sie lebte nicht nur, sie war sogar unverletzt. Sie schlief. Auch sie hatte das Glück des einen von zehn gehabt. Von den zwölfhundert, die die Insel am Abend zuvor belebt hatten, waren nur dreihundert übrig. Der Mormonenmissionar und ein Polizist nahmen die Zählung vor. Die Lagune war mit Leichen übersät. Nicht ein Haus, nicht eine Hütte stand mehr. Auf dein ganzen Atoll war nicht ein Stein auf dem anderen geblieben. Von je fünfzig Kokospalmen stand noch eine, aber auch sie waren Wracks, und auf keiner war auch nur eine Nuß geblieben. Es gab kein frisches Wasser. Die Brunnen waren mit Salzwasser gefüllt. Aus der Lagune wurden drei durchnäßte Mehlsäcke gefischt. Die Ueber- lebenden schnitten das Mark aus den gestürzten Kokospalmen und aßen es. Hier und da krochen sie in winzige Hütten, die sie machten, indem sie Löcher in den Sand gruben und sie mit Resten von Blechdächern überdeckten Der Missionar oerfertigte einen rohen Brennkolben, konnte aber nicht genug Wasser für dreihundert Menschen destillieren. Als Raoul am Ende des zweiten Tages in der Lagune badete, entdeckte er, daß sein Durst dadurch etwas ge. stillt wurde. Er. rief die Neuigkeit aus, und gleich darauf konnte man dreihundert Männer, Frauen und Kinder bis an den Hals im Wasser stehen und durch die Haut die Feuchtigkeit aufsaugen sehen. Ihr« Toten schwammen um sie her oder lagen auf dem Grunde, so daß man auf sie trat. Am dritten Tage wurden sie begraben, dann setzte man sich hin, um aus die Hilfsdampfer zu warten. Inzwischen erlebte Rauri, die der Orkan ihrer Familie ent- rissen hatte, ein Abenteuer aus eigene Faust. An eine ungehobelte Planke geklammert, die sie oerletzte und quetschte und ihren Körper mit Splittern zerriß, wurde sie quer über das Atoll ins offene Meer geschwemmt. Unter dem erstaunlichen Schwoll wahrer Berge von Wasser entglitt ihr die Planke. Sie war eine alte Frau, nahe an die sechzig, aber sie war in Paumotu geboren und hatte ihr ganzes Leben am Meere verlebt. In der Finsternis schwimmend, kämpfend, erstickend, nach Luft schnappend, erhielt sie einen heftigen Schlag an die Schulter von einer Kokosnuß. Im selben Augenblick war ihr Plan gefaßt, und sie ergriff die Nuß. Im Lause der nächsten Swnde fischte sie noch sieben dazu auf. Zusammengebunden. bildeten sie einen Rcttungsgürtel. der ihr zwar das Leben rettete, sie ober gleichzeitig kurz und klein zu stoßen drohte. Sie war eine fette Frau und leicht zu quetschen, aber sie wußte mit Orkanen Be° scheid, und während sie zu ihrem Haigott um Schutz vor Haien betete, wartete sie darauf, daß der Wind sich legen sollte. Um drei Uhr war sie jedoch so erstarrt, daß sie die Besinnung verlor. Als es um sechs ruhig wurde, merkte sie auch nichts davon. Sie erwachte erst aus ihrer Bewußtlosigkeit, als sie auf den Strand geworfen wurde. Mit aufgerissenen, blutenden Händen und Füßen grub und stemmte sie sich gegen den Rückschlag der Wellen, bis sie aus ihrem Bereiche war. Sie wußte, wo sie sich befand. Dies Land konnte nichts anderes sein, als die kleine Insel Takokota. Sie besaß kein« Lagune. Nie- wand lebte auf ihr. Hikueru war fünfzehn Meilen entfernt. Sie konnte Hikueru nicht sehen, wußte aber, daß es gegen Süden lag. Die Tage oergingen, und sie lebte von den Nüssen, die sie über Wasser gehalten hatten. Sie dienten ihr als Trinkwasser und Speise. Aber sie trank und aß nicht so viel, wie sie gern gewollt hätte. Di« Rettung war zweifelhaft. Sie sah den Rauch des Hilfs- dampfers am Horizont, es war aber nicht daran zu denken, daß er etaw hierher nach dem einsamen unbewohnten