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Nr. 46S 4Z.Iahrgang

1. Heilage öes vorwärts

Dienstag, S. Oktober 1926

öaldurs letzte Jährt. Baldur". den Namen des schönsten der altgermanischen Götter, trägt bekanntlich ein neuartiges Kabinengroßschiff, das jetzt seit zwei Jahren über die Gewässer der Havel fährt. Tausende von Berliner Schulkindern hat es im letzten Sommer in die lockende Ferne getragen und ihnen zu unvergeßlichen Eindrücken verHolsen, denn derBaldur" ist nicht nur Vergnllgungsschiff schlechthin, er ist eine Art schwimmendes Haus, ein Hotel, eine Jugendherberge. Man bleibt auf ihm in hübschen Kabinen die ganze Nacht und ist morgens frisch ausgeschlafen. Nun ist die Saison und der Sommer zu Ende undBaldur" geht in Winterquartier. So war das am Sonntag seine letzte Fahrt in diesem Jahr. Es sah früh morgens recht ungemütlich in Spandau aus. Nebel fern und nah, und bei seiner Ausfahrt warnte die Wasserpolizei. Ihr werdet nicht weit kommen. Bald bot sich am Spandauer Ge- münde ein seltsames Phänomen: Wasser, Himmel, Wald und Horizont verschwommen zu einem ungeheuren Urnebel, der wie ein uferloses Meer aussah. Gespensterhaft glitten Ruderer und Segler hin und her. Aber derBaldur' vertraute seinem siegreichen Nomen, fuhr gemächlich weiter und ließ in der Tat die Nebel über Spandau und der Heerstraße. Der noch immer sogenannte Kaiser-Wilhelm- Turm stand allerdings noch in etwas zittrigem Licht, aber am Großen Fenster war schon gute Sicht, Schwanwerder ließ die Dächer und Zinnen seiner Bankdirektoren-Millionärs-Villen gut erkennen. Der Waiinsee sah aus, als ob die Berliner ihr« gesamtes Stullen- papier hineingeworfen hätten. Das waren die Hunderte von Segeln, die bekümmert ohne Wind logen. Hinter Pfaueninsel wurde die Sicht ganz klar, und siegreich begann einer der schönsten Herbst- tage aufzustrahlen. Da rief der Gong zum Mittagesien: Kasseler Rippespeer mit Sauerkohl lecker und reichlich für eine Mark und 23 Pfennig. Als man sich erhob, war ringsum ein flammendes Bild von Gold und Blau und Grün. Hier draußen ist noch kaum ein Blatt gelb angekruftet. Mäntel flogen abwärts, Pullower köpf- wärts, denn es war eine liebenswürdige und anheimelnde Mittags- wärme da. Aber es ging noch weiter. Am stillsten Ufer der stillen Krampenitz schurrten die Anker zur Tiefe, ein bequemer Laufsteg verband Schiff mit Ufer, und alles lief in den Wald. Als nach zwei- stündiger Sonnenrast die Anker wieder in die Höhe stiegen und der Baldur" feine Heimfahrt antrat, da zeugten vier nasse Damenbade- trikots, die über der Reeling hingen, und kein nasses Herrentrikot, daß das schwächere Geschlecht das stärkere gewesen war und gebadet hatte. Heimwärts pflügte gemächlich das Schiff, und niemals sah man wohl in diesem Jahr mit so innigem Vergnügen hinter der Pfauen- insel die weite bergige Landschaft des Grunewalds sich entfächern als an diesem verwunschen schönen Herbsttag. Hastig und nervös trommetten die Motorboote vorüber, eilig fauchten die Dampfer. DerBaldur" hielt seinen Kurs weiter voller Ruhe. Denn die Männer, die ihn hinausbringen und die ihn lenken, haben in ihren Seelen den Wunsch, mit ihm Ruhe, Freude und wahre Erholung den unsteten Menschen der Großstadt zu bringen. Mit diesem Programm wird er im nächsten Jahr seine Fahrten wieder auf- nehmen._ Zum Falscheid getrieben. Die