ttr. 530 ♦ 43. Jahrgang
1. Beilage öes Vorwärts
Mittwoch, 10. November 1920
Unsere Revolutionsfeiern.
Der 9. November oereinigt Jahr um Jahr die Parteigenossen, um des Tages zu gedenken, a» dem jahrelanges Morden zu Ende ging.�an dem ein altes, unfähiges Regierungssystem zerbrach und die Sonne der Freiheit zu leuchten begann. Wir haben in den Jahren, die dem 9. November von 1918 folgten, einsehen gelernt, daß wir damals erst eine Revolution begonnen haben und daß wir erst in zäher Arbeit unsere Ziele, denen wir uns damals vielleicht allzu nahe glaubten, erreichen können An diese Arbeit gemahnen auch alle Revolutionsfeiern. Die Berliner Parteigenossen hotten gestern viele Versammlungen veranstaltet, in denen die Bedeutung des 9. November gewürdigt wurde. Im dichtgefüllten großen Saal der Sophiensäle hielt der Kreis Mitte seine Reoolutionsfeier ab. Die Bühne war mit roten Tüchern und roten Fahnen sehr wirkungsvoll geschmückt. Reichstagsabge- ordneter Genosse Stelling hielt die Festrede. Feierstunden des Proletariats, so führte er aus, sind Weihestunden, in denen wir neue Kraft schöpfen wollen im Kampf um die Freiheit, um unsere Ideale. Wir wurden uns unserer Kraft bewußt! Das ist ein Verdienst des 9. November. Und wenn wir auch nur wenig erreicht haben, s o i st der Weg doch freigemacht. Nun können wir die Bausteine zusammentragen zu einein neuen Staat, wie wir ihn uns zimmern wollen. Furchtbar hart ist diese Arbeit, da die alten Bausteine zu morsch geworden sind. Die Rede fand großen Beifall. Freiheit?. lieber, die der Arbeitergesangverein„Lerche Glockenklang" unter Führung seines Dirigenten Hans Schreiber zum Vortrag brachte, umrahmten die Festrede. Der 1. Kreis, Prenzlauer Berg , hielt seine Feier in den Pracht» sölen am Märchenbrunnen ab. Nach den einleitenden Worten des Kreisvorsitzendcn Genossen D ö n e r t brachte der Männerge- sangverein Prenzlauer Berg die Freiheitslicder„Krönt den Tag" und„Ich warte Dein" zu stimmungsvollem Vortrag. Der Redner des Abends, Landtagsobgeordneter Genosse L ü d e i» a n n erinnerte an den 9. November 1918, charakterisierte die Verfassung des vormaligen monarchistischen Obrigkeitsstaates, schilderte den Zu. saminenbruch als Kriegsfolge Er wies auch auf die Schwierig. leiten hin, die unseren Volksbeauftragten begegneten, als sie etwas Neues aus dem Chaos, das das alte Regime hinterlassen hatte, schassen sollten. Die Uneinigkeit vom 9. November ist bis heute gc- blieben. Solange die Arbeiterschaft nicht aufhört, sich selbst zu be- fchden, solang« wird das deutsche Volk seiner Erinnerung an den 9. November nicht froh. Und doch ist es etwas unendlich Großes und Schönes um die Revolution. Lassen wir das Vergangene vergessen sein, und Tag um Tag an der neuen Zukunft wirken. Mit dem Gesang der Völker und der Internationale lchloß die wirkungs. voll verlaufene Feier. In Charlottenburp und Wilmersdorf gestaltete sich die Revolutionsfeier zu einer machtvollen Kundgebung für die zu erstrebende sozialistische Republik. Lange vor Beginn der Ver- sanimlung war der Spichernsaal bis zu den Emporen besetzt. Spötkommcnde fanden kaum einen Sitzplatz. Kurz noch 8 Uhr zog das Reichsbanner mit Fahnen und Musik in den Saal. Von den Emporen und vor der Rednertribüne wehten s ch w a r z r o t. goldene Fahnen. Die Feier