Abendausgabe
Nr. 523 43. Jahrgang Ausgabe B Nr. 259
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10 Pfennig
5. November 1926
Vorwärts=
Berliner Volksblatt
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Zentralorgan der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands
Fronde in der Industrie.
Sozialpolitische Reaktion. Die Werkvereinspolitik und der Reichsverband .
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Bereits heute morgen fonnten wir mitteilen, daß auf Die Haupttreiber aber find als politisch reattionär Beranlassung einiger reaktionärer Industrieller und einiger Führer der sogenannten vaterländischen Arbeiterbewegung eine Gesellschaft für deutsche Wirtschafts- und Sozialpolitif" gegründet wird, deren Gründungsversammlung während der Drudlegung des Blattes im Gange ist. Hinter den vaterländischen Arbeit nehmerverbänden verbergen sich die Führer der gelben Wertvereinsbewegung, die ihre Felle davonschwimmen sahen, seit sich im Unternehmerlager immer deutlicher die Tendenz zeigte, daß man sich mit den realen Tatsachen abfinden will. Unter der Oberfläche arbeiteten aber auf beiden Seiten die führenden Kräfte weiter.
Leiter der neuen Gründung ist das Mitglied des Reichswirtschaftsrates, Generaldirektor Dr. Horst. Dieser hat ein Schreiben an die Bereinigung deutscher Arbeitgeberverbände und an den Reichsverband der deutschen Industrie gerichtet, in dem er sich auf das heftigste gegen die Ausführungen Silverbergs anläßlich der Dresdener Industriellentagung wandte, diese als unerhört bezeichnet und vor allem dagegen protestiert, daß Silverberg es gewagt habe, die deutsche Arbeiterschaft mit der Sozial demokratie und den freien Gewerkschaften zu identifizieren. In gehäffiger Weise wandle er sich auch gegen diejenigen Wendungen Silverbergs, die die Verdienste eines Legien und Ebert um den deutschen Staat und die deutsche Wirt schaft herporgehoben.
Die Einstellung des Herrn Horst zu den freien Gemert schaften ist bekanntlich nicht vereinzelt. Sie deckt sich weitgehend mit dem, was der Schwerindustrielle Dr. Reichert in Dresden und auch bei anderen Anlässen unter Zustimmung seiner deutschnationalen Freunde gegen Silverberg ein gewandt hat. Man hat nun versucht, die Opposition zu sammeln und zunächst nach. berühmtem Muster eine Art Studiengesellschaft zu gründen, die das notwendige pseudowissenschaftliche und agitatorische Material fammeln und bei den Industriellen das metallisch flingende Interesse weden soll, um die Werkvereinsbewegung in größerem Stile zu entfachen. Bon Wissenschaftlern hat man den Professor Dundmann, der ein von den Unternehmerverbänden unterstütztes Institut unterhält, und den Professor Voigt
gewonnen.
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Ein entlarvter Gegner des Faschismus. Paris , 5. November. ( EP.) Der als antifaschistischer Ber schwörer verhaftete Oberst Garibaldi der übrigens Inhaber der französischen Ehrenlegien ist ist nach Paris gebracht worden. Die Untersuchung hat ergeben, daß Garibaldi nur nach außen hin als Antifaschist auftrat, tatsächlich aber mit Mussolini und der italieni schen Polizei zusammenarbeitete. Es ist bereits festgestellt worden, daß er für seine Spigeltätigkeit 400 000 Franken Sold bezog. Noch am 24. Oftober wurden ihm durch Oberst Rapolla aus Rom 100 000 Franken ausgezahlt. Garibaldi hat vor dem Untersuchungsrichter nach längerem Leugnen ein volles Geständnis abgelegt. Es wird bekannt, daß der Verhaftete in Nizza auf sehr großem Fuße lebte.
Wie die Polizei Attentate fabriziert. Rom , 5. November. ( BTB.) lleber die Ursachen, die zu der Berhaftung führten, teilt der Matin" mit: Gegen Ende Oktober erhielt die Pariser Sicherheitspolizei aus offiziellen italie nischen Quellen davon Kenntnis, daß ein Italiener namens Scievoli, der in Paris wohnhaft gewesen sei, beabsichtige, sich nach Italien zu begeben, um Mussolini zu ermorden. Er ist tatfächlich am 17. Oftober in Nizza eingetroffen und hat sich sofort mit Garibaldi in Verbindung gefeßt. Er soll im Dienste des Bruders Garibaldis in Paris gestanden haben. Garibaldi führte ihn in die antifaschistischen Kreise in Nizza ein und stellte ihn mit der Bemerkung vor, daß er mit einer vertraulichen, wich tigen Mission beauftragt sei.