Schneiderin B. hatte sich zu verantworten, weil sie in ganz unverständlicher Weise vom Richter in der Hauptverhandlung vereidigt worden war. Man merkte es der Frau an, daß sie mit psychischen Defekten behaftet war. In diesem Sinne äußerte sich auch der psychologische Sachverständige. Die B. lag mit ihrer Hauswirtin in einem Zivilprozeß, von der sie wegen Nicht- bezahlung der Miete oerklagt worden war. Die Wirtin hatte nämlich das Mietsgeld aus irgend einem Grunde der B. zurückgesandt. Die B. erklärte nun vor Gericht, das Geld durch die Post nicht erhalten zu haben. Die Wirtin schob ihr den Eid darüber zu. Die B. weigerte sich, den Zeugeneid zu leisten. Der Richter bestand aber darauf, daß sie ihn leiste: auch die Wirtin provozierte sie dazu auf jede erdenkliche Weise. Die B., eine aufgeregte und zerfahrene Person, leistete ihn schließlich. Kaum war sie zu Hause angelangt und hatte ihrem Mann von der Gerichts- Verhandlung erzählt, so veranlaßte er sie, dem Richter schriftlich

mitzuteilen, daß sie von ihrem Eid zu ücktrete. Es war jedoch schon zu spät. Die Wirtin hatte bereits bei der Staats- anwaltschaft Anzeige wegen Meineides gemacht. Das Unerhörteste war und das mußte die W i r t i n in der Verhandlung zugeben, daß sie im Augenblick, wo sie der B. den Eid darüber zuschob, daß diese das Geld nicht empfangen habe, sie die Bescheinigung der P o st über den Empfang des Geldes durch die B. in Händen hatte. Der Staatsanwalt forderte ein Jahr Zuchthaus. Das Gericht erkannte wegen fahrlässigen Falscheides auf sechs Monate Gefängnis und gab der Angeklagten Bewährungsfrist. In der Urteilsbegründung erklärte das Gericht, daß die Angeklagte eigent- lich nur um eine Pferdelänge zu spät gekommen sei; denn hätte die Wirtin eine Stunde später ihre Anzeige gemacht, so wäre der§ 158 in Anwendung zu bringen gewesen, der bei Widerruf einer falschen Aussage Straflosigkeit vorsieht. Das Gericht fand aber kein Wort der Verurteilung für den Richter, der eine kranke Frau eine Tatsache beschwören ließ, die durch eine entsprechende Erkundigung bei der Polizei ohne- weiteres hätte festgestellt werden können. Es fand aber auch kein Wort der Rüge für eine Zeugin, die ihre Gegnerin geradezu in das Verderben hineingetrieben hat.

Der Revolchrrhelü von Hrünheiüe. Totschlag Wege» eines eingefrorenen Wasserrohrs. Vor dem Schwurgericht des Landgerichts III begann gestern der auf mehrere Tage berechnete Tosichlagsprozeß gegen den Fabri- kanten und Dillenbesstjer Franz Pautsch aus Grünheide , der des vollendeten und des versuchten Tosichlaas angeklagt ist. Die Blut- tat, der ein Menschenleben zum Opfer stel, während ein zweites schwer gefährdet wurde, erregte seinerzeit großes Ausiehen. Die Voruntersuchung hat sich jahrelang hingezogen und hatte eine wechselvolle Porgeschichte. Pautsch ist wiederholt von Gerichts- ärzten und in Irrenanstalten auf seinen Geisteszustanv untersucht worden. Er stand mit aller Welt in Feindschaft. Sein Hauspersonal wechselte ständig, und er erstattete gegen alle Welt Strafanzeige. Wegen seines gewalttätigen und streit- süchtigen Charakters war Pautsch allgemein gefürchtet. Kurz vor dem 19. Februar 1922, an welchem Tage die Revolver- attentate des Angeklagten verübt wurden, waren der Pförtner Georg Magnus und die Wirtschafterin Elise Wolter in der Villa von Pautsch in