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Abendausgabe

Nr. 465 43. Jahrgang Ausgabe B Nr. 230

Bezugsbedingungen und Anzeigenpreise find in der Morgenausgabe angegeben Redaktion: Sw. 68, Lindenstraße 3 Fernsprecher: Dönhoff 292-297 Tel.- Adresse: Sozialdemokrat Berlin

Vorwärts

Berliner Volksblatt

10 Pfennig

Sonnabend

2. Oktober 1926

Verlag und Anzeigenabteilung: Geschäftszeit 8% bis 5 Uhr Verleger: Vorwärts- Berlag GmbH. Berlin SW. 68, Lindenstraße 3 Fernsprecher: Dönhoff 292-297

Zentralorgan der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands

Neue Verhaftungen in Germersheim . Eine Statiſtik des Grauens.

Uebereifer des französischen Staatsanwalts.

Landau , 2. Oktober. ( Mtb.) Außer dem gestern von den Fran-| kein Beweis. Ebensowenig ist bewiesen, daß der Leutnant zosen verhafteten Richard Holzmann, bekanntlich das erste Opfer der Zwischenfälle in der letzten Montagnacht in Germersheim , find gestern abend auf Anordnung der franzöfifchen Staatsanwaltschaft noch zwei der gestern vernommenen jungen Leute aus Germersheim festgenommen worden.

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Man muß in Frankreich begreifen, daß es sich in Germersheim nicht um eine juristische, sondern um eine politische Angelegenheit handelt. Bei Konflikten zwischen französischem Militär und deutschem Zivil wird sich so ziemlich ganz Deutschland auf der einen Seite zusammenfinden, die einen, weil sie gegen die Franzosen , die anderen, weil sie gegen das Militär sind. Ein Umschwung der öffentlichen Meinung in Deutschland fönnte erst eintreten, wenn der flare unzweideutige Beweis dafür erbracht werden könnte, daß es in Deutschland Stellen gibt, die darauf ausgehen, Zwischen­fälle wie den von Germersheim planmäßig zu provozieren. Die französische Bresse vertritt diese These, die ja auch durch die plumpe Reklame des Bölkischen Beobachters" in München eine Stüße erhalten hat, aber eine These ist noch

Pilsudskis Schwierigkeiten.

Widerstände bei den Sozialisten.

Warschau , 2. Oktober. ( WTB.) Die Schwierigkeiten, denen Marschall Pilsudski bei der Kabinettsbildung begegnet, fonnten gestern abend noch nicht aus dem Wege geräumt werden. Sie be­stehen vor allem darin, daß der Marschall seinen Freund, den( sozial. demokratischen) Sejmabgeordneten Moraczewski, in die Re­gierung berufen will, ein Gedanke, der angesichts der weiteren Son­zessionen Bulsudsfis, tonservative Monarchisten aus dem Wilnaer Gebiet für die Mitarbeit zu gewinnen, auf Schwierig feiten stößt. Heute vormittag wird der Vollzugsausschuß der fozialdemokratischen Partei zusammentreten, um zur Kandidatur Moraczewskis Stellung zu nehmen. Allenfalls rechnet. man mit der Möglichkeit einer Mandatsniederlegung Moraczewskis, da eine offizielle Teilnahme der Sozialisten am Kabinett taum in Betracht kommt. Dafür spricht auch der aus gefpre en unfreundliche Empfang, der der Regierung Bilsudski heute morgen im sozialdemokratischen Organ Robotnit" zuteil wird. Robotnit" sagt, daß aus einer nebelhaften Krise eine neue aufsteige, die sich in mancher Beziehung schlimmer aus­wirken tönne als ihre Vorgängerin.

Das Blatt fordert eine ausgesprochene Linksregie Das Blatt fordert eine ausgesprochene einesregie. rung mit flarem Sanierungsprogramm, Landtagsauf= lösung und Neuwahlen. Das Blatt des Marschalls Pilsudskt Glos Pravdz" ist hocherfreut, daß sich nunmehr der Kommandant an das Steuer stellt". Die Blätter der Rechten find aus anderen Gründen mit der letzten Wendung nicht unzu­frieden. Sie begrüßen die Betrauung Pilsudskis , weil diejenigen Persönlichkeiten nunmehr die Verantwortung für die Vor­gänge in Polen übernähmen, die während der traurigen Maiereig­nisse mat der Waffe in der Fauft die Macht übernommen hätten. Das Kabinett fertig mit Moraczewski? Die Telegraphen- Union" verbreitet furz vor Redaktionsschluß eine Meldung, wonach Pilsudskis minifterlifte fertig fei, und zwar unter Einschluß des bisherigen sozialistischen Abgeord­neten Moraczewski, der Minister für öffentliche Arbeiten ge­worden sein foll. Bartel ist Bizepräsident und Unterrichtsminister geworden. 3alesti ist Außenminister geblieben.

