Mittwoch
3. November 1926
Unterhaltung und Wissen
Eine Kleinigkeit zu Tabak.
Von M. Weiß.
Wenn Dr. Frei vom Mittagessen fam, den Promenadenweg, der sich rüsternbeschattet an den Billengärten entlang 30g, traf er meistens den Alten. Vielleicht war der noch gar nicht alt; so etwa fünfzig. Wahrscheinlich hatten Not und Entbehrung, wohl auch Krankheit, das Geficht früh welt gemacht: die bleichen Züge mit den ernsten Augen sprachen von Leid und Schmerzen. Stets trug der Alte denselben langen, dunkeln Rod von militärischem Schnitt; auch die Haltung des Mannes hatte etwas Militärisches. Unwillkürlich tauchte in Frei eine Heidelberger Erinnerung auf: die Gestalt eines alten, pensionierten Wachtmeisters, der sich so hartnäckig Herr Rittmeister titulieren ließ, bis er selber an diese Charge glaubte. Er fand zwischen dem alten Bekannten und dem neuen bekannten Unbefannten Aehnlichkeit, nur daß diesem der Stich ins bramarbafierend Geckenhafte völlig fehlte.
Eines Tages, durch das häufige Sehen zutraulich geworden, grüßte der Alte Frei mit militärischem Gruß. Als dieser dankte, murde der Mann fühner und schwang sich zu einer Anrede auf:„ Wir find mehrere, die damals bei dem Unglück zu Schaden tamen und bekommen Invalidenrente; es langt nicht weit, eine Meinigkeit zu Tabak fehlt."
,, Da läßt sich wohl nachhelfen," lächelte Frei, dem die zwanglose und doch nicht aufdringliche Art gefiel und drückte ihm ein Fünfzigpfennigstück in die Hand. Das gefiel dem Alten offenbar auch; nun grüßte er regelmäßig, und auch die Kleinigkeit zu Tabat" fehlte ziemlich regelmäßig, so daß Frei in seiner Dotation allmählich zum Nickel herunterfam. Uebrigens blieb der Unbekannte immer höflich und immer ernst.
Eines Tages erhielt das Verhältnis einen Sprung. Es war für Frei ein schwarzer Tag, voll Berufsärger, Berdruß und Grimmlaune. Der Alte hatte sich über den Gesichtsbarometerstand seines Gönners wohl nicht orientiert. Als er Frei wieder anging, empfand dieser die Sache als gewöhnlichen Bettel und schnauzte ziemlich unwirsch: So was darf doch nicht zur Institution werden. Sie erheben das ja geradezu wie eine Steuer."
Seitdem war der Unbekannte verschwunden; er war offenbar schwer gefränft und vermied die Promenade.
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Anfangs war Frei befriedigt. Bald aber tat's ihm leid, das, wie es schien, empfindliche Ehrgefühl des alten Smöfers verlegt zu haben. Er hätte gern wieder einen kleinen Tribut gezollt. Doch der hatte sich offenbar, zu Freis Beschämung eine andere Promenade gesucht und blieb verschollen. Etwa ein Jahr war vergangen, und Frei hatte ihn nicht wieder zu Gesicht bekommen. Eines Morgens erhielt er eine Bestellung zu einem eiligen Fall. Die Wohnung des Patienten lag im Hinter haus einer an sich schon ziemlich engen, düsteren Straße. An der Tür eines Parterrezimmers las Frei den angegebenen, ihm unbe
fannten Namen.
Er flopste zweimal und öffnete, als niemand antwortete. Er beirat ein ödes, fahles und niedriges Gemach mit ärmlichstem Haus rat. Ein alter Holztisch, zwischen deffen Brettern Lüden flafften, ein alter, roter Holztoffer, wie ihn Dienstmädchen wohl haben; zwei alte Stühle mit Strohsiz, ein altes, großes, braungestrichenes Bett mit rotbunten Bezügen, unter denen der Strohjad vorguckte. Im Bett aber liegt ein stiller Mann; das Gesicht ist spitz, wächsernblaß: es gehört einem Toten. Auf den ersten Blick hat Frei ihn erfannt: der Invalide ist's, dem er seine letzte Bitte verweigert hat.
Stumm starrt der Arzt in die vom Ernst der Ewigkeit geprägten Züge, die nun feine Freude mehr erhellen, kein Schmerz mehr verdüstern wird.