Am 24. Oktober stieg ein Italiener, der sich für einen Kaufmann aus Florenz ausgab, in Nizza unter dem Namen Bisa cane ab. Die Sicherheitspolizei betam bald heraus, daß es sich um einen hohen Beamten der italienischen Polizei handelt, nämlich um den Major Lapolla, den Generalinspekteur der Mailänder Polizei. Auf die Polizei gebracht, gab Lapolla zu, wer er sei; er et flärte, die französische Grenze ohne Genehmigung überschritten zu haben, um über die Attentatspläne des Scievoli eine Unterfu chung anzustellen. Bei Durchficht seines Gepäds jedoch wurde festgestellt, daß Lapolla außer dem der Polizei bekannten falschen Baß, der auf den Namen des angeblichen Florenzer Kaufmanns lautete, auch einen weiteren auf den Namen Scievoli lautenden Baß hatte.(!) Gleichzeitig fand man bei ihm eine Anzahl volltommen neuer 1000- Lire- Scheine. Lapolla murde darauf über die Grenze abgeschoben, jedoch wurde ihm auf sein Erfuchen gestattet, noch für ein bis zwei Stunden nach Nizza zurüdzufehren. In seinem Hotel angekommen, empfing er zur nicht geringen lleber raschung der französischen Geheimpolizei, die ihn beobachtete, bald den Besuch des Obersten Garibaldi. Lapolla ist am 25. Oktober nach Italien zurückgekehrt.
bekannte Persönlichkeiten, wie wir sie heute morgen genannt haben. In dem Einladungsschreiben zu der heutigen Tagung fommt diese politisch reaktionäre Tendenz auch darin zum Ausdruck, daß erflärt wird, die Unternehmer seien heute nicht in der Lage, die ihnen notwendig erscheinenden Wege zu gehen, da sie durch Geseze und die Politik des Staates in ihrer Tätigkeit in gewissem Sinne festgelegt seien. Man will damit offenkundig gegen die demokratischen Regungen polemisieren, die neuerdings im Unternehmerlager immer deutlicheren Ausdruck fanden und hat sich deshalb mit den Führern der nationalen Arbeiterbewegung an einen Tisch gesetzt, um zu gleich mit der Förderung des Werksgemeinschaftsgedankens die staatliche Wirtschafts- und Sozialpolitik zu durch treuzen.
Dr. Horst beruft sich darauf, daß die Bereinigung deutscher Arbeitgeberverbände feine Be strebungen ausdrücklich gebilligt habe. Auch an den Reichs verband der Deutschen Industrie hat er sich gewandt. Hier scheint er gleichfalls zusagen einzelner Persönlichkeiten zu haben, wenngleich das Präsidium als solches sicherlich daran nicht beteiligt ist. Wir erwarten, daß der Reichsverband der Deutschen Industrie sich dazu öffentlich ausspricht. Was aber die Bereinigung deutscher Arbeit geber verbände angeht, so stimmt ihre Zusage durchaus überein mit der doppelzüngigen Politit, die in dieser Bereinigung nicht erst seit heute und gestern geführt wird. Man weiß, daß Kommerzienrat Ernst v. Borsig, der Borsigende dieser Vereinigung, in allen politischen und sozial. politischen Fragen sehr weit rechts steht und für die Werksgemeinschaft immer sehr viel übrig gehabt hat. Außer Borsig aber ist noch eine ganze Reihe industrieller Führer in den Borstandsorganen der Bereinigung deutscher Arbeitgeberverbände vertreten, von denen man wohl annehmen fann, daß sie sich mit der Gegenaktion gegen die Reichsverbandstund gebung solidarisch fühlen.
Man wird abwarten müssen, was der Reichsverband der deutschen Industrie zu diesen Vorgängen zu sagen hat. Bil ligt er die Fronde der Industriellen oder ist er dagegen mehrlos, so wird das für die Beurteilung der wirtschafts- und sozialpolitischen Haltung seiner Führer von der größten Wich tigkeit sein.