Grünheide neu in Dienst getreten. Wie alle Porgänger, hatte Magnus auch bald mit seinem' Dienstherrn schwere Differenzen. An jenem Tage war infolge Frostes das Wasserrohr geplatzt. Obwohl der Handwerker, der die Reparatur vornahm, Magnus von aller Schuld freisprach, machte Pautsch ihm die hefttgsten Vorwürfe. Es kam gegen Mittag zwischen Pautsch und Magnus in der Küche nochmals zu einer heftigen Auseinandersetzung. Pautsch zerrte den Portier in den Keller hinunter. Als die beiden zu lange wegblieben, ging die Wirtschafterin ihnen nach und hörte an der Kellertür, wie Magnus rief:Die Ohrfeige wird Ihnen teuer zu stehen kommen. Pautsch entgegnete:.Was willst du, frecher Lümmel." Die Wirt- schafterin sah in der geöffneten Kellertllr, wie Pautsch zugleich einen Revolver aus der Tasche zog und auf Magnus zwei Schüsse abgab. Magnus fiel zu Boden ohne noch einen Laut von sich zu geben. Auf den Aufschrei der Wolter drehte sich Pautsch zu ihr um und sie lief, von Schrecken gepackt, davon. Pautsch verfolgte sie und feuerte unter Schimpsworten auf die vor ihm Fliehende auch zwei weitere Schüsse ab. Die Wolter erhielt schwere Schuhoerletzungen, von denen sie erst nach längerem Siechtum genesen konnte. Wegen dieser beiden Taten hat sich nun Pautsch vor Gericht zu verantworten. In weit- schweifigen Ausführungen schilderte der Angeklagte, ein Mann im 32. Lebensjahre, die..schweren Verfolgungen", denen er angeblich sett Jahren seitens seiner Angestellten, der Hausgenossen und der Nachbarn ausgesetzt gewesen sei. Cr behauptete, daß Magnus ihn mit einem Hausschlüssel angegriffen hätte und daß er in der Not- wehr zur Schußwaffe gegriffen habe. Er hatte selbst auch eine Schußwunde im Unterarm und will zuerst angeschossen worden sein. Der Vorsitzende hielt ihm aber entgegen, daß Magnus keine Schuß- waffe besessen habe und daß aus der Pistole des Angeklagten fünf Patronen fehlten, so daß anzunehmen sei, daß er sich selbst nach- träglich, um Notwehr vorzutäuschen, den Schuß beigebracht habe. Nach den ärztlichen Gutachten ist Pautsch eine hypomanische Natur, ein Krakeeler, Zänker und Rechthaber und furchtbar boshaft. Trotz starker Minderwertigkeit wird Pautsch aber für seine Tat verantwortlich gehalten. Die einzige Augcnzeugin der Tötung des Pförtners Magnus, Frau Wolter, ist, wie schon

berichtet, von Pautsch ebenfalls angeschossen worden. Nach ihrer Angabe hat Pautschnicht inNotwehr gehandelt. Die beiden Männer standen sich im Keller Brust an Brust gegenüber. Magnus habe Pautsch nicht angegriffen, als dieser den Revolver zog und den Pförtner niederschoß. Auf Antrag des Verteidigers wurden eine Reihe von Zeugen vernommen, die gegen die Glaubwürdigkeit der Belastungszeugin auftraten. Von der Staatsanwaltschaft sind da- gegen zahlreiche Zeugen geladen worden, die Aussagen über den all- gemein gewalttätigen Charakter des Angeklagten machen sollen. Die Verhandlungen werden heute sortgesetzt werden. versuchter Gattenmorü. Tötungsversuch aus leidenschaftlicher Liebe. Einen Mordanschlag auf ihren Ehemann oerübte in der vorver- gangenen Nacht die 48 Jahre alte Ehefrau Klara Anders aus der Anzengruberstraße 11 zu Neukölln. Der Mann, ein 50 Jahre alter Magistratsinspektor, bezog während der Sommermonate mit seiner Frau eine Laub« an der Stubenrauchstraße. Dort wohnte und schlief das Paar auch. Am Sonntag