Takokota kam. Vor allem wurde sie von Leichen gequält. Die See schleuderte sie hartnäckig aus ihr kleines Fleckchen Sand, und, solange Nauris Kröste reichten, warf sie sie ebenso hartnäckig wieder ins Wasser, wo die Haie an ihnen zerrten und sie zerrissen. Als ihre Kräfte nachließen, bekränzte sich der ganze Strand mit Leichen, und sie zog sich, soweit sie konnte— was indessen nicht sehr weit war— von ihnen zurück. Am zehnten Tage war ihre letzte Kokosnuß oerzehrt, und sie schrumpfte vor Durst ein. Sie schleppte sich den Strand entlang aus der Suche nach Kokosnüssen. Es war merkwürdig, daß so viele Leichen angeschwemmt wurden und gar keine Kokosnüsse. Es mußten doch mehr Nüsse als Leichen herumschwimmen. Schließlich gab sie es auf und blieb erschöpft liegen. Das Ende war gekommen; es blieb nichts übrig, als auf den Tod zu warten. Als sie nach kurzer Bewußtlosigkeit wieder zu sich kam, wurde sie gewahr, daß sie auf ein Büschel rotblonden Haares auf dem Kopfe einer Leiche starrte. Die See warf die Leiche heran und riß sie wieder fort. Dann wurde sie umgedreht, und Nauri sah, daß sie kein Gesicht hatte. Und doch war etwas Bekanntes an diesem rot. blonden Haarbüschel. Eine Stunde verging. Sie zerbrach sich nicht den Kopf darüber, wer es sein könnte. Sie wartete auf den Tod, und es war ihr gleichgültig, welcher Mensch dieser Gegenstand des Schreckens einst gewesen sein mochte. Als die Stunde um war, setzte sie sich jedoch langsam auf und betrachtete den Leichnam. Eine ungewöhnlich hohe Welle hotte ihn in den Bereich der kleineren geworfen. Ja, sie hatte recht, dieser Büschel roten Haares konnte nur einem einzigen Manne auf den Paumotuinseln gehören. Es war Levy, der deutsche Jude, der Mann, der die Perle gekaust und auf der„Hira" weggebracht hatte. Nun, jedenfalls war die„Hira" untergegangen. Der Gott der Fischer und Diebe hatte den Perlenhändler im Stich gelassen. Sie kroch zu dem toten Manne. Sein Hemd war zerrissen, und sie konnte den ledernen Geldgurt um seinen Leib sehen. Sie hielt den Atem an und löste die Schnallen. Leichter, als sie erwartet hatte, gaben sie nach, und, den Gurt hinter sich hcrschleppend, kroch sie hastig über den Sand. Eine Tasche des Gurtes nach der anderen öffnete sie und fand sie leer. In der allerletzten aber entdeckte sie die einzige Perle, die er auf dieser Reise gekaust hatte. Um dem Leichengeruch zu entgehen, kroch sie einige Schritte weiter und untersuchte dann die Perle. Es war die, die Mapuhi gefunden und Toriki diesem geraubt hatte. Sie wog sie in der Hand und rollte sie zärtlich hin und her. Aber sie sah nicht ihre innere Schönheit. Was sie sah, war das Haus, das Mapuhi, Tefara und sie
so sorgsam in Gedanken erbaut hatten. Jedesmal, wenn sie die Perle betrachtete, sah sie das Haus in allen Einzelheiten, einschließ- lich der achteckigen Wanduhr. Das war etwas, wofür es schon wert war zu leben. Sie riß einen Streifen von ihrem Ahu und band sich die Perle sorgfältig am Halse fest. Dann ging sie keuchend und stöhnend, aber entschlossen, nach Kokosnüssen suchend, den Strand entlang. Bald fand sie eine, und als sie sich umsah, noch eine. Sie brach die eine auf, trank die Milch, die modrig schmeckt«, und aß das Fleisch bis auf den letzten Rest. Ein wenig später fand sie ein zersplittertes Kanu. Der Ausleger fehlte, aber sie war guten Mutes, und ehe der Tag um war, hatte sie ihn gefunden. Jeder Fund war ein glückliches Vorzeickien. Die Perl« war ein Talisman. Spät am Nachmittage sah sie eine Holzkiste tief im Wasser schwimmen. Als
Heisterbesthwörung in öer Kpv.