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Roucier in wirklicher Notwehr gehandelt hat. Er ist aus deutscher Seite einen Toten und zwei Berletzte zur Folge hatte. diefer Affäre unverlegt hervorgegangen, während sie auf Es ist nicht bewiesen, daß die Deutschen bewaffnet waren oder daß sie den Franzosen in gefährlicher Weise bedrohten. Das französische Vorgehen hat also für uns einen starken Beigeschmack von Militarismus von der Art, wie wir sie aus ähnlichen Fällen der alten preußischen Zeit kennen. erschärft wird der Konflikt aber dadurch, daß es sich hier um Angehörige zwei verschiedener Nationen handelt. diesem Anlaß eine geradezu schamlose Heze gegen alles, was Schon erhebt sich in einem Teil der deutschen Presse aus französisch ist. Gegen diese Hetze, deren offenbares Ziel es ist, die deutsch - französische Verständigung wieder zu zerschlagen, fann gar nicht scharf genug protestiert werden. Für jeden ruhig Denkenden ist der Fall von Ger­ mersheim ein Beweis mehr für die Notwendigkeit der Ver­ständigung, deren Ergebnis die Räumung des besetzten Ge­bietes sein muß. Durch Vorfälle wie die von Germersheim und ihre agitatorische Ausnüßung wird aber die Befreiung der leidenden Bevölkerung von dem Joch der fremden Be­sagung nicht erleichtert, sondern erschwert.

um so weniger, als Frankreich finanziell geschwächt, Stalien und Rußland beunruhigt sind.

4. Die wirtschaftliche Annäherung zwischen den beiden Ländern, die der Natur der Dinge entspricht, hat begonnen und wird wahrscheinlich ausgezeichnete Ergebnisse haben. 5. Es ist nur möglich, das Problem der internationalen Schulden in Gemeinschaft mit dem Problem der Reparationen, d. h. durch eine gemeinsame Attion von Frankreich und Deutschland , zu regeln.

genügend Gründe für einen Staatsmann, die Annäherung und Das sind nach Ansicht des Außenpolitikers des Matin" die vorzeitige Räumung, die die Folge davon sei, zu rechtfertigen.

Chamberlain- Musolini.

England versichert, man habe nichts abgemacht. Paris , 2. Oftober.( Eigener Drahtbericht.) Briand empfing am Freitag spät abends den englischen Botschafter in Paris , der ihm erklärte, daß bei der Zusammenkunft Chamberlain Muffolini keinerlei Sonderabkommen zwischen Italien und England ins Auge gefaßt worden seien.

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Wie der Petit Parifien" zu wissen glaubt, soll bei dieser Be­sprechung auch die Frage der Kolonialmandate und der Neuverteilung berehemaligen deutschen Kolonien erörtert worden sein und Mussolini dabei die Absicht ausgeſpradere erörtert worden sein und Mussolini dabei die Absicht ausgesprochen haben, wenn Deutschland Ansprüche auf Kolonialmandate aufstelle und die Rückgabe seiner alten Kolonien verlange, unter Geltend­machung der älteren Rechte Italiens den deutschen Forderungen fich zu widersetzen.

Beneschs Ministerschaft.

Von den Deutschen abhängig.

Prag , 2. Oktober. ( TU.) Das sozialdemokratische Bravo Lidu"( Bolksrecht) schreibt: Die Faschisten, katholischen Volksparteiler, Nationaldemokraten und tschechischen Agrarier verlangen die Be seitigung Dr. Beneschs. Der gewesene und kommende Minister. präsident Svehla bringt Dr. Benesch nur geringe Sym­pathien entgegen. Die genannten Parteien rechnen daher damit, angesichts dieser Sachlage Dr. Benesch entfernen zu können. Die Entscheidung dabei haben also jene deutschen Parteien, die seit der Zollerhöhung mit den tschechischen bürgerlichen Parteien die Mehrheit gebildet haben. Das Blatt hält es für fraglich, daß sich die Deutschen zu Beneschs Sturz bereit zeigen würden.