morgen erwacht« der Mann, weil er Schüsse fallen hörte und sah seine Frau mit einem Revolver in der Hand an seinem Bett stehen. Ehe er sich noch ganz ermuntern konnte, feuerte sie noch zwei Schüsse auf ihn ab, die ihn in den Kopf und die P r u st trafen. Trotz der nicht ge- ringen Verletzungen raffte Anders sich auf, kleidete sich an und ging selbst nach dem Krankenhaus in Buckow . Die Kriminalpolizei nahm bald daraus die Täterin fest. Merkwürdig ist das Motiv, das sie für den Mordversuch, den sie nicht leugnet, angibt. Wie sie be- hauptet, hat sie den Mann aus leidenschaflicher Liebe töten wollen. Es wurde festgestellt, daß sie schon früher Mord- versuche an dem Manne gemacht hat. Sie versuchte damals, ihm mit seinem Rasiermesser die Kehle zu durchschneiden, doch erwachte der Mann rechtzeitig und trug nur leichte Schnittwunden an den Händen davon. Ein anderes Mal schoß sie auf ihn, doch versagte die Waffe. Di« Verhaftete hatte einen Äbschiedsbries hinterlassen, aus dem hervorgeht, daß sie ursprünglich die Absicht gehabt hat, sich auch selbst zu töten. Dazu hat ihr Mut wohl nicht mehr gereicht. Frau Anders wurde dem Untersuchungsrichter vorgeführt.

Die Sorge um die Jugenü. Der Bund entschiedener Schulreform er hat im Anschluß an seine Bundesversammlung in Berlin eine öffentliche Tagung zur Erörterung der vorbeugen- den oder heilenden Arbeit des I u g e n d h e l f c r s veranstaltet. In einleitenden Worten betonte der Vorsitzende Prof. Paul O e st r e i ch(Berlin ) die Wichtigkeit einer Aenderung der Jugenderziehung. Erringung wirtschaftlicher und politischer Macht setzt recht erzogene Menschen voraus. Ministerialrätin Dr. Gertrud B ä u m e r(Berlin ? forderte in ihrem grundlegenden Vortrag über die Ausbildung des Jugend- Helfers, daß neben der notwendigen Kenntnis des Formalen das schlichte Können eines menschlich Helfenden stebt und dies das Beherrschende ist. Es folgten Vorträge von Volkshochschuldirektor Dr. H o n i g s h e i m(Köln ? über die Iugendhilfe als soziologische Funftion(Iugendhilfe müsse aus dem Geist der Jugend- bcwegung geboren sein), von Stadtrat Walter Fricdlander (Berlin-Prenzlauer Berg ) über die erzieherischen Ausgaben des Jugendamtes(die es ohne Jugendhelfcr nicht erfüllen könne), von Berufsberater Z i e s l e r(Berlin ) über Berufsberatung als Lebens- Hilfe. Der zweite Tag brachte einen Vortrag von Prof. Dr. E- v. D ü ri n g(Frankfurt a. M.) über Psychopathie als Erziehung?- und Schulfolge. Der Redner vertrat den Standpunkt, daß nicht die Anlage eines Kindes schicksalbestimmend ist, daß vielmehr die U in g e b u n g, in der es aufwächst, den Ausschlag gibt. Im wesentlichen handelt es sich um S ch w e r e r z i c h b a r k c i t, die auf Erziehungsfehler von Haus und Schule und dadurch bc- wirkte ungünstige Entwicklung der Anlage zurückzuführen ist. Weiler sprachen Lehrcrkii Jäisa Rietz(Berlin ! über Schulhilfe an den Geistesschwachen, Stadtarzt Dr. B e j a ch(Berlin-Kreuzberg) über den Schularzt als vorbeugenden Jugendhelfer(Schulpolikliniken seien nötig). Die Mitarbeit der Berliner Polizei bei der Iugendhilfe schilderten Frl. D i t t nlVr, Leiterin der Wohlsahrtsstellc am Polizeipräsidium, und Frl. Wieling, Leiterin der Frauenhilss- stelle am Polizeipräsidium. Am dritten Tag wurde die heilende Tätigkeit des Jugendhelfers erörtert in Vorträgen über Jugend- gericht, Jugendgerichtshilfe, Fürsorgeerziehung. Die Tagung war gut besucht. Im Rahmen der Tagung fand unter sehr starker Beteiligung