.Lenins Geist?� .Ich weih nicht, es sieht eher au» wie eine Spaltung!"
sie sie auf den Strand zog. rasselte der Inhalt, und sie fand Dosen mit eingemachtem Lachs darin. Durch Hämmern auf das Kanu öffnete sie eine davon. Sie macht« mit Mühe ein Loch und trank den flüssigen Inhalt. Dann brauchte sie mehrere Stunden, um den Lachs herauszubekommen, indem sie hämmerte und jedes Stückchen einzeln herauspreßte. Noch acht Tage wartete sie auf Hilfe. Unterdessen befestigte sie den Ausleger wieder am Kanu, indem sie ihn mit allen Kokosfasern, deren sie habhaft werden konnte, und den Ueberresten ihres Ahus festsurrte. Das Kanu war bös mitgenommen, und sie konnte es nicht wasserdicht machen, aber sie verstaute als Schöpseimer an Bord eine Kalebasse, die sie aus einer Kokosnuß machte. Schwere Mühe bereitet« ihr das Ruder. Mit einem Stück Blech sägte sie sich alles 5iaar dicht an der Kopjhaut ab, flocht ein Seil daraus und band mit diesem Seil ein drei Fuß langes Stück von einem Besen- stiel an ein Brett von der Lachskiste. Mit den Zähnen nagte sie Keile und keilte damit die Sorring fest.(Schluß folgt.)
Das Schaffen Gskar Saums. Von Max B r o d. Ich lernte Baum durch einen gemeinsamen Freund kennen. Das geschah vor vielen Jahren. Damals wußte ich von Oskar Baum nur, daß er in srüher Jugend durch einen unglückseligen Zufall erblindet und in einem Wiener Blindeninstitut erzogen war, wo er durch seine außergewöhnliche literarische und musikalische Begabung sowie durch die ihm von Natur aus zufallende Führerrolle unter den Zöglingen die Aufmerksamkeit der Lehrer aus sich lenkte. Ich war also darauf gefaßt, eine interessante Persönlichkeit kennenzu- lernen. Immerhin hatte ich mir ihn anders vorgestellt: nicht so aufrecht, so heiter und durchaus oersöhnt, mit so viel überschüssiger Kraft der Seele, die immer daraus ausgeht, immer mehr Gegen- ständliches in ihren Bereich zu reißen und unermüdlich an einer eigenen Welt zu bauen. Der erste Eindruck dieser ganz starken Lebens- und Schaffens- kraft scheint richtig gewesen zu sein, denn er hält nun beinahe zwei Dezennien bei mir an und erneuert sich bei jedem neuen Werke, das der Dichter hervorbringt. Ja, er erneuert sich bei jedem Zusammentreffen. Jedesmal strömt Tapferkeit und Stärke von Baums schönen Kopf dem Besucher entgegen, ein herrlicher Atem von Gesundheit, der den Gedanken an sein Gebrechen gar nicht auf- kommen'läßt. Gewiß, es ist seltsam, daß Baum, der von der Natur Mißhandelte, unter uns gleichaltrigen Freunden der erste war, der es wagte, allen dunklen"Mächten zum Trotz ganz festen Fuß auf der Erde zu fassen, indem er sich ein Weib nahm, eine Familie be- gründete, in deren Heim man sich bald wohlsühlt. Und dieselbe Entschlossenheit. Kurzangebundenheit, dasselbe Vertrauen zum Leben, wie er es in seinem Tun erquickend bewährt, kommt auch in seinen Schriften zur Gestaltung, in zweifacher Weise: in der Eigenart der Helden, die er am liebsten darstellt, und in der Art seiner Dar- stellung. Aus derselben Quelle entspringt seine leidenschaftliche Sprechweise, die Fülle von Problemen, die ihn beständig umslattert wie ein dunkler aufgeregter Vogelschwarm. Es ist eine Lust, mit ihm zu debattieren, zu streiten, seinen überraschenden, oft naiven, meist schlagenden Einwendungen sich entgegenzustemmcn. Seine Erzählungen sind brausend, sein Lachen kommt so heftig und uner- sättlich, wie ich mir das Lachen Flauberts vorstelle. Er unterbricht gern den anderen, er spricht:.Wart' einmall": er wiegt sich, daß die Sessclbeine knacken: er fragt nach tausend Dingen und gestaltet zehn- tausend neue zum Entgelt: in allem das kraftvolle Wesen eines Mannes, der der Welt viel abzuverlangen hat, der aber auch sein ganzes Ich einsetzt, um viel in sie hlneinzuformen. Daß Baum blind ist, hat ihm vielleicht ä u ß er l ich manchen literarischen Erfolg gebracht(namentlich an den Vorlesetischen): in