eröffnete der Männerchor ..Harmonie" mit dem„Gesang der Völker", es folgten Rezita- tionen und ein Marsch, den die Reichsbannerkapelle mit viel Temperament spielte. Darauf sprach Genosse Artur C r i s p i e n. Er entrollte ein Bild von den revolutionären Bestrebungen im ver- gangenen Jahrhundert, von dem Ringen des damals revolutionär gesinnten Bürgerturns mit dem Feudaladel. Er zeigte, wie allmählich das Bürgertum einschlief und der revolutionäre Gedanke vom Proletariat ersaßt wurde. Vor acht Jahren konnte es ihn in die Tat umsetzen. Die Zeit ist aber noch nicht reif sür die völlige Ver- wirklichunq der soziolistischen Ideen. Es gilt, noch harte Arbeit zu leisten. Die Rede fand großen Beifall. Eine stille, schlichte Geburtstagsfeier war es, die der Bezirks- bildungsausschuß der«>PD. Steglitz am Festtag der Republik beging. Kein sreudiges Fest im allgemeinen Sinne, sondern ein tiefes, stilles Gedenken der Vergangenheit mit oll ihrem tiestraurigen Erleben und einem feierlichen Geloben ehrlicher Treue und Kraft- cntsaltung für die Zukunft. Wagners Ehorgesang„Wach auf" aus
den„Meistersingern" leitete den Abend ein. Franz Fischer rezitierte mir schöner Begeisterung Dichtungen von Heine, Lissauer und Turgenjew . Genossin Klara Bohm-Schuch gedachte in warmempfundenen Worten vor allem derer, die am Bau des freien Tempels geholfen und ihre Bereitschaft mit dem Leben bezahlt hoben. In flammender Rede forderte sie auf, ein Werk zu vollenden, das — mit so unendlich schweren Opsern begonnen— einzig und allein dem Volke Freiheit und Menschenrechte bringen kann. Der ganze Abend stand im Zeichen tiefster Ergriffenheit und ehrlichster Bereit- schaft. Erlösung sprach aus allen. Es folgten noch Gesänge und Rezitationen, und unter Absingung der Internationale nahm die stille Feier ihr Ende. Die Aula in der Kasserin-Augusw-Straße zu Tempelhof war überfüllt. Händels Largo, gespielt von Paul Friedrich, eröffnete die Feier. Chöre umrahmten die Ansprache des Genossen Alwin S a e ng e r- M ü n che n, M. d. R. Er gedachte der Gsburtsftunde der deutschen Republik. Drei Kaiserreiche lagen am Boden, Reiche, die ihren Völkern den geringsten Antell am politischen Leben des Staates gestatteten. Der Paragraph 11 der ehemaligen deutschen Reichsverfassung, der einem einzigen Manne das Recht gab über Krieg und Frieden eines VO-Millionen-Volkes, der in seiner Rück- ständigkeit nur noch von Persien und China geteilt wurde, würde den Zusammenbruch eines solchen Regimes schon allein erklären. Die heutige Republik ist gewiß kein sozialistisches Ideal! aber eine Besserung ist sie, sei sie noch so bürgerlich, so„kapitalistisch", und eine Parallele mit dem Frankreich von 1871 zeigt, daß wir auf dem rechten Wege sind, das Erreichte zu befestigen. Jeder Sozialist muß jetzt mit zwei Fahnen in der Hand kämpfen. In der einen Hand die Fahne der Gegenwart, der Republik , die schwarzrotgoldene, in der anderen aber die Fahne der Zukunft, die rote Fahne der Soziali st en. Rezstationen von Laubinger(Staatstheater), Musikvortröge von P. Friedrich und Eckhardt erhöhten die Weihe des Zlbends. Machtvoll erklang zum Schluß die Internationale. Die Neuköllner Genossen begingen ihre Revolutionsfeier in dem renovierten Saal de? Städtischen Lichtspielhauses. Auf Antrag unserer Fraktion hatte die