Der Weg des blinden Bruno. 15] Roman von Oskar Baum . Sie lachte. Sie wußte eigentlich nicht recht, was für einen Scherz er damit meinte, aber es kam ihr schon das spaßig vor, daß in dieses Haus, in dieses Zimmer Schuler kommen könnten: vielleicht kleine Mädchen aus reichen Häusern in Begleitung ihrer Gouvernanten?! Es erscheint dir komisch, daß ich dich ernähren will? Glaubst wohl nicht, daß ich es könnte?" sagte er mit einer gewissen verständnisvollen Ueberlegenheit,sollte es mft den Stunden nicht gehen, kann ich ja stimmen, in Wirtshäusern, bei Tanzstunden aufspielen---" Oder im Kino, nicht?" Sie lachte. Ja, ja gewiß!" Er nickte eifrig. Also sei nicht so dumm und zieh' dich an," sagte sie ein wenig ungeduldig, als wäre alles andere ja auch nach seiner ernstlicheren Meinung Unsinn und Komödie. Und sie stülpte ihm den Hut aus. Na, nicht doch!" meinte er mit gelindem Vorwurf, fast beleidigt, und streifte den Hut wieder hinunter.Du hältst mich vielleicht für zu jung, die Tragweite solchen Schrittes zu verstehen. Ich weiß, was ich rede und du darfst nicht glauben, keineswegs, daß ich mein Leben für gering achte. Ich habe eine hohe, eher zu hohe Meinung von den Dingen, die mir vorbehalten sind. Warum sagst du nichts?" Wie?" fragte sie aus einiger Entfernung.Ich richte mir die Frisur." Und man hörte, daß sie den Kopf abgewendet hielt und sich angelegentlich beschäftigte. Etwas hielt sie zwischen den Zähnen.,. Nach einer kleinen Pause begann er wieder nachdenklich: Ist es nicht sonderbar, daß zwei Menschen, die nie von ein- ander wußten und ein grundverschiedenes Leben führten, plötzlich, kaum sie sich völlig ungesucht und ungewünscht trafen, sich unlösbar zusammengehörig, gleichsam aneinander- gewachsen fühlen?", Also ich bin fertig, sagte sie. Vielleicht hatte sie gar nicht zug.yört..,.. Ich kann von hier nicht fortgehen."Daß du das nicht fühlst!" wollte er sagen, aber es hätte zu bitter ge- klungen.Fühlst du nicht, daß es dich adelt?" hätte es ge- heißen, und er schämte sich dessen. Wie konnte man dieses gute Mädchen verachten? Eine süße zärtliche Lust, sich ihr

zu unterwerfen, durchdrang ihn: von ihr hochmütig behandelt, gescholten, getreten zu werden. Du, es ist neun vorbei. Wenn du noch vor Nacht zu Hause sein willst, mach' keine Geschichten!" Er schwieg. Es war ihm klar, daß sie eine Antwort ver- langte, daß es sie reizte, wenn er schwieg. Er senkte den Kopf und erwartete ihren Zorn... Ja, was denkst du dir denn eigentlich?" Sie wollte eben zum Tisch gehen, etwas holen, und blieb auf dem Wege stehen. Aber geh' doch!" schmeichelte er,tu' nicht, als ob es dich so sehr wunderte! Du willst es ja vielleicht auch, gibst es nur nicht zu! Glaubst du, daß es nicht klug ist?" Aber was denn, was denn?" schrie sie.Ich weiß nicht, was du willst?" Nun, einfach bei dir bleiben möcht' ich: ist denn das so schrecklich?" Sie stampfte auf:Jetzt ist's aber genug!" Sie weinte beinahe. In ihm zog es sich zusammen. Am liebsten hätte er sich vor sie hingeworfen und das Gesicht auf ihre Schuhe gelegt. Aber er war zu streng erzogen, nicht gewohnt, seinen Ein- gedungen zu folgen, auch wenn er von der ernsteren Bedeu- tung ihrer Gründe durchdrungen