der allgemeinen literarischen Beurteilung aber hat es ihm gewiß geschadet. Es hat nämlich diese Beurteilung den Kritikern etwas zu leicht, zu sensationell gemacht. Ein Blinder, der gute Romane schreibt, der Landschaften besser als mancher sehende Dichter aus- breitet, der eine spannende Erzählung mitten ins Lastertreiben der Großstadt, sogar mitten unter Sehende leitet: welch' ein Anlaß für banale Paradoxal Wenige Rezensenten ließen und lassen sie sich entgehen. Ich bin nicht Aesthet oder irgendwelcher Theoretiker genug, um zu leugnen, daß aus Baums Blindsein und aus seiner Blindenersahrung über sich selbst wie über unzählige Schicksals- genossen ein eigenartiger stofflicher Reiz seiner Werke solgt. Auch ich habe bei der Beurteilung seiner ersten Schöpfungen den Fehler begangen, diesen Reiz allzu ausschließlich in den Vordergrund zu stellen. Ich sprach damals von dchi neuen Konflikten der blinden gegen die sehende Welt, die sich ihm darbieten, von der wunderbaren Anschaulichkeit seiner unanschaulichen Welt, von all dem Eindrucks- vollen, das man über Werkzeuge, Taschenuhren, Visionen, Wollungen der Blinden erfährt. All dies bleibt richtig. Aber es ist nicht das Wichttgste an der Persönlichkeit Baums. Und dennoch hängt auch dieses Wichttgste, das ich jetzt an ihm sehe, mit seinem Blind- sein zusammen, wie eben Seele und Körper zusammenhängen.— Da mir nämlich heute acht Bücher Baums vorliegen, hat sich meine Ansicht mehrfach ergänzen müssen. Ich glaube jetzt, daß sein Eigen- tümliches. Wesentlichstes die neue eigene Welt ist, die er in seiner Seele aufbaut, und die Energie, mit der er sich diesem Ausbauen hin- gibt. In einer Novell «.Von den Togen des Arbeits- tosen" hat er selbst geschildert, wie ein Blinder, der viel allein ist, eine phantastische Welt rings um sich schafft und sich in ihr bald sicherer bewegt als in seiner realen Umgebung. Diese Novelle(deren Grundidee Baum in seinem phantastischen Roman«Die v e r-, wandelte W e lt" ins Gigantische vergrößert hat) gibt einen, Hinweis auf die Psychologie seines eigenen Schaffens. Nur daß sein Schassen nicht müßiges Träumen bleibt, sondern verwobenes � Leben, Krostäußerung ati Wirklichkeiten, Expression seiner leiden-! schaftlichen Künstlersormungskraft. Nichts ist ihm natürlicher, als Menschen zu erfinden, Situattonen entstehen zu lassen, ganze Heere. von agierenden Geschöpfen gegeneinanderzusühren. Gleich in seinem ersten Novellenband.U f e r d a s e i n" tritt er j mit diesem eigentümlichen erobernden Griff auf, der aus sich heraus, nicht beliebige reliefartige Räume setzt, sondern eine tüchtige Räum-. lichkeit mit vielen Türen, Treppen aus und ab, lange Gassen, die wirklich ineinander führen, mit Höfen und richtigen Hofzimmern,- aus denen man wirklich hinüberfieht. Sein hieraus entstandener, Roman. Das Leben im Dunkeln", der das Erziehen und i Erzogenwerden in einem Blindeninstitut darstellt, ist ein Meister- werk raumhafter Darstellung. Baums kraftvoller Reichtum konnte. es wagen, in feinen weiteren Romanen:.Die Memoiren der � Frau Marianne R o l l b e r g" und.Die böse Unschuld" (beide aus der Welt der Sehenden) eine ganze Stadt, ein Sommer- frischendorf zu umspannen. In seinem Roman„Die Tür ins Unmögliche" und dem stoffverwandten Drama„D a s Wunder" hat er in dichterischer Verlebendigung ein soziales Problem in eigenartiger neuer Weise zu lösen oersucht. Wie unrecht die Zweifler und Sensationsjäger haben, die auch der Darstellung der normalen Welt durch diesen Dichter nur den Wert einer Spezialität einräumen wollen, und überall das spezifisch Blinde zu erkennen behaupten, wurde jüngst bei einem Preisaus- schreiben unwiderleglich bewiesen. Unter den zwölf Romanen, die aus ZOO anonym eingereichten ausgewählt wurden, befand sich auch ein bunter Gegenwartsroman von Baum,.G. F., der Aben- teurer", ohne daß einem der Preisrichter, denen u. a. auch Ricarda Huch , Blunck und Bernhard Kellermann angehörten, etwas von einer eingeengten oder absonderlichen Weltbetrachtung des Autors aufgefallen wäre. * In seinem neuesten Werk:.Der Weg des blinden B r u n o', mit dessen Abdruck der.Vorwärts" heute beginnt, schildert der Dichter zum ersten Male das Leben eines Blindgeborenen, vom ersten Erwachen des Kindesbewußtseins bis zur Höhe der Mannes- reife, zu Liebesglück und fruchtbarem Schassen. In allen Stadien dieses nur anderen, gleichsam um eine Dimension schmälern Daseins überraschen die geheimnisvollen Kräfte seiner bunten und reich- haltigen Eindrücke, seiner vielsälttgen Arbeitsmöglichkeit und Lebens- sreude. Wie in seinen anderen Romanen aus der sehenden Welt würde auch hier der greifbaren Gegenständlichkeit der Darstellung niemand anmerken, daß der Autor das Sichtbare nur aus blasser Erinnerung kennt.