Es ist schon bekannt, daß Benesch den Plan verfolgt, die Warum deutsch - französische Annäherung? Deutschen mit in die Regierung hineinzubekommen. Die Bemerkenswerte Begründung durch den Matin". tschechischen Agrarier und Klerikalen dürften damit einver­Paris, 2. Oktober. ( WTB.) Der Außenpolitiker des Matin" standen sein, die Nationaldemokraten keinesfalls. Das Zu­( Sauerwein) veröffentlicht heute einen Artikel, in dem er sagt, der standekommen einer solchen Regierung ist nicht unwahrschein­mehr oder weniger vollkommene Berzicht auf die Rheinlandbefeßung lich. Leicht würde es ihr nicht fallen, sich am Ruder zu halten, und auf die Ausbeutung des Saargebiets gegen die mehr oder weniger denn die Sozialdemokraten beider Nationen, die selbstverständ­ausgedehnte Mobilifierung von Eisenbahnobligationen fei vielleichtlich jeden Fortschritt der Völkerverständigung begrüßen, nicht gerechtfertigt. Wenn man den Vergleich ziehe zwifchen würden in dieser Koalition vor allem wahrscheinlich die Opfer und Leistung, sei es schwierig, eine Aenderung der franzöfifchen Gemeinsamkeit des agrarischen, klerikalen und bourgeoisen Politik zu rechtfertigen. Deshalb müsse man weitergehen und den Interesses sehen. Mut haben, auf folgendes hinzuweisen:

1. Die französisch- englische Entente hat nicht die günstigen Er­gebnisse gehabt, die man erwartete. Zwei Mächte zeigten sich un­fähig, ihre Ansichten miteinander in Einflang zu bringen. Daraus ergibt sich eine große Beunruhigung für alle Nationen, für die diese Verständigung die einzige Richtlinie ihrer eigenen Politik war.

2. Inzwischen ist Deutschland als Schuldner Gegenstand der allgemeinen Fürsorge geworden und hat sich wirtschaftlich und finanziell wieder erholt. Nichts fann verhindern, daß es eine Rolle an der Seite Frankreichs und Englands spielt. 3. Die Politit, in allen Teilen Europas eine ständige Wache gegen Deutschland zu errichten, ist heute nicht mehr möglich,

Benesch hat übrigens einen längeren Erholungsurlaub angetreten.

Auch Charlotte Spruch geständig.

Der gesamte Raub wieder herbeigeschafft. Im Laufe des Vormittags legte auch die Schwester des Juwelen­räubers Spruch ein Gefiändnis ab. Sie führte die Kriminalbeamten nad) bem Grunewald, is ab. Sie führte die Sriningteamen grahen, auch hier wieder in ein Wedglas gelegt, tatsächlich der Rest der kostbarkeiten gefunden wurde. Die ganze Beute ist jetzt also wieder herbeigeschafft.

Jährlich tausend Jahre unschuldig erlittener Untersuchungshaft!

Bon Dr. Siegfried Weinberg, Mitglied des Staatsrats. ,, Opfer fallen hier, Weder Lamm noch Stier, Aber Menschenopfer unerhört!"

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Kommission zur Reformierung des Strafprozesses beantragte, Als die in den ersten Jahren dieses Jahrhunderts eingesetzte das Reichsjustizamt möge Erhebungen über die Anwendung der Untersuchungshaft veranlassen- ein Antrag, der übrigens von der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion bereits im Jahre 1890 gestellt war stellte ein unvorsichtiger Vertreter des Reichsjuftizamts zunächst die Erfüllung dieses Wunsches in Aussicht. Einig Monate später mußte er jedoch mitteilen, daß dem Verlangen der Kommission nicht stattgegeben werden Angedenkens Bedenken trage, derartige Erhebungen anzu­könne, weil der preußische Justizminister Schönstedt üblen stellen". Demgegenüber muß es immerhin als ein Fortschritt anerkannt werden, daß das preußische Justiz ministe rium vor furzem einem entsprechenden Antrage des Landtags stattgegeben und dem Hauptausschuß des Landtags eine lebersicht über die in der Zeit vom 1. Juli bis 31. Dezember 1925 beendeten Fälle der Untersuchungshaft bei den preußischen Gerichten vorgelegt hat. Hierdurch ist zum ersten Male Gelegenheit gegeben, die grauenhaften Wirkungen der gegenwärtigen Regelung der Untersuchungs­haft auch statistisch zu erfassen. Die Statistik ist die beste Begründung für den vor mehr als Jahresfrist von unserer Reichstagsfraktion eingebrachten Antrag auf Abänderung der auf die Untersuchungshaft bezüglichen Bestimmungen der Strafprozeßordnung.