war. Ich geh' weg," sagte sie endlich kurz und bastelte auf ihrem Kopf herum wahrscheinlich setzte sie den Hut aus kannst dich dann hier meinetwegen im Sauern einmachen!" Geräuschvoll klappte sie die Klinke nieder, aber noch ohne zu öffnen. Finde ich dich hier, wenn ich zurückkomme, so rufe ich den Schutzmann." Sie würde sich hüten! Aber das konnte er ja nicht wissen, dachte sie. Sie sagte es auch nicht hauptsächlich als Drohung. Sie hoffte, seine wunderlichen Gefühle durch solche Schroffheit abzukühlen. Wie oft hatte sie sich gesehnt, daß einer ihrer Besucher mehr als vorübergehend Gefallen an ihr fände! Stand nicht öfters in den dünnen Heftchen, die ihr als Romanproben von Hausierern in die Tür gesteckt wurden, von so einer Liebe? Aber diese kindische Demut war nichts dergleichen. Es verwirrte sie das Fremde, Unverständliche seiner unterwürfigen Ergebenheit:Also ist geh'!" Plötzlich erhellte sich etwas blitzartig in seinen Gedanken. Sein Antrag schien ihr erniedrigend, eine Zumutung, und sie fürchtete vielleicht, er könnte sie überreden� zwingen, sich für ihre Weigerung rächen! Wie hatte er vergessen können, was ein Blinder galt?

Sein Gesicht veränderte sich seltsam: nur vorübergehend sammelte sich unnachsichtiger Spott um seinen Mund, dann warf er aufspringend den Mantel um und stand schon bei der Tür. Er sprach kein Wort, stieß selbst die Tür auf und ging davon, als sei sie nun nicht mehr da. Er schritt in dem fremden Korridor mit wilder, verzweifelter Hast entlang der Mauer achtlos vorwärts. Jetzt kam er schon ganz nahe der Treppe. Unrettbar mußte er hinabstürzen. Sie eilte ihm nach. Sie sah ihn schon unten liegen! Eben sanken die Füße, die den erwarteten Grund nicht fühlten, und er griff entsetzt mit den Armen um sich sie faßte ihn, hielt ihn. Aber er zuckte zusammen, schüttelte sie schaudernd ab. Zusammengekauert lehnte er am Geländer und kühlte das heiße Gesicht an der Wand. Warum hast du dann aber gerade mich auf der Straße aufgelesen, wenn du es so mit mir meinst? Sag es m'r! Warum? Ich geh' dann gleich! Gleich geh' ich, wirklich!" Wie krank liegt er da, redet in die Mauer hinein, als fürchte er, dabei angesehen zu werden, dachte sie. Armes Kerlchen! Und sie wunderte sich über ihren Aerger vorhin. Wenn ich heiraten wollte, würde ich nur dich heiraten." sagte sie schnell.Du siehst meinem ersten Liebsten ähnlich, dem Grafen. Darum Hab' ich dich mitgenommen. Das war kein schlechter Mensch: der hat mich lieb gehabt! Er wollte mich heiraten. Ja, meiner Scel! Und er hat sich erschossen, weil seine Eltern es nicht erlaubt haben." Bruno hob das Gesucht, richtete sich auf und ging lang- sam mit ihr die Treppe hinunter. Sie sprach sehr angelegent- lich, wurde gar nicht leiser, auch als sie schon auf der Straße waren. Er horchte mit gesenktem Kopf, staunend und begierig. Nicht, daß er alles geglaubt hätte, obgleich er es auch nicht eben für reine Erfindung hielt. Er fühlte nur, wie sie alles aufbot, um ihn nicht auf den Gedanken kommen zu lassen, es könnte sein Gebrechen der Grund sein, weshalb er nicht bei ihr bleiben konnte. ... und da Hab' ich geschworen, nie, nie, was auch käme, zu heiraten. Na ja, du kannst dir denken, daß einen so was aufregen kann!" Und sie sprach, von seiner gerührten Aufmerksamkeit mit- gezogen, immer eifriger, erregter. (Fortsetzung folgt.)