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Nr. S20 45. Fahrgang 0t�tl�0��9 Vonnerstag, 4. November 1926

Musik ist auf dem Hofe! Da klirren die Fensterscheiben in den verschiedenen Stockwerken, und selbst die fleißigsten Finger halten einen Augenblick mit der Arbeit inne, während das Ohr die Melodie festzuhalten sucht. Und wie die Töne klingen, scheint ein wenig mehr Helligkeit in die Wohnungen zu dringen, ein wenig Frohsinn, ein wenig Leichtigkeit. So lange die Lippen leise summen oder auch nur der Fuß im Takte wippt, sind die Sorgen oergesien. In den Mietskasernenblocks der Großstadt, in deren feuchten Schatten kaum Pflanzen gedeihen, in denen es häufig viel Schmutz und immer viel Trostlosigkeit gibt, sind oft die Klänge der ,,5?ofmusik" die einzigen Boten einer froheren, glücklicheren Welt. Die Kinder be- grüßen sie jubelnd, ziehen mit ihr, so weit es irgend geht und die gestrengen Wirt« und die gestrengeren Verwalter es zulassen, von Hof zu Hof, um möglichst viel von denKunstgenüssen" zu erhaschen. v!e Nichtzünstigen. Manchmal Ist es mit der gebotenenKunst" wirklich nicht so schlecht bestellt. Heut, in der Zeit der Massenarbeitslosigkeit wird mancher begabte Dilellant zum Hofmusikanlen. Da gibt es Geigen- spieler, die mehr können, als auf einem verstimmten Instrument einen schmalzigen Boston und etwa noch GounodsAve Maria" heruntertratzen, und deren Spiel auch ein empfindliches Ohr auf- horchen läßt. 2luch mancher Hofsänger überrascht durch eine gute Stimme, die unoerkennbare Schulung verrät. Es ist anzunehmen, daß solch« umherziehenden Musikanten, die ja immerhin zu den Seltenheiten gehören, darum die Gegenden der Armen bevorzugen, weil sie dort weniger Gefahr laufen, einstigen Bekannten zu be- gegnen. Und diearmen Leute" sind ein dankbares Publikum. Sie haben nicht viel zu geben sie haben eigentlich überhaupt nichts übrig. Aber doch klappert da und dort ein eingewickeller Fünfer in den Hof, bisweilen fällt sogar ein Stullenpaket aus einem Fenster. Diese offensichtlich einst den sogenanntenbesseren" Kreisen anac- börenden Musikanten komnren begreiflicherweise immer einzeln. Äon der Not. vom Hunger getrieben, von Scham erfüllt darüber, daß siebetteln" müssen. Ander« nehmen die Sache leichter und richtiger. Da ist der alte Mann mit der Ziehharmonika. Er lebt bei seiner Tochter, die Witwe ist und Aufwartungen besorgt. Ein Sohn ist im Felde gefallen. Er ist zweiundsechzig Jahre alt. Im Winter kann er nicht mehr herausgehen. Aber so bald die ersten schönen Tage kommen, nimmt er seinen Klapphocker und seine Zieh- Harmonika und ist damit von morgens bis abends unterwegs. Früher war er Mitglied eines Gesangvereins, daher kann er viele Lieder, die er noch heut mit seiner dünn gewordenen Greisen- stimme zur Harmonikabeglcitung singt. Auch altmodische Tänze, so. gar Straußsche Walzer spiest er gefühlvoll und richtig, und ehe er mit dem Spiel beginnt, nennt er laut den Titel des Werkes so gründlich nimmt cr's. Wollte man ihn einen Bettler heißen, so würde er mst Recht empört sein. Seine Pfennige und hier da ein

den Fenstern empor, von dem Maricchen, das mit ihrem Kinde so traurig und geisterbleich am Strande saß, oder von dem Stein, der ist nicht groß und auch nicht klein, ist nicht von Marmclstcin

und auch nicht stolz: er ist ein Krevzelein aus schlichtem Holz. Dazu kommen die neuesten Kompositionen mit so einprägsamen Texten wie: Deine Hände sprechen Bände und dein Auge lacht, laß doch