Neuer Einbruch bei Oda Lerda- Olberg.
Wie wir erfahren, hat das angebliche Attentat von Bologna auch einen neuen Einbruch in das Haus des sozialistischen Parteivorstandes, in dem sich auch die Wohnung der Genoffin Lerda Olberg befindet, zur Folge gehabt. Es waren in dieses Haus, das nur von einem 70jährigen Manne, dem Gatten unserer Genofsin, drei Frauen und einem Kinde bewohnt war, etwa 200 Faschisten eingedrungen, die alles kurz und flein schlugen. Der Angriff war schon zwei Stunden zuvor angekündigt worden, trotzdem geschah nichts Entscheidendes, um das Verbrechen, das in einer der Haupt straßen Roms verübt wurde, zu verhüten. Der schwachen Bolizei, die gewissenschaft und mutig die Verteidigung führte. gelang es zu nächst, indem sie mit der Anwendung der Waffe drehte, die Menge in Schach zu halten. Als aber diese sah, daß die Polizei nicht schießen durfte, durchbrach sie die Sperre. Die Familie ein Greis, drei Frauen und ein Kind mußte fich in eine fremde Wohnung retten und wurde noch später, als sie außerhalb des total verwüsteten Hauses eine Unterkunft für die Nacht fuchen mußte, mit dem Schädeleinschlagen bedroht. Ein Versuch der Einbrecher, die Trümmer der völlig demolierten Bureauräume in Brand zu stecken, wurde von der Polizei verhindert.
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Die Deputiertenkammer einberufen.
Auf den 12. November.
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Paris , 5. November. ( Eigener Drahtbericht.) Der am Donners tag tagende Rabinettsrat hat im Prinzip die Einberufung der Kammern auf den 12. November festgesetzt. Dieser Beschluß wird im Ministerrat am Freitag ratifiziert werden. Er wird sich außerdem ausführlich mit den Zwischenfällen gegen die franzöfischen Konsulate in Ventimiglia und in Tripolis befassen.
Einleitung von Friedensverhandlungen. London , 5. November. ( WTB.) Der Vollzugsausschuß der Bergarbeiter und die Vermittler aus dem Verbande der Gewerkschaften sind heute in der Frühe zusammengetreten, um den Text des Beschluffes zu formulieren, der der Konferenz der Bertreter der Bergarbeiter noch im Laufe des Vormittags unterbreitet werden foll. Man erwartet, daß der Beschluß den Vollzugsausschuß ermächtigen wird, Berhandlungen für den Frieden einzuleiten.
Die Vermittler aus dem Verbande der Gewerkschaften werden am Mittag mit der Regierung verhandeln, um die Friedensmöglichkeiten zu erörtern.
Schicksalsfragen des Zentrums.
Nachwort zur Erfurter Zentrumstagung.
„ Das deutsche Gesellschaftsleben ist noch völlig unausgeglichen. Es muß entweder politisch wieder rückwärts gegangen werden, was ausge schlossen ist, oder es müssen in Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur mehrere fräftige Schritte vorwärts getan werden. Das ist die Situation, in der wir uns gegenwärtig befinden. Es ist also sehr falsch, anzunehmen, daß wir bereits über die Revo= lution hinweg seien."( Stegerwald auf der Zentrumstagung in Erfurt .)
Wie groß ist doch dieser unsterbliche Karl Marr gewesen. Seine Lehre, daß die Produktionsweise entscheidend das Denken der Menschen beeinflußt, daß Umwälzungen in der Wirtschaft auch den geistigen Ueberbau, Staats- und Religionssysteme, erschüttern und ver ändern, wird zwar wütend befehdet, aber in ihren Grundzügen erweist sich die so oft verzerrte und zu einem geiſtlosen Mechanismus herabgewürdigte marristische Erkenntnis als richtig. Es ist der höchste Triumph des Meisters, daß selbst die in zwei Jahrtausenden verwurzelte fatholische Kirche längst nicht mehr durch Predigt, Gebet und Buße und nicht mehr durch Almosen und Karitas die entfesselten Kräfte des kapitalistischen Zeitalters zu bannen sich vermißt, sondern die organisierte Gegenwehr der besizlosen Massen gegen den brutalen Materialismus rücksichtsloser Ausbeutung zu begreifen, anzuerkennen, ja zu unterstützen beginnt.
