Abendausgabe
Nr. 471 43. Jahrgang Ausgabe B Nr. 233
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10 Pfennig
Mittwoch
6. Oktober 1926
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Zentralorgan der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands
Grzesinski Nachfolger Severings.
Der neue preußische Minister des Innern.
Sozialistische Kulturaufgabe.
Nachwort zur sozialistischen Kulturtagung. Es liegt im Zuge dieser Zeit, die alle Dinge und Erfenntnisse zerlegt und auflöst, daß auch die sozialistische Befonderen Interessengebieten aufgeteilt wird. Mit der wachsenden Zahl der Mitglieder in den Organisationen wächst auch die Vielgestaltigkeit der Interessengebiete, die sie umschließt, wächst auch der Aufgabenkreis, den die Organisation zu erfüllen hat.
Der preußische Ministerpräsident Otto Braun ernannte heute| waltung und für die Festigung der Staatsautorität mit unbewegung spezialisiert, zergliedert und in eine Reihe von be= vormittag entsprechend dem Vorschlag des fozialdemokratischen Frattionsvorstands, dem fich die sozialdemokratische Landtagsfraktion anschloß, den bisherigen Berliner Polizeipräsidenten Grzesinski zum preußischen Minister des Innern.
Der amtliche Preußische Pressedienst meldet:
irrbarer Zielflarheit in zähem, ausdauerndem Ringen unter Einfegung Ihrer ganzen Person geleistet haben, gehört der Geschichte an. Namens der Staatsregierung spreche ich Ihnen für diese dem Baterlande in schwerster Zeit geleisteten unschätzbaren Dienste herzlichen Dank aus. Ich wünsche und hoffe, daß einige Zeit der wohlverdienten Ruhe Ihnen Ihre Gesundheit wiedergeben wird, und daß Sie dann sich wieder in alter physischer und geistiger Frische Der Minister des Innern Severing hat den Preußischen dem Dienste am Volte werden widmen können. Ministerpräsidenten gebeten, ihn mit Rücksicht auf seine erschütterte In alter Hochachtung Gesundheit von seinem Amte zu entbinden. Ministerpräsident Braun hat sich den vom Minister des Innern vorgebrachten Gründen nicht verschließen fönnen und hat an feiner Stelle den Polizeipräsidenten von Berlin Grzesinsti, Mitglied des Landtags, 3 um Staatsminister und Minister des Innern
ernannt.
Dankschreiben des Ministerpräsidenten.
Auf das Rücktrittsgesuch, in dem Minister Severing die Gründe darlegte, aus denen heraus er um Enthebung aus seinem Amte bat, hat Ministerpräsident Braun namens des Staats minifteriums mit folgendem Schreiben geantwortet:
Mein sehr verehrter Herr Minister!
mit tiefem Bedauern habe ich von Ihrer Mitteilung Kenntnis genommen, daß Ihre schwer erschütterte Gesundheit Sie zwingt, Ihr Amt niederzulegen, das Sie 6 Jahre hindurch mit vorbild licher Gewissenhaftigkeit unter Einfegung Ihres ganzen reichen Wissens und Könnens erfolgreich geführt haben. Was Sie in dieser bewegten Zeit für die innere Befriedigung Preußens und damit auch des Reiches, für den Auf- und Ausbau der neuzeitlichen Ver.
Ihr gez. Braun.
Der Lebenslauf des neuen Innenministers. Genosse Albert Grzesinski stammt aus Pommern . In Treptow a. d. Tollense ist er am 28. Juli 1879 geboren, wurde bald Berliner , besuchte in Spandau die Schule, lernte in Berlin 1893 bis 1897 Metalldrücker, ging auf die Wanderschaft, arbeitete bis 1906 in Leipzig , Frankfurt a. M. und Offenbach . Dort wurde er seßhaft, wurde 1906 Geschäftsführer im Deutschen Metallarbeiter verband zu Offenbach , bald danach, November 1907, zu Raffel. Dort nahm er am kommunalen Leben tätig teil und wurde schließlich Stadtverordnetenvorsteher. Außerdem Vorsitzender des Gewerkschaftsfartells Kassel, seit 1913, wurde er nach dem Zusammenbruch Vorsitzender des Arbeiter und Seldatenrats für den Regierungsbezirt Kassel und nahm an den beiden Zentralräten der deutschen Republik teil. Seit Juni 1919 war er Unterstaatsfefretär im preußischen Kriegsministerium. Noske machte ihn bald darauf zum Reichs fommissar und Leiter des Abwicklungsamts. 1921 fam er in den Landtag. November 1922 wurde er Oberregierungsrat im preußischen Innenministerium. Von dort entsandte ihn im Mai 1925 Severing an die Spitze der Berliner Polizei.