Töpfchen warmen Kaffees verdient er sich auf gerade so ehrliche

Weise wie alle anderen Menschen. Zu zweien, dreien erscheinen junge Burschen auf den Höfen, mit Klampfen, Zithern, auch wohl mst schwer benennbaren selbslgeferliglen Zupilnstrunreukea. Meist recht

blasse und elende Gestalten, denen aber häufig di« gute Laune noch nicht verloren ging. Vielleicht haben sie bei Estern oder sonstigen Angehörigen noch ein Dach über dem Kopfe. Zluch ihnen geht es gewöhnlich wirklich noch um die Musik: ihr Spiel ist exakt und flott. Ihr Programm ist bunt zusammengewürfelt: neben Volksliedern, auch wohl Liedern von Schubert oder Mendelssohn stehen die neuesten Schlager. Sie singen und spielen, was ihnen Freude bereitet, in dem sicheren Glauben, daß das auch anderen gefallen muß. Und in der Tat haben wohl diese Duos und Trios den meisten Erfolg: in denvornehmen" Gegenden spenden ihnen die Hausangestellten, in den bürgerlichen die Hausfrauen, und selbst die arme Arbeiterin findet noch einig« Pfennige für sie. Für manchen dieser Burschen mag der Gedanke, sich einmal als Hofmusikaist zu versuchen, schon die Rettung aus drückendster Not geworden sein. Aber olle dies« Typen sind doch nur Einzelerscheinungen unter den Hosmusikanten: durch irgendeinen Zufall kamen sie dazu, ihr« musikalischen Kennt- nissc oder wenigstens ihre Liebe zur Musik auf diese Weise aus- zumünzen. Was sie bieten, ist nur in feltenen Fällen ganz schlecht. Die Zünftigen. Leider ist die Mehrzahl darfahrenden Sänger" von ganz anderer Art. Ihre Tätigkeit ist ihnen nur vorwand für die Lettelei. Da klingen dann neben verzerrten Chorälen sentimentale Lieder zu

kosen den Matrosen unter Rosen eine Nacht. Das alles ist Unsinn: aber wenn man zehn Stunden ain Tage an der Nähmaschine sitzt, so macht inan doch das Fenster auf und fühlt einen Augenblick mit dem geisterbleichen Mariechen mit, und der Abc-Schütze, der die Schlagermelodie auf allen Lippen hört, lernt auch noch schnell den Text von dem Matrosen unter Rosen. Besonders, da er am Tage oft mehrfach Gelegenheit dazu hat. Denn diese Sorte Hosmusikanten kommen häufig genug. Gewiß sind es oft recht bedauernswerte Menschen, die auf Almosen angewiesen sind. Traurig ist nur, daß tatsächlich nicht selten sie für den musikalischen Geschmack oder Un- geschmack ganzer Wohnviertel richtunggebend sind. Dazu hämmert noch ein Leierkasten dann und wann die Melodie etwas energischer ein ein Volkslied, was dazwischen einmal aufklingt, ist rasch wieder vergesien. Bielleicht ließe sich hier Abhilfe schaffen. Vor dem Kriege gab es die Kurrende, den gutgeschusten K n a b e n ch o r, der unter Leitung von Gesanglehrcrn von Hof zu Hof zog, um meist geistliche Lieder zu singen. Von dem Geld, dos eingenommen wurde, bekamen di« Knaben Stiefel und Wetterumhänge. Man könnte sich denken. daß heute ein ähnlicher weltlicher Chor sich schaffen ließe, der überall- hin gut« Musik bringen würde. Eine systematisch« Erziehung zum Volkslied müßte er treiben, allen Kitsch und Schund aus den Höfen und Wohnungen heraussingen. Damit wäre er auch richtunggebend für all die anderen Hosmusikanten. die ja schließlich nur das bringen wollen, was gefällt. Ergäbe sich aus den Ein-. nahmen ein Ueberfchuß, so wäre sicher manche arme Mutter froh, wenn ihr Kind«in« kleine Beihilf« für den Haushalt verdieist hätte.- lind so könnte er vielleicht wirklich ein« Kulturarbeit des Voltes am Volke werden.