Bezirksverordnetcnvcrsamm- lung die Verträge des Lichtbildhauses kündigen lassen. Es soll nun ein Vortrags- und Aufsührungsraum für die Bevölkerung werden. Gestern konnte die Arbeiterschaft mit chrer Reoolutionsfeier die Ein. weihung dieses Saales vollziehen. Zahlreich war die Arbeiterschaft der Einladung gefolgt. Der Saal war überfüllt. Auf der Bühne leuchtete das rote Banner der Partei. Die Neuköllner Liedertafel sang als Einleitung„Empor zum Licht". Dann sprach Heinz Wolf die alten Trutz- und Kampfgesänge Heinrich Heines und Georg Herweghs. Nach ihm sprach Reichstagsabgeordncter Genosse Herz. Sachlich zeichnete er ein Bild der Wirtschaftsmächte in Deutschland . Die Arbeiterschaft hat 1913 wohl die politische Macht erobert, doch hat sich im Verlaus der Entwicklung die Wirtschaftsmacht als stärker erwiesen. Im Wirtschaftskampf werden die Fronten, Bourgeoisie und Proletariat, klar aufgezeichnet. Wir werden diesen Kampf nur be- stehen können, wenn die Sammlung sämtlicher proletarischer Kräfte gelingt. Mit dieser Macht aber werden wir siegreich aus diesem Kampf hervorgehen. Rezitationen Heinz Wolfs beschlossen die würdige Feier der Neuköllner Genossen. Der 17. Kreis feierte den Gedenktag der Revolution im Festsaal des Cäcilien-Lyzeums in Lichtenberg . Der bis auf den letzten Platz gefüllte Saal war entsprechend der Be» deutung des Abends reich mit roten Fahnen und gleichfarbigen Girlanden geschmückt. Eingeleitet wurde die Feier durch den Prolog „Die Toten an die Lebenden" von Ferdinand Freiligrath und«in Trio für Celli, gespiest vom Liebermann-Trio. Reichstagsabge- ordneter Genosse B r e i t s ch e i d wies in seiner Festrede daraus hin, daß die Revolution vom November 1918 zwar keine Revolu- tion mit Barritaden und unzähligen Menschenopfern gewesen sei, wie wir sie uns erträumt hatten,' trotzdem aber eine grundlegende Staatsumwälzung war. Auch wenn nicht das erreicht wurde, was wir uns erhofft hatten, so muß man sich die Geschichte aller Revo- lutionen vor Augen halten, deren Saaten immer erst viel später ausgingen. Der 9. November darf für uns nicht nur ein Tag der Erinnerung und des Feierns sein, sondern ein Tag des Gelöbnisses, wester zu gehen und weiter zu kämpfen für die wahre sozialistische Republik . Auf die wirkungsvolle Rede folgte ein Musikvortrag und die Feier wurde mit einem Hoch auf die Sozialdemokratie beendet.
Die Parteigenossen von Reinickendorf trafen sich zur Revolutionsgedenkfeier in de» Hubertussälen am Bahnhof Schönholz. Ein Kammermusikquartett des Deutschen Musikerver- bandes brachte Musik alter und neuer Meister vollendet zu Ge- hör. Der Männcrchor Reinickcndors-Ost brachte den „Gesang der Völker" und„Tord Foleson" ausgezeichnet zum Vor- trag. Genosse Wissel! streifte in seiner Gedenkrede die Vorgänge in den Septembertagen 1918 im Hauptquartier und bei der Regie- rung. Durch den Nebel von 1918 leuchteten die Worte„Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit". Noch sind wir nicht Herren unserer Ge- schicke. Aber die Zeit wird kommen, da jeder seines Lebens froh werden kann. Der Sinn der Umwälzung ist, sich selbst der Gesamt- heit schenken. Die Rede fand großen Beifall. Theo Maret rezi- tierte und erntete ebenfalls reichen Beifall. Die Versammelten sangen zum Schluß die Marseillaise und die Internationale.