Er fährt herum: die Tür ist gegangen. Eine alte Frau in Rattunkleid und blauer Schürze steht da, die Hände reibenb. Dann strömt wichtig ihre Beredsamkeit:„ So, so, der Herr Doktor? Na ja, nu is er schon dot. Ihm war gestern schon nich recht. Ich wollt schon schicken, aber er hat gemeint: noch nich, wenn ihm über Nacht nich besser wird, dann sollt ich Ihnen morgens holen. Und heut hör ich gar nichts. Er wohnt doch bei mir schon drei Jahr, seit dem Unfall, und ich flopf ein paar Male: Herr Fischer, stehn se heut nich auf, wie is' Ihn' denn? Wie ich nichts hör', mach ich auf. Liegt er und rührt sich nicht. Mein Gott, dent ich, is' er dot? Geh ran: mirklich, er is dot. Wenn das man nicht n' Herzschlag gewesen is!" Hat er mich getannt oder nicht, sinnt Frei. Hat er nach mir schicken wollen, ohne mich zu kennen, weil es hetßt, ich hätte ein Herz für die Armen? Oder wollte er feurige Kohlen auf mein Haupt sammeln?
In der talten Sachlichkeit des Berufs nimmt der Arzt die Leichenschau vor. Wie er aufblidt, sieht er überm Bett an der kahlen, grauen Wasserfarbenwand eine turze Weichselrohrpfeife hängen. Es gibt ihm einen schmerzlichen Stich. Die war der letzte Freund des Armen! Und auch sie wurde kalt. Vielleicht hat er seine letzten Tage in seinem öden Stall von Zimmer gesessen und den leeren Pfeifentopf angeftarrt und den Menschen geflucht, die ihm nicht mal einen Groschen zu Tabak spenden, dem Tröster finstrer Einsamkeit. Und dieser Fluch galt auch dir.
Aeußerlich still, ruhig, ernst, im Innern feinlaut, traurig und beschämt verläßt Frei das öde Sterbezimmer. Er hat das Gefühl, eine unfühnbare Schulb sich aufgeladen zu haben.
Die Geschäftsmoral der bürgerlichen Presse.
In den Jahren 1870/71 hallte die Welt von den fanatischsten Bannflüchen der Bourgeoisie gegen die Internationale wider. In dieser Zeit war ein Artikel von Karl Marr, der als der verwegene und gewiffenlose Brandstifter des Kommuneaufstandes überall ause geschrien wurde, eine Sensation für ein bürgerliches Blatt. Also fetzte sich der betriebsame Paul Lindau hin und schrieb diesen Geschäftsbrief an Karl Marg: ,, Die Gegenwart"
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Redaktion.
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Berehrtester Herr. Meine Schwester Anna teilt mir mit, baß Sie sich bereit erflärt haben, mir für die Gegenwart" einen Auffaß zu schreiben. Lassen Sie es nicht nur bei dem prten Worte bewenden. Es würde mich außerordentlich freuen und würde mir von voraussicht lich erheblichem Borteil sein, wenn ich gerabe jetzt in dem wichtigen Stadium des Quartalswechsels einen Aufsatz von Ihnen veröffent lichen könnte. Von der ersten Nummer des zweiten Quartals wollen wir wieder 50 000 Probenummern in die Welt schicken, und es ist mir natürlich daran gelegen, gerade in dieser Nummer die Elite
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Beilage des Vorwärts
Nur nicht drängeln!
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Hergt( in Liegnik):„ Wir Deutschnationalen drängen uns zu positiver Mitarbeit im Staat."
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truppe aufmarschieren zu laffen. Könnten Sie mir bis zum 28. März einen Aufsatz schicken? Er braucht ja nicht umfangreich zu sein. Sie würden mir, wie gesagt, einen Dienst ermeisen. Sch werde mir erlauben, Ihnen die bisher erschienenen Nummern der Gegenwart" zuzusenden. Sie werden mit vielem nicht ein verstanden sein ein Blatt nach Ihrem Herzenswunsch wäre in Deutschland wohl schwerlich aufzutreiben, aber Sie werden sich hoffentlich überzeugen, daß ich teine bornierte Rechthaberei fultiviere, ben Mitarbeitern die volle Freiheit laffe, und daß ich Sie bitte, an einer literarisch anständigen Gesellschaft teilzunehmen. Die Gegenwart" hat hier in Deutschland einen Erfolg errungen, der in der norddeutschen Presse, so viel ich weiß, noch nicht dagewesen ist. Die boktrinär- langweiligen Zeitschriften in Leipzig und Stutt gart haben wir längst hinter uns. Ihre Mitarbeiterschaft würde dem Blatte um so förderlicher sein, als Sie ein seltener Gast der deutschen Publizistik geworden sind. Die Wahl des Stoffes über laffe ich gänzlich Ihrer Bestimmung. Seien Sie im Voraus für Ihre Freundlichkeit bestens bedankt und gestatten Sie mir, Ihnen die Bersicherung meiner aufrichtigsten Hochachtung auszusprechen. Ich ersuche meine Schwester, meine Bitte noch besonders zu befürworten.