Rast am Gletsther. Von Leopold Loeske . Zweitausend Meter über dem Meere. Vor uns ragende Drei» tausender, hinter uns das tiefe Hochtal. Dazwischen weite, glitzernde, erstarrte Wellen, Firn- und Eisfelder, von dunklen Felsrippen zackig durchrissen. In Frost gebannte Seen und Flüsse, die ringsum die Hänge und Mulden der Gewaltigen umgeben, sich mit breiten Zungen gegen die Täler senken, bis sie plötzlich abbrechen und aus ihrem Untergrunde die Schmelzwässer enfiassen, die tosend über das Gefelse schießen. Was die Wucht der Gletscher, im langsamen Vor- schreiten, unter sich mahlend zermalmt, das führen sie, in gelblicher Trübung zu Tal, und erst weit unten klärt sich das wilde Gewässer. Wir haben den blaugrün schillernden Abbruch des Gletschers gerade über uns. Große Eisblöcke haben sich von ihm gelöst und sind auf das Schneefeld unter ihm gefallen. Einer dieser Blöcke liegt recht handlich. Den Mantel darüber und Rast gehalten! Es wird ja nicht gleich wieder solch ein Eisklotz herabsausen— man wird ein bißchen sorglos in dieser ungebändigten Natur, die ungezählten Jahrtausenden trotzt. Die Sonne steht hoch am Himmel, und der Schnee blendet das Auge, das wir dann nur den grünen Matten und den dunklen Wäldern im Tale zuzuwenden brauchen. Das Rauschen der Gletscher- wässer ist der einzige Laut. Durch seine unendliche Melodie scheint er sich selbst auszulöschen, so daß wir ihn zeitweise aus dem Be- wußtsein verlieren und außer der ergreisenden Einsamkeit eine ungeheure Stille uns zu bannen scheint. Dann wirkt es wie Er- lösung auf den einsam Rastenten, wenn endlich ein Trupp Gipfel- stürmer, mit Seil und Eispiärln, die Serpentinen herausklimmt: langsam und schweigend, denn die Kräfte müssen gespart werden. Eine Weile später kreuzt wieder ein Mensch das Gesichtsfeld. Ein Eingeborener, der Vorräte für die noch ein paar hundert Meter höher gelegene Alpenvereinshütte hinaufbringt. Er trägt über Kopf und Schultern ein Brettgestell, das den Druck der schweren Last ver- teilt. Mit einem„Grüß Gott!" zieht er gebückt vorüber. Der Pflanzenwuchs des Tales hat anderen Gestalten Platz gemacht. Hier und da manch großblütige, farbensatt« Alpenblume. Nicht jede verrät sogleich Nam* und Art. Noch mehr Rätsel gibt uns das Reich der Moose und Flechten hier oben auf, die auf den eisigen Höhen noch ihre Plätzchen suchen. Wenn die Sonne sich senkt oder eine Wolke sie verhüllt, weicht die Wärme plötzlich einem kalten Hauch, der den Mantel über die Schultern zwingt. Schneebedeckte Kämme schwingen sich zu überwältigender Höhe gegen den König dieser Wildnis, den kleinere, abvr nähere Trabanten dem Blick entziehen. Aber an all diesen Majestäten nggen die Gletscherwässer. Sie rauschen und tosen ohn' Unterlaß, Tag und Nacht. Sie haben die Täler geschaffen, und durch die Täler schassen sie die Riesen zu Tal. Sandkorn um Sandkorn, Jahrtausend um Jahrtausend— so wandern die Berge zu Tal, zu Grabe...