«-das letzte Nittel/ Der Schulrat schützt den prügelnden Lehrer. Erziehung durch Prügel gilt immer noch vielen Eltern und Lehrern als unbedenklich. Wenn nichtprügelnde Eltern gegen einen prügelnden Lehrer sich an seine Dienstbehörde wenden, können sie es erleben, daß dem Lehrer von dort aus noch Schutz gewährt wird. Die Schule hat nach dem Gesetz leider noch das Prügel- recht, und auf diese Rllckständigkeit unseres Schulwesens kann die Behörde sich berufen, wenn sie Beschwerdeführer abweist. So erging es im Verwaltungsbezirk Schöneberg auch einem Elternbeiratsmitglied, einem in der Kinderfreundeorganifation tätigen Genossen. Gegen einen im Friedenauer Bezirksteil an der 18. Gemeindeschule angestellten Lehrer Franke reichte er eine Beschwerde ein, weil ein ihm bekannter Knabe in der Schule geprügelt worden war. Die Spuren des Prllgelstocks, die aui dem Körper des Kindes noch nach einer reichlich langen Reihe von Tagen zu sehen waren, wurden zuerst beim Baden bemerkt. Im Einver- ständnis mit der Mutter, vor der das Kind die Sache bis dahin geheim gehalten hatte, ging das Elternbeirotsmitglied zum Rektor Kaul. Dieser gab nach Besichtigung der Spuren zu, daß Herr Franke„etwas grob" geschlagen habe, aber er entschuldigte ihn mit Nervosität und Familiensorgen, woraus seine öfter aus- tretende Mißstimmung zu erklären sei. Das Elternbeiratsmitglied richtete hiernach an die Bezirksschuldeputation ein« Beschwerde, in der auch erwähnt wurde, daß bei jener Brügelcrekution noch ein anderer Schüler geschlagen worden war. Der Bescheid lautete wie zu erwarten war. SchulratStubbe erwiderte dem Beschwerde- führer:„Dem Lehrer steht das Züchtigungsrecht zu." Der Bescheid fuhr fort:„Eine Ueberschreitung seiner Befugnis ist nicht nachgewiesen. Keiner der beiden Knaben hat sich nach irgend- einer Seite beklagt! beide haben offenbar das Gefühl gehabt, ihre Strafe verdient zu haben." Und schließlich wurde erklärt:„Die Schulaufsicht wünscht, daß die körperliche Züchtigung möglichst ver- mieden werde! wenn aber der Lehrer im einzelnen Falle glaubt, zu. diesem letzten Mittel greisen zu müssen, so kann ihm. sofern er sich innerhalb der ihm gesteckten Grenzen hält, ein Vorwurf nicht gemocht werden." Die Dienstbehörde schützt also diejenigen Lehrer, deren Erziehungstun st nicht ausreicht, ohne Prügel mit den Kindern fertig zu werden. Sie wünscht nur, daß die prügelnden Pädagogen bei dem Gebrauch des „letzten M i t t e l s"' die Vorsicht üben, sich innerhalb der„ge- steckten Grenzen" zu hallen. Ob Lehrer Franke das getan hat, hätte ein Arzt entscheiden können, wenn man ihm rechtzeitig das Kind zugeführt hätte. Da das unterblieben ist, so gilt dem Schul- rat Stubbe eine Ueberschreitung des Züchtigungsrechtes als„nicht nachgewiesen", und der Lehrer wird geschützt. So war es früher, so ist es geblieben bis auf den heutigen Tag— und so soll es immer bleiben nach dem Wunsch derjenigen, die in Hieben noch ein Erziehungsmittel sehen. Soll es wirklich immer so bleiben? Die von fortgeschrittenen Lehrern und Eltern getragene, immer weiter um sich greifende Bewegung, die eine Neugestaltung des Schulwesens erstrebt, wird aus unseren Schulen auch die Gewaltpädagogik hinaus- bringen. Sie wird dazu führen, daß aus den Schulen auch der letzte Freund des„letzten Mittels", das nur zu oft ein erstes ist, verschwinden muß. In S ch ö n e b e r g ist man jetzt dabei, für Errichtung weltlicher Schulen zu werben. In weltlichen Schulen ist kein Platz für Lehrer, die sich auf das„letzte Mittel" verlassen. Es gibt verschiedene Gründe, aus denen immer mehr Ellern sich dazu entschließen, ihre Kinder den weltlichen Schulen