Vorüber sind die Jahre, da man christliche Gewerkschaf= ten und Arbeitervereine aus vorwiegend taktischen Beweggründen schuf, um Schranken gegen die heranstürmende Sozialdemokratie aufzurichten. Für immer dahin ist die Zeit, da man christliche Arbeiter mit falten firchlichen Formeln und gehässiger Routine, die nichts wußte von der Glut religiösen Erlebens, gegen ihre sozialdemokratischen Klassengenossen verheyen fonnte. Die fatholische Kirche und ihr großes politisches Instrument, die deutsche Zentrumspartei , müssen sich dem durch die wachsende Proletari sierung von Grund auf sich wandelnden Denten der Massen anzupassen versuchen, wenn die firchlichen und die politischen Organisationen nicht bedeutend an Einfluß und Anhang verlieren sollen. Von dem tiefen Mißtrauen vieler katholischer Proletarier nicht nur gegen die meisten ihrer politischen Führer, sondern gerade auch gegen den Klerus machen sich vermutlich nur wenige außerhalb des Katholizismus eine hinreichende Vorstellung.
Man muß bedenken, daß auf der 3entrumstagung in Erfurt nur gefiebte Parlamentarier und gewandte Dialektiker zu Worte gekommen sind, die mit der ganzen Vorsicht des politischen Katholizismus die aufgehäuften Explosivstoffe sorgsam beiseite zu schaffen trachteten. Sieht man von dem altkonservativen Herrn von Papen ab, der den ,, liberalen Sozialismus" noch immer wie ein bayerischer Bauernkaplan aus den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts zu betrachten scheint; so standen doch alle Redner von Urteil vor einem dreifachen Eingeständnis: das heutige deutsche Staatswesen entspricht in seinem Inhalt nicht den sozialen und demokratischen Worten der Verfassung; die wirtschaftlich abhängigen Volksmassen sind in der Produktion und im Geistesleben trog aller politischen Demokratie unterdrückt und betrogen; die Entfremdung zwischen Proletariat und dem politischen wie dem religiösen Ratholizismus ist unheilbar, wenn nicht neue Wege in einer neuen Sprache dem Bolke gezeigt werden. Oder wie Joos aus den bitteren Erfahrungen mit den rein katholischen und von dem Parteisozialismus faum berührten Arbeitern seiner niederrheinischen Heimat sagt:„ Es ist ganz unmöglich, Menschen für den Staat zu gewinnen, die mit einem Fluch auf den Lippen nach Hause gehen, Menschen, die in ihrer Wohnung perfommen." So ist es.
Man sieht also das Verhältnis der Menschen zum Staate durch eine margistische, wenn auch schwarz angerußte Brille. Aber wagt man schon praktische Folgerungen? Die Beschwörungsformel, die man nach achtunggebietender Kritik unseres Gesellschaftskörpers gegen einen Zustand, in dem selbst Stegerwald schwere revolutionäre Gefahren sieht, anzuwenden vorschlägt, lautet: Das unentbehrliche Fundament der deutschen Republif, wie eines jeden Staates, ist und bleibt christliche Sitte und Ordnung, gesundes Familienleben, Solidarität in Familie, Staat und Volk und strengste soziale Gerechtigkeit."
Schon die fühne von Vergangenheit und Gegenwart widerlegte Behauptung, daß ein geordnetes Staatswesen ohne christliche Fundamente nicht möglich sei, charakterisiert jenen Saz mehr als rethorische Tonmalerei, denn als ein flar erfaßtes Bekenntnis, hinter dem der aus göttlichen Geboten strömende Wille steht, die mammonistische Anarchie dieses Zeitalters durch eine wie immer geartete e mein= Die ernsten, die schaftsordnung zu überwinden. lebendigen Christen in der Zentrumspartei , die religiös erweckte Jugend, die den Raubcharakter der formal- christlichen tapitalistischen Welt vergeblich mit der Bergpredigt Jesu Chrifti in Einklang zu bringen sucht, wird aus Erfurt nur Worte gehört, nicht aber das Rauschen eines neuen Pfingstgeistes vernommen haben. Wenn wirklich die Parteigebilde, die Herr Dr. Wirth als vertrocknet" bezeichnet -haben soll, der seelischen Belebung bedürfen sollten
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pon