Zeugenvernehmung vor dem Reichstagsuntersuchungsausschuß in München .
München , 6. Oftober.( Eigener Drahtbericht.) In der heutigen Bormittagssigung des Femequsschusses waren als Zeugen geladen: Rechtsanwalt Gà demann, Dr. Kern, Kriebel und Efche rich. Von Gademann war aber eine schriftliche Erklärung ein gelaufen, daß er aus dringenden beruflichen Gründen nach London verreisen mußte. Er verwies in diesem Schreiben auch auf seine früheren Erklärungen, die er in der ganzen Angelegenheit vor dem Untersuchungsrichter abgegeben hatte, und erklärte, daß er auf Grund des§ 52 der St.- Pr.- Ordnung jede weitere Aussage verweigere.
Er begründet das damit, daß er der Verteidiger Brauns und Beurers sei, und brachte für diese Behauptung auch die schriftlichen Belege bei. Seine Abwesenheit von München dauert ungefähr eine Woche.
Hierauf wurde Dr. Kern als Zeuge vernommen, der einer der ersten Gründer der Einwohnerwehr ist und zu dem engsten Mitarbeiterstab des Oberforstrats Escherich gehört. Er arbeitete mit diesem bereits im Jahre 1919 zusammen, als die Einwohnerwehren im Entstehen begriffen waren. Nachdem die Gründung erfolgt war, wurde er der Leiter der Wirtschaftsabteilung der Einwohnerwehr und behielt diesen Posten bis Dezember 1920. Er behauptet, seine Aufgaben feien lediglich kaufmännischer Natur gewesen und außerdem habe er sich mit der Personalabteilung zu befassen gehabt. Nach seinem Ausscheiden aus der Landesleitung der Einwohnerwehr sei der Oberleutnant Braun, der früher nur als Hilfskraft angestellt gewesen sei, zum Leiter der Wirt schaftsabteilung ernannt worden. Braun habe dann später, als durch gesetzliche Bestimmungen ein Enfwaffnungstommiffar aufgestellt war, das Einsammeln der Waffen innerhalb der Einwohnerwehr füdlich der Donau übernommen.
Ueber die engeren Mitarbeiter Brauns, denen be= kanntlich verschiedene Mordtaten zur Last gelegt werden, weiß er nichts Näheres anzugeben. Er behauptet, diese Leute in der Hauptfache nur vom Sehen gefannt zu haben. Mehr bekannt war er mit Beurer, der Gauleiter der Einwohnerwehr von Zus marshausen war und der bekanntlich im Fall Hartung im schwersten belastet ist. Der Zeuge erklärt auf verschiedene Borhaltungen, daß über Waffenangelegenheiten in der Einwohnerwehrlettung so gut wie nicht gesprochen worden sei. Und zwar habe man fich in dieser Richtung ftillschweigend an Abmachungen gehalten, über solche Dinge nicht zu reden. Es trifft allerdings zu, daß der Berrat von Waffenlagern sich in jener Zeit außeror dentlich häufte, von der Einwohnerwehrleitung sehr schart
verurteilt wurde
und daß auch von ihm Ausdrüde gebraucht wurden wie:„ Solche Verräter gehören umgebracht."
Aber von solchen Redensarten bis zur Tat sei ja immer noch ein weiter Schritt. Ueber das Berhältnis zwischen der Polizei direktion und der Landesleitung der Einwohner mehr behauptet der Zeuge, daß dies Verhältnis stets ein sehr freundschaftliches gewesen sei. Bei Einstellungen in der Landesleitung der Einwohnerwehr gab die Polizeidirektion bereitwilligst Auskunft über die Personalien der einzelnen Leute. Hierauf erfolgt die Bernehmung des Oberforstrats Escherich,
des Leiters und Gründers der Einwohnerwehr und der Organisation Escherich. Er erklärte im Zusammenhang, daß der Grundsat der Einwohnerwehr ein rein antibolichemistischer gewesen sei, um Ruhe und Ordnung zur Zusammenarbeit mit der legalen Regierung herzustellen. Die Einwohnerwehr habe niemals mit Fememorden etwas zu tun gehabt und sei grundsätzlich auf dem Standpunkt gestanden, niemals etwas ungeseßlich es
zu tun.