Ein kleideraufschllher ist Dienstag nachmittag auf der Straßenbahn aufgetreten. Ein Wagen der Linie l 1 3. der von Westen nach Osterf fuhr, war so stark besetzt, daß die Fahrgäste auch auf der Hinteren Platisorm dicht gedrängt standen. An der Ecke der Boxhagener und Warschauer Straße wurde er leerer. Drei Frauen gingen darauf von der Plattform in den Wagen hinein. Andere Frauen, die bereits ln, Wogen saheii, nahmen jetzt wahr, und mochten sie darauf aufmerksam, daß allen dreien die Mäntel und zum Teil auch die Kleider der Länge nach ausgeschlitzt waren. Der Unhold, der das Gedränge be> nutzt hatte,'war nicht mehr zu finden.

Die Vunöer öer Klara van tzaag. 4] von Johannes vuchholh. Aus dem Dänischen übersetzt von Erwin Magnus . Nicht, um ihrer Sache sicherer zu sein, sondern in eine Erinnerung verloren, sagte sie: Du hast nicht die Augen deines Vaters geerbt, und auch nicht das Haar. Dein Vater hat doch fast schmarzes Haar. Zurückgestrichen, nicht wahr?" Hedwig lachte und sagte:Vater hat jetzt fast gar kein Haar." Die Gnädige lachte auch. Sie unternahm es, Hedwig von allen Seiten mit derselben Sorgfalt zu betrachten, mit der. sie zuvor das Zollamt betrachtet hatte. Hedwig wurde rot unter ihrem Blick, fühlte sich aber nicht unbehaglich. Die Gnädige hatte große merkwürdige Augen, und der Ausdruck in ihrem Gesicht wechselte unablässig. Es war mußte Hedwig denken als stände die Gnädige an einem Fenster und sähe eine große Prozession vorbeiziehen. Bald winkte sie einem Bekannten zu, bald lachte sie über einen lächerlichen Menschen, bald runzelte sie die Stirn ein bißchen, weil einer kanr, den sie nicht mochte. Es oerging einige Zeit in Schweigen, dann sagte die Gnädige ernst mit ihrer wohltönenden Stimme:Ich bin Konsul Steens Tochter, vielleicht hast du dies schon verstanden. Dein Vater und ich sind zweite gute Spielkameraden gewesen, damals in alten Tagen. Ich finde, jetzt kann ich unmöglich reisen, ohne ihn gesehen zu haben: ja ich glaube, ich kann ebensogut gleich in Knarreby bleiben. Hier ist es nicht un- erträglich, wenn du bei mir bist." Sie öffnete einen Koffer und wühlte in den duftenden, blütenblattweichen Kleidem drinnen, fand dann einen flachen Mahagonikasten und entnahm ihm eine, wie ein Kleeblatt geformte Amethystnadel, die sie lächelnd Hedwig reichte. Die sollst du an. dein Kleid stecken, am Halse!" Danke," sagte Hedwig und bot ihr die Hand. Die Gnädige untersuchte wieder ihre Finger und sagte: Und don müssen wir die kleinen Balletkinder ihrer Bestim- mung gemäß einüben. Wir werden drei gute Freunde sein hier im Zollhaus. Du, der Flügel und ich! Das muh genug fein können, sollte ich meinen!" In diesem Augenblick hörte man einen Wagen vorfahren md draußen halten. Darin saß der Zollverwalter. Er hatte