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Ihr ergebener
Marx durchschaute sofort, daß der gefchäftstüchtige Lindau Kapital aus seiner gutmütigen Busage schlagen wollte. Lindau suchte Marr gleichsam für die Schaufensterdekoration der Zeitschrift Die Gegenwart" zu mißbrauchen. Da fam er bei Marr übel an. Marg sandte dem Reflametrompeter Lindau feinen Artikel. Da verfiel der bürgerliche Held der Feder auf den kniff, dem großen Revolutionär den Raum der„ Gegenwart" für einen Artikel über die Internationale zu öffnen, an deren Berteidigung wohl Marg damals ein starkes sachliches und persönliches Intereffe hatte. Lindau unterzeichnete nämlich folgenden von ihm diftierten Brief, der sich im Archiv der Sozialdemokratischen Partei befindet: Berlin , Luisenstraße 37 ,, Die Gegenwart" 8. Mai 1872.
Redaktion.
Berehrtester Herr.
Ich komme auf meine früher ausgesprochene Bitte noch einmal zurüd. Bu besonderem Dante würden Sie mich verpflichten, wenn Sie mir einen Artikel über die Internationale schicken wollten. Es find darüber so viele widersprechende Ansichten verbreitet, daß eine Aufklärung darüber aus Ihrer, der kompetentesten, Feder gewiß höchst erwünscht sein würde. In Nummer 17 der Gegenwart" wird ein Auffah des Advokaten Freytag( Plauen ) über das Berhalten des Präsidenten in dem Bebel- Liebknechtschen Prozesse verMit hochachtungsvollem Gruß
mutlich Ihr Interesse erregen.
Ihr sehr ergebener
Was Marg der Welt über die Internationale zu sagen hatte, das verkündete er nicht in einer für den bürgerlichen Geschmac zurechtgemachten Zeitschrift. Das sprach er in den glänzenden Manifesten der Internationale aus. Lindau mauschelte", wie sich Arnold Ruge berb ausdrücie, in der Gegenwart" alle Berühmt heiten ohne jeden Unterschied der Richtung zusammen". B. K.
Gewohnheitstiere.
Von Erna Büsing.
" Der Mensch ist ein Gewohnheitstier," sagt man so oft, ohne über die Bedeutung dieser Worte nachzudenken und oft auch, ohne zu wissen, daß Tiere zur Eingewöhnung recht viel Talent haben. Darum soll hier einmal in willkürlicher Folge von„ Gewohnheitstieren" die Rede sein.
So halten ein Buffard und eine Ringeltaube im Berliner Soologischen Garten gute Freundschaft miteinander. Der Bussard unterbrüdt feinen Appetit auf Taubenbraten, und die Taube ist ihres Lebens sicher, fie verspürt feine Furcht vor dem Raubvogel. Prof. Dr. Hed erklärt dieses Berhältnis wie folgt:„ Das made die Ge wohnheit," beide Bögel find zusammen aufgezogen, und das Tier ist wirklich, das zeigt sich bei jeber Gelegenheit, ein Gewohnheits fier". Um ein anderes Beispiel anzuführen, feien Schleiereulen auf genannt, die man des öfteren auf Taubenschlägen findet. Sie leben, nach den Beobachtungen von Brof. Dr. D. Schmeil, mit beren recht mäßigen Bewohnern in ftetem Frieden
Manche Tiere müssen, durch fortschreitende Nuzbarmachung allen Grund und Bodens gezwungen, fich an vollkommen andere Berhältnisse gewöhnen, sich eben anpassen, wenn sie ihre Art erhalten
wollen. Ein Schulbeispiel hierfür liefert die Amfel. Sie ist ein ursprünglicher Waldbewohner, befindet sich aber jetzt in Gärten und Parks wohl. Ja, dieser zur Familie der Drosseln gehörige Bogel hat sich sogar an die Großstadt gewöhnt. Auch paßt die Honigbiene fich gut an. Der Mensch hat ihren Nuzen voll erkannt, und als Bienenzüchter hat er sie in allen Erdteilen heimisch gemacht. Sie bewahrte ihre volle Selbständigkeit, während der Seidenspinner sie unter der übersorgsamen menschlichen Pflege stark einbüßte. So find seine Raupen nicht mehr fähig, allein ihr Futter zu finden. Freilich züchtet man diefen Schmetterling in China seit Tausenden und in Südeuropa seit Hunderten von Jahren.