Meine persönliche Anschauung, erklärt Escherich, war, daß, wenn junge Leute Taten vollbracht haben, deren sie heute beschuldigt werden, sie dies im Grunde nur taten, um dem Vaterland aus nationalen Gründen zu helfen.
Eingehend wurde dann Escherich gefragt, ob der Rechts anwalt Gademann in der Rechtsabteilung der Einwohnerwehr angestellt war.
Dabei teilte Escherich mit, daß Gademann auf Befehl Kriebels eines schönen Tages, und zwar am 14. März 1921, bei einer Besprechung mit der bayerischen Regierung von ihm seinen Kraftwagen verlangt habe mit der Begründung, daß er rasch im Interesse der Einwohnerwehr nach Augsburg fahren müsse. Ohne weitere Auskunft zu verlangen, stellte er, wie das so üblich war, der Landesleitung seinen Wagen zur Verfügung.
Die sozialistische Arbeiterbewegung ist seit ihrem Bestande etwas wesentlich anderes, als nur eine Lohnbewegung, wie die Gegner sie vielfach aufzufassen suchten. Sie umfaßte alle Interessenkreise der Arbeiterschaft. Sie war eine im tiefften Kern religiöse Bewegung, der die materialistische Geschichtsauffassung zwar größere Klarheit und tieferes Verständnis für die geschichtlichen und sozialen Zusammenhänge vermittelte, die aber ohne die begeisterte und innerliche Hingabe ihrer Anhänger kaum eine so weltumspannende Bedeutung hätte gewinnen können, wie sie tatsächlich erlangt hat.
Aber in ihren Anfängen und den ersten Jahrzehnten ihres Wirkens fnüpfte diese Bewegung an verhältnismäßig einfache Verhältnisse an. Es galt zunächst die Arbeiter zur Erfenntnis ihrer Klassenlage zu bringen und ihren Willen zum Kampf für eine Aenderung dieser Lage zu wecken. Da gab es politisch- agitatorische und wirtschaftlicze Aufgaben in Hülle und Fülle. Die Agitation für das gleiche Wahlrecht ist eine der ersten Taten der jungen Bewegung, die Lassalle ins Leben rief, der Kampf gegen reaktionäre Kleinsaaterei, für ein innerlich freies Großdeutschland mit internationalen Beziehungen eine nicht minder wichtige der Eisenacher Richtung. Und wenn beide Arme des sozialistischen Stromes gleichzeitig wirtschaftliche Organisatio= nen( Gewerkschaften) erzeugten, so war das kein Zufall, es entsprang vielmehr der inneren Notwendigkeit, die ganze Bewegung vom Politisch- Abstrakten auf die wirtschaftliche und damit kulturelle Hebung der Arbeiterklasse hinzuleiten. Es war ohne weiteres flar, daß die unterdrückte, politisch unfreie, sozial mißachtete Arbeiterschaft zu einem Machtfaktor nur werden konnte, wenn sie wirtschaftlich gehoben und damit auch fulturell vorwärts entwickelt wurde. Ohne diese Unterscheidungen immer auszusprechen, ohne sie oft auch nur im Bewußtsein ausreifen zu lassen, hat doch die Sozialdemofratie in Gemeinschaft mit den Gewerkschaften eine der fruchtbarsten Kulturarbeiten verrichtet, die je die Geschichte sah. Die soziale und kulturelle Stellung der Arbeiterschaft als Klasse ist heute himmelweit von jener verschieden, die sie etwa zur Zeit Lassalles inne hatte, gerade infolge des Wirkens der Sozialdemokratie, die den Arbeitern in steigendem Maße Selbstvertrauen und Selbstbewußtsein einflößte und sie dadurch reif machte, auch als Klasse einen besonderen Typus zu verförpern.