nicht leere Worte gesprochen. Hedwig fühlte einen Stich im Herzen. Sollte das Zollamt jetzt wieder ein Möbelpackhaus werden, in dem ein paar Menschen zufällig eingeschlossen worden waren? Nein, die Gnädige öffnete nur das Fenster und gab ihren Befehl, dem zu gehorchen keiner unterließ: 3>er Wagen kann wieder fortfahren: ich bleibe." Der Zolloerwalter wiederholte den Befehl auf seine Weise: mit derselben Betonung, als wenn er sein Rasiermesser verlangte. Aber es war überflüfig. Sören Fuhrmann hatte schon die Pferde mitten aus die Straße gewendet, jetzt ver- setzte er den Roten einen Extraschmitz, so daß ihr« Hufe Funken auf den Pflastersteinen schlugen. Da sagte die Gnädige einige Worte, die Hedwig fast mehr verwunderten, als alles andere, das sie an diesem bewegten Tage gehört und gesehen hatte:Geh hinunter und bitte den alten Mann herauf." Den alten Mann?" Ja, den alten, verblichenen Mann. Bitte ihn die Rede für mich zu halten, in der er unterbrochen wurde." Hedwig verstand es selbst nicht, aber die Trän«n preßten sich aus ihren Augenwinkeln hervor, als sie die Treppe her- unterlief. Sie brach in die Bureautür ein, ohne anzuklopfen, schlang beide Arme um den kleinen, verdorrten Mann am Fensterpult und sagte mit einem einzigen Atemzug:Poulsen! Sie ist der beste Mensch auf Erden und dazu eine Königin. Mir hat sie diese Edelsteinnadel gegeben und jetzt sollen Sie heraufkommen und ihr Ihre Rede halten! Und sie bleibt, Poulsen. Sie reist nicht. Beeilen Sie sich, Poulsen. Sind Sie nicht schrecklich froh?" 2. Kapitel. Am nächsten Abend ging Hedwig nach Hause. Die Gnädige hatte den ganzen Nachmittag bei ihr in der Küche gestanden und ihr viele Dinge aus ihrer Kindheit und Jung- mädchenzeit erzählt. Jetzt schickte sie durch sie einen muntern Gruß an den Bater, und das Versprechen, ihn bald zu besuchen. Ja. ja. dachte Hedwig, als sie in den Bahnhofsweg ein- bog: es hätte ja eine schlimmere Zeit kommen können als jetzt. Wie, wenn es gekommen wäre, als wir noch im Hinter- haus bei dem Tischler wohnten und als Baters Kamera auf einem Zemeistfaß mit einer grünen Gardin« darüber stand. Hedwig erschauerte vor Unbehagen, wenn sie an die Zeii dachte. Nein, da war das weiße Häuschen, das ihr Dater gebaut hate, doch etwas anderes. Gerade jetzt tauchte es vor ihr auf und schimmerte eigentlich vornehm und festlich

unter den wilden Wein- und Jelängerjelieberranken hervor, die bis mitten aufs Dach reichten. Hedwig wußte zwar, daß es drinnen nicht gerade so schimmernd vornehm und festlich war o nein aber jetzt

sie anfaßte. Es brannte schon Licht hinter den kleinen Scheiben, so saß der Bater also schon bei der Arbeit. Wie seine Laune wohl sein mochte? Sie ging über die Grabenbrücke und öffnete. Eine ein- fache, aufreizende Türklingel lärmte. Hedwig sagte:Ich bin's," und ging durch dasWartezimmer" es erschien ihr besonders elegant eingerichtet, wenn die Möbelbezüge auch nicht wenig beschädigt waren in den nächsten Raum, der Wohn- und Arbeitszimmer zugleich war. Sie sah mit einem einzigen Blick, daß es Besonderes los war. Der Vater stand an seinem Tisch und beschnitt Bilder. Er deckte den Schimmer der kleinen Lampe, so daß der übrige Teil der Stube im Halbdunkel lag, aber auf der Ruhebank saß Hedwigs ältester Bruder Sivert, der Glasergeselle, Klein- Emanuel an sich gepreßt, beide mitten in eninem erschüttern- den lautlosen Gelächter hinter dem Rücken des Vaters. Es war nichts Merkwürdiges dabei, daß Siocrt lachte, das Gegen- tell wäre sonderbar gewesen: aber wie in aller Welt war es zugegangen, daß er sich hier auf der Ruhebank breit machte, während der Vater es ruhig trällernd geschehen ließ? Und sieh, jetzt wandte der Bater sich um und nickte guten Abend mit seiner großen, blanken, kahlen Glatze. Auch sejn Antlitz war sichtlich munter. Rätselhaft. Ist Mutter draußen?" fragte Hedwig und ging in die Küche. Ja, Mutter war da. Sie ließ los, was sie in der Hand haste, lief der Tochter entgegen und drückte sie an sich. Und du hast so einfach frei bekommen. Ich erwartete dich nicht in der ersten Woche. Wie ist sie denn? Ich sah sie ja in Sören Fuhrmanns feinstem Wagen oorbeikutschieren, neben dem Zöllner selbst, mit weißem Hut mit Federn und Flitterkram. Ist sie nett?" Hedwig platzte ja vor Lust, von ihrer neuen Herrin zu erzählen, aber sie mußte erst wissen, was es drinnen in der Stube gab, und daher sagte sie nur:Ja, sehr nett." (Fortsetzung folgt.)