bei den preußischen Gerichten in einem einzigen halben Aus dieser Statistik ergibt sich zunächst die Tatsache, daß allein bei den preußischen Gerichten in einem einzigen halben Jahre 20 533 Fälle von Untersuchungshaft vor­gefommen sind. Rechnen wir diese Bahl unter Berücksich­tigung der Ergebnisse der letzten Volkszählung auf das Reich um und berücksichtigen wir außerdem die vom Reichsgericht und vom Staatsgerichtshof erlassenen a ft befehle, so kom­men wir auf die Zahl von fast 35 000 Untersuchungshaftfällen für ein halbes Jahr oder von 70 000 Fällen von Unter­suchungshaft für ein ganzes Jahr, eine Zahl, welche die schlimmsten Erwartungen übertrifft. Die polizei­lichen Festnahmen sind in dieser Zahl nicht eingerechnet.

Aus der amtlichen Statistik ergibt sich, daß die Anwen­dung der Untersuchungshaft in den einzelnen Landesteilen völlig verschieden ist. Während im Durchschnitt Preußens die Untersuchungshaft in 2,6 Proz. aller Straffachen ein­schließlich derjenigen wegen geringfügiger Uebertretungen zur Anwendung gebracht ist, und während diese Zahl im Ober­landesgerichtsbezirk Königsberg 1,6 Proz. und im Ober­landesgerichtsbezirk Kaffel 1,7 Broz. aller Fälle betrug, steigerte fie fich im Bezirke des Oberlandesgerichts Riel auf 3,5 Proz. und in demjenigen des Oberlandesgerichts Celle fogar auf 4,4 Broz. aller Straffälle einschließlich der Bagatell­fachen. Es geht hieraus hervor, daß die hannoverschen Richter die ostpreußischen. Da feine Gründe ersichtlich sind, aus die Untersuchungshaft fast dreimal so häufig verhängen, als denen die hannoverschen Angeklagten fluchtverdächtiger sein sollten als die ostpreußischen nach der Statistik bildet Fluchtverdacht in fast 99 Proz. aller Fälle den Haftbefehl- wird durch diese Zahlen bewiesen, daß die Anwendung dieser so tief einschneidenden Maßnahme eine ganz willkürliche ist. Gefeße, die eine derartige Willkür zulassen, bedürfen dringend der Abänderung.

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Ist die Untersuchungshaft schon gegenüber dem schuldigen Angeklagten eine große Härte, so ist sie ein nicht wieder gut­zumachendes llebel gegenüber dem Unschuldigen. Erschreckend find die Zahlen der Statistik des preußischen Justizministe­riums, aus denen sich ergibt, wie oft die Untersuchungshaft gegen völlig unschuldige Beschuldigte verhängt ist. Von den durch die vorgelegte Statistit ausgewiesenen Fällen der Unter­suchungshaft entfallen 14 330 auf Strafverfolgungen wegen anwaltschaft und 616 vom Gericht eingestellt worden, ohne daß Berbrechen und Bergehen. Hiervon sind 517 von der Staats­also die Unschuld der Verhafteten bereits im Vorverfahren es überhaupt zu einem Urteil gekommen ist. Hier hat sich ergeben. Durch rechtskräftiges Urteil sind weitere 650 Unter­suchungsgefangene freigesprochen worden. Es ergibt sich also die erschütternde Tatsache, daß in Preußen in einem einzigen halben Jahre 1783- b. i. ein volles Achtel aller Haftfälle- wegen angeblicher Verbrechen und Bergehen in Untersuchungs­haft genommen sind, denen schließlich überhaupt keine straf­wegen angeblicher Verbrechen und Vergehen in Untersuchungs­bare Handlung nachzuweisen war. Auf die Dauer eines gerechnet, entspricht dies einer Zahl von 5000 unschuldig Kalenderjahres und für den Bereich ganz Deutschlands um­Inhaftierten. Dabei sind in dieser Zahl die wegen Uebertretung in Untersuchungshaft Genommenen, unter denen fich gleichfalls eine Anzahl Unschuldiger befinden, nicht ein­gerechnet.

Wieviel Lebensjahre hierdurch völlig unschuldigen Per­fonen geraubt sind, läßt sich nicht genau berechnen. Die Statistik des preußischen Justizministeriums macht jedoch einige Angaben, aus denen sich diese Zahl ungefähr errechnen läßt. Sie teilt die Fälle der Untersuchungshaft in vier Kategorien, nämlich in solche von einer Dauer bis zu zwei Wochen, von mehr als zwei bis vier Wochen, von mehr als vier Wochen bis zu drei Monaten und schließlich von mehr als drei Mona­