Wenn jetzt in einem stillen Thüringer Städtchen eine besondere sozialistische Kulturtagung um Formulierungen und Begriffsbestimmungen rang, die die Verbindung der sozialistischen Gesamtbewegung mit den kulturellen Erscheinungen der Jeztzeit herzustellen in der Lage sind, so stellt sich das dar als eine Erscheinung aus der geistigen, zirtschaftlichen und politischen Umwälzungsperiode, die wir miterleben. Alle Umwelt scheint sich umzuformen. Nicht nur politische Grenzen und Begriffe werden gesprengt, nicht nur überkommene Wirtschaftsformen gehen in neue, große anders geartete Gestaltungen auf- Wissenschaft und Technik bringen fast täglich Neuerscheinungen hervor, deren fernwirkende Kraft oft nur schwer zu überblicken ist.
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In solcher Uebergangszeit von einem Alten zu werdendem Neuen steht auch die Arbeit der Sozialdemokratie. Ein längeres Fragespiel ergab sich aus der Tatsache, daß Politisch sind ihr der Tatsache, daß Politisch sind ihr nicht nur in Deutschland völlig neue Escherich dem Kriebel Schweigepflicht auferlegt hat. Kriebel Aufgaben gestellt. Wirtschaftlich ringen die Arbeiterorganihat nämlich in einem Schreiben an den Ausschuß erklärt, daß er fationen um vermehrten Einfluß im Gesamtprozeß der Prosich an diese Schweigepflicht gebunden erachte und daß er demzufolge duktion und des Güterverbrauchs. Kein Wunder also, daß die Aussage verweigern werde. Der Zeuge Escherich auch die kulturellen Aufgaben sich schärfer herauswurde auf die Unmöglichkeit dieser Schweigepflicht hingewiesen, schälen, nach neuer und vermehrter Geltung drängen. Es worauf er dann erklärte: Ich entbinde kriebel von diesem Still- zeigt sich, daß die Erweiterung unserer Reihen nach der Seite der geistigen Arbeiter eine flarere Herausarbeitung der kulturpolitischen Zielsetzungen notwendig macht.
schweigen nur dann, wenn kriebel selbst es will.
Als Begründung dieser Auffassung stellte sich Escherich auf den Standpunkt, daß es besser sei, das Rechtsbcmußtsein des Boltes zu schädigen, als daß vaterländische Interessen geschädigt werden.
Folgen der Affäre von Münsingen .
In den Mittagsstunden wird in politischen Kreisen die Nachricht verbreitet, daß General von Seedt wegen der Angelegenheit des Kronprinzensohnes im Lager von Münsingen zurückfreten wolle.
Diesem Zwecke sollte die Tagung des Sozialistischen Kulturbundes, der Dachorganisation sämtlicher an der Arbeiterkultur in sozialistischem Sinne wirkenden Verbände, dienen. Das Vortrags- und Diskussionsprogramm umfaßte das ganze weite Gebiet des Verhältnisses zwischen Sozialismus und Kultur. Die Teilung des Hauptthemas in Untergruppen follte die Uebersichtlichkeit erleichtern und die Beprechung tonzentrieren. Diese naheliegende Absicht wurde in der Ausführung jedoch zum Leidwesen vieler Teilnehmer gestört durch die Häufung der Fragen, die eine überhaftete und deshalb nicht voll befriedigende Aussprache zur Folge hatte.
Der Sozialismus als Weltanschauung bricht mit unendlich vielen Ueberlieferungen. In seiner Willensrichtung liegt die foziale Gemeinschaft mit so zi al empfinden den und für die Gemeinschaft wirkenden Menschen. Das bedeutet einen schroffen Gegensatz zu der indigrund rückenden Betrachtungswelt des Liberalismus und dem Autoritätsprinzip der konservativen Welt. Geht man an die Entwicklung eines sozialistischen Kulturprogramms, so öffnen sich immer weitere Blicke und von immer neuen Punkten aus läßt sich vorstoßen, um Ge
Auf unsere Anfrage beim Reichswehrministerium, warum mit der Erledigung der Münsinger Affäre gewartet werde, bis der Reichspräsident vom Urlaub zurückgekehrt sei, während die An- vidualistischen, die Persönlichkeit in den Vordergelegenheit doch in die Zuständigkeit des Reichswehrministers falle, wird uns erwidert, daß das Reichswehrministerium zwar fachlich zuständig sei, daß es aber Angelegenheiten gäbe, die über die Kompetenz eines Refforts hinausreichen, im übrigen sei die Angelegenheit durch die Ereignisse überholt,