Die Wunöer öer Klara van Haag. 9s Don Zohannes Luchholtz. Aus dem Dänischen übersetzt von Erwin Magnus . „Es gehören zwanzigtausend Kronen dazu, um die Sache aufzuwiegen. Soviel beträgt Petreas Erbe. Mindestens. Dies„mindestens" erfüllte Hedwig mit neuem Zorn, der ihr letztes Lächeln gefrieren ließ. Das sagte ihr, daß der Vater immer noch ins Blaue hinein phantasierte. Sie hatte sich zwei Vorsätze überlegt, um das Unglück abzuwenden. D.'r erste war, auf eine gemütliche Art von einem Handel zu reden. Konnte man das Lächeln des Vaters hervorrufen, so war schon viel gewonnen. Dieser Versuch war mißglückt. Ferner hatte Hedwig in ihrer Verzweiflung daran gedacht, sich vor dem Bater niederzuwerfen und ihn anzuflehen, einzuhalten. Ein Weib rechnet mit seinen Plänen stets auf Gnadengeschenke. Jetzt, unter dem gnadenlosen Blick des Vaters, stieß sie diesen Versuch mit Verachtung von sich. Sie wandte sich an Swert, der mit niedergeschlagenen Augen, aber mit unverminderter Eile seine Mahlzeit sortgesetzt hatte. „S'vert/ sagte sie eindringlich,„du erinnerst dich wohl deines Versprechens?" Sivert kicherte ausweichend. „Welches Versprechens?" „Standest du nicht heute nacht unter meinem Fenster und versprachst mir. daß du dich von der Geschichte femhalten wolltest?" sagte Hedwig aufgebracht. „Heute nacht?" , Ach, du wirst wohl noch wissen...!" ..Wie sah ich aus?" „Du sahst aus wie das Gewürm, das du bist." „Du wirst dich wohl geirrt haben, denke ich. Hatte ich nicht' eine Geige mit und kratzte schön darauf zwischen den Leichensteinen? Kamst du nicht in bloßem Hemd ans Fenster und ließest mich nachher ins heilige Zollamt ein. Gab ich nicht an, daß ich Johan hieße und Maler wäre?" Hedwig war dicht am Herzen getroffen. Das Gift lähmte ste fast. Ein paarmal schöpfte sie tief Luft und wollte etwas fazen. dann aber beugte sie si» vornüber und ging. Die Mutter riei sie!„Herrgott, aber 5iedwig," aber sie ging weiter, ohne sich umzusehen...„ �. .Was sagtest du, geschah heute nacht?" fragte der Dater.
„Ach, sie ist ja verrückt und sieht Gespenster . Jetzt kommt sie her und stört unsere gute Stimmung." Nein, die Stimmung war nicht so gut wie früher. Jetzt klingelte es. Jemand kam, um aufgenommen zu werden. Egholm bekam zornige nervöse Runzeln. Nichts nahm feine Kräfte so mit wie sein Beruf. Nie erlangte er Routine. Sein Gehirn war so beschaffen, daß er sozusagen bei jeder Auf- nähme die Photographie von Grund auf erfand, und da die Photographie längst aufgehört hatte, ihn zu interessieren, kostete ihm die Erfindung ungeheures Kopfzerbrechen. Egholm erfand das Gehen, wenn er über den Fußboden ging, und das Kauen, wenn er aß; aber diese und alle andern Dinge be- lustigten ihn ewig. Nur die Photographie— unglücklicherweise gerade sein Lebensunterhalt— langweilte ihn zu Tode. Als er im Wartezimmer gewesen war und zwei geputzte Bauernmädchen gebeten hatte, Platz zu nehmen, war seine Stimmung Sivert gegenüber verändert. „Warum bist du nicht gegangen?" sagte er.