Eine Hundemutter gewöhnt sich, wenn sie die Kleinen annimmt, meistens schnell an junge Raubtiere und zieht sie gewissenhaft größ. Sie hat offensichtlich ihre Freude an der kräftigen Entwicklung der Jungen und ist mit ihnen fröhlich im munteren Spiel. Mas die Gewohnheit vermag, sieht man an der afrikanischen Kuh, die sich im Gegensatz zu der europäischen erft melten läßt, wenn das Kälbchen vorweg getrunken hat.
Daß eine Aneinandergewöhnung bei Tieren zu treuer Freund schaft führen kann, geht u. a. aus einer Erzählung in Sven Hedins „ Bon Pol zu Bol" hervor. Der Forschungsreisende berichtet von cinem Grisinbären, der, jung eingefangen, während der Ueberfahrt auf dem Schiff mit einer Antilope Freundschaft schloß. In den Straßen einer Stadt wurde die Antilope von einer Bulldogge an gefallen. Der Bär, der gleich seiner Freundin durch die Straßen geführt wurde, riß sich von seinem Führer los, stürzte sich auf die Bulldogge und richtete sie übel zu. Und Dr. Th. Knottnerus- mener haite im Zoologischen Garten in Rom einen Bären Teetchen, die Bejagung eines deutschen Dampfers, die ihn als Jungtier überbrachte, hatte ihm diesen Namen verliehen - der mit Affen, Mangaben und Dachsen allerbeste Freundschaft hielt.
Trauerbäume. Bäume mit hängetriebigen Westen, die schlaff und matt zur Erde herabhängen, bezeichnet man als Trauerbäume, und derartige Bäume werden den verstorbenen Angehörigen auch mit Borliebe auf das Grab gepflanzt. Der am meisten in die Augen fallende Trauerbaum ist die Trauerweide, die den wissenschaftlichen Namen Salix babylonia führt. Dieser Name darf jedoch nicht dazu verführen, anzunehmen, daß unsere Trauerweide aus Baby lonien stamme. Ihre Heimat ist Ostasien . Bon dort aus fam fie taum vor dem Anfang des 18. Jahrhunderts nach Westasien. Erst von dort aus wurde sie nach Europa eingeführt. Die biblische Trauerweide fann daher auch nicht mit unserer Trauerweide identisch sein. Dabei mag erwähnt werden, daß dieser Baum in ganz Europa mur in weiblichen Eremplaren vorkommt. Daneben gibt es jedoch noch eine ganze Anzahl anderer Trauerbäume, die Trauer.
buche oder Fagus silvatica pendula und die Trauerbirke eder Betula pubescens pendula. Weiter gibt es auch Trauereichen, Trauerefchen und Trauerfichten. Manche dieser Bäume bedürfen allerdings gärtnerischer Nachhilfe. Solche Bäume nehmen sich auch an anderen Stellen wie auf Friedhöfen sehr hübsch aus, besonders an Orten, die eine gewisse Würde, Stille und Abgeschloffenheit zeigen follen.
Wie fah der Turm zu Babel aus? Die Architekten der Deut schen Orientgesellschaft sowie die Sachverständigen der französischen und englischen Ausgrabur.gsarbeiten( Place bzw. Woollen) find in thren Arbeiten über den biblischen Turm zu Babel nunmehr soweit zu Resultaten gelangt, daß man wohl von einer gemeinsamen Vorstellung über das ursprüngliche Bild dieses Turmes sprechen fann. Demnach hatte der Turm eine Grundfläche von etwa 91 Metern im Quadrat, vier Stedwerke mit abgeschrägten Seitenwänden und auf dem obersten Stockwerf einen Tempel. Die Gesamthöhe betrug 92 meter; im zweiten Stockwert, in einer Höhe von 51 Metern, war der in der Beschreibung des Herodot erwähnte Play zum Ausruhen.
Ende der Robinson- Romantik? Der englische Historifer Profeffor Rose veröffentlicht jeht ein Buch über die Urgeschichte des Robinson Crusoe ", das geeignet ist, der Robinson- Romantit ein grausames Ende zu bereiten. Er stellt fest, daß das Urbild Robinsons, Alexander Selfirt, nach seiner Rettung beim Schiffsuntergang Seeräuber wurde und lange Zeit ein Kaperfchiff in der Südsee befehligte. Er fammelte dabei ein recht erhebliches Vermögen, das er jedoch, nach England zurückgekehrt, innerhalb weniger Wochen vertrant. Er schrieb dann, um wieder zu Geld zu tommen, seine Lebens geschichte auf, die übrigens lange Zeit eine der wertvollsten Unter lagen für geographische Forschungen bildete. Dieses Manuskript hat ihm Defoe abgeschwindelt, um es erst dann in seiner moralisierenden Umarbeitung zu veröffentlichen, als der Verfasser, um seine Hoffnungen betrogen, wieder zur See gegangen war. Selkirk selbst blieb von da ab verschollen.