„Ich will dein Schmatzen nicht länger anhören." Sivert hatte den Mund ganz voll von Essen : jetzt ver- schlang er es ungekaut, so daß sein ungeheurer Adamsapfel heraussprang wie eine Ratte im Sack. „Sage mir nur," meinte er,„ehe ich gehe, abwich den Eindruck eines einigermaßen netten Burschen mache." Der Vater musterte ihn mit einem Blick und sagte:„Nein, du gleichst einem abscheulichen hausbackenen Idioten." „Aber ist es da nicht klüger, die Sache aufzuschieben...?" „Aufzuschieben? Willst du den Mund halten und machen. daß du wegkommst!" „Du mußt mir eine Krone leihen, um mein Aussehen ein bißchen zu flicken." „Erpressung! Na, nimm sie und fort mit dir. Und bist du nicht in einer Stunde mit einem guten Ergebnis wieder da, dann werde ich-- 1" Damit eilte der Vater in seine Dunkelkammer.� Aber Sivert schien es, daß er selbst in etwas noch Schwärzeres ginge. Ein paar Stunden vergehen. Es wird Mittag. Emanuel kommt aus der Schule und erhält von der Mutter den Be- richt über die Ereignisse des Vormittags. Hin und wieder geht der Vater unruhig durch die Küche. Man sieht seinem finsteren Ausdruck an. daß er sich in großer Spannung be- findet. Wenn er sich nähert, schweigen die Mutter und Emanuel. Jetzt, da der Wahnsinn Wirklichkeit geworden ist. hat er jeden Anstrich von Komik verloren. Wo bleibt Sivert?
Es wäre ja denkbar, daß er jetzt, wo er keinen Ausweg mehr sieht, ins Wasser gesprungen ist. Wird Hedwig ihre Stellung behalten dürfen, wenn der Klatsch die Geschichte zu fassen bekommt? Solche bitteren Gedanken macht Frau Egholm sich, während sie in ihrem Haar wühlt und sich mit ihren Koch- geräten beschäftigt. Und jetzt muß sie mitten darin denken, daß dies ja nichts ist gegen das, was sie früher durchmachen mußte. Was Egholm denkt, weiß niemand. Augenblicklich sitzt er an seinem Arbeitstisch, den Kopf schwerbrütend in beiden Händen. Emanuel zieht seine Mutter am Aermel. Sie steht auf: Draußen unterm Kirschbaum steht Sivert zusammengefallen und starrt hinein. Sie machen ihm beruhigende Zeichen, aber er schüttelt bloß den Kopf. Da erhebt Egholm sich und öfstiet die Tür. Er erblickt Sivert und tritt mit schweren Schritten zu ihm hinaus. „In Teufels Namen, was stehst du da und mimst den abgeschnittenen Erhenkten?" sagte er wütend. Jetzt sollte er weglaufen, denkt Emanuel. Statt zu laufen, steckt Sivert ein bebendes, aber stark die Zähne zeigendes Lächeln auf und sagte:„Ich darf mich wohl ein bißchen erholen hinterher?" Der Vater wird verwirrt. „Nun ja, aber komm wenigstens herein.— Gib ihm Essen !" Sivert richtete sich auf und folgte ihm ganz in die Stube. Die Mutter, Emanuel und er wechselten verständnislose Blicke. „Also, was hast du ihr gesagt? Beeil dich ein bißchen." „Ach, es wurde über mehrere recht interessante Dinge gc- sprachen." „Erwähntest du ihres Vaters Tod und Begräbnis? Das würde ich getan haben." „Ja. damit fing ich gerade an." „Und dann?" „Es verging ja einig« Zeit mit dem Gerede. Der Sarg feit gut und stark für den Preis gewesen, sagte sie." '„Das ist sicher eine reizende Unterhaltung zwischen euch beiden gewesen. Weiter." „Was kostete er?"—„Dreißig Kronen".—„Wo war er her?"—„Von Andreasen."—„War er schwarz?"—„Ja." —„Wieviel Griffe?"—„Acht Griffe." (Fortsetzung folgt.)