Abendausgabe
Nr. 541 43. Jahrgang Ausgabe B Nr. 268
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10 Pfennig
Dienstag
16. November 1926
Vorwärts=
Berliner Volksblatt
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Zentralorgan der Sozialdemokratifchen Partei Deutschlands
Mussolini und das Ausland.
Nach der Lockspizzellieferung die Freundschaftstöne.
Paris , 16. November.( Eigener Drahtbericht.) In einem langen Interview, das Mussolini dem Vertreter des„ Matin" gewährt hat, hat der italienische Diktator plöglich seine bisher alles andere denn freundschaftliche Haltung gegenüber Frankreich geändert. Das Interview strotzt von Anfang bis Ende von Freundschafts- und Sympathie erklärungen des italienischen Diktators an die Adresse der französischen Republik . Die 3 wischenfälle der letzten Wochen bedauert Mussolini , wie er versichert, außerordentlich und erklärt, er habe Maßregeln von unerhörter Strenge" ergriffen, um ihrer Wiederkehr vorzubeugen. Er tönne die Garantie übernehmen, daß sie sich nicht wiederholen werden. Freundschaftstöne auch gegenüber Jugoslawien . Belgrad , 16. November. ( WTB.) Der italienische Gesandte Bodrero äußerte sich über die Beziehungen zwischen Italien Bobrero äußerte sich über die Beziehungen zwischen Italien und Jugoslawien : Die Beziehungen zwischen beiden Regierungen find die besten. Wie bei allen Staaten mit gemeinsamen Grenzen find Differenzen, wie in den letzten Tagen, unvermeidlich. Solche Differenzen werden aber im Sinne einer vollständigen lebereinstimmung beigelegt. Ich kann versichern, das Ziel der Politik Mussolinis auf dem Balkan ist der Friede, da die wirtschaftliche Entwicklung nicht nur des, Balkans, sondern überhaupt durch friedliche Verhandlungen gesichert wird. Die Instruktionen unferer Regierung selbst dienen alle der Erhaltung des Friedens und der Ruhe.(!) Die wirtschaftlichen Beziehungen der beiden Länder sind die besten.
Galgenluftspiele der Faschisten.
Aus Chiasso wird uns berichtet:
Die ganze Bestialität der Faschistengesinnung zeigen die symbolischen Schaustellungen an den Galgen in zahlreichen Orten. Gegenstand einer solch unmenschlichen Schauftellung ist z. B. der frühere Abgeordnete Gavazzoni von der katholischen Volkspartei in Bergamo gewesen. Aus seiner. Wohnung hervorgeholt, wurde er unter dauernden Schlägen und Bespeiungen aus der Stadt ins freie Gelände hinausgetrieben, wo ein großer Galgen errichtet worden war. Man legte ihm einen Strick um den Hals, ließ ihn das Brett besteigen und drohte eine ganze Zeit lang, ihm den Todesstoß zu versetzen, während das faschistische Pack um den Galgen herum einen wilden Tanz aufführte. Bevor er freigelassen wurde, schlug man ihn noch blutig. Gava 330 ni liegt jetzt in bedenklichem Zustande danieder!
Die uneinige Mitte.
In Treviso wurden die Brüder Ronfini mit dem Strid um den Hals unter einem Hagel von Stod und Peitschenhieben, Besudelungen und Beschimpfungen um die Stadt herum an das Stadttor geführt, wo ein Galgen errichtet war. Auch hier dasselbe Schauspiel: die Komödie des Hängens, der Tanz um die Richtstätte und schließlich die Berprügelung, so daß die beiden Opfer mehr tot als lebendig am Blaze blieben. In Vittorio Veneto wurden mitten in der Nacht etwa dreißig Republikaner aus ihren Woh nungen herausgeholt und mußten auf der Straße die ganze Nadyt hindurch vor dem faschistischen Gesindel Spießruten laufen. Die Faschisten in Como können das Verdienst für sich in Anspruch nehmen, eine neue Scheußlichkeit erfunden zu haben: sie bemalten ihren Gegnern das Geficht mit dreierlei Farben. Dies Abenteuer widerfuhr u. a. auch verschiedenen Fabrikanten und dem in der ganzen Gegend allgemein geschätzten und bekannten Indu striellen Rosasco. Er hatte sich des schweren Berbrechens schuldig gemacht, mit der Vorherrschaft der Abenteurer, die in Como den Faschismus repräsentieren, nicht ganz einverstanden zu sein. Fügen wir hinzu, daß in Como die Brügelszenen und Zerstörungen überaus zahlreich gewesen sind. Am eigenen Leibe verspürten das u. a. die früheren sozialistischen Abgeordneten Beltramini- Fron tini und Noseda sowie der Geistliche Don Primo Mo. iana, der mit Stockschlägen bearbeitet und sodann gemeinsam mit dem früheren Bürgermeister Rulli und allen nichtfaschistischen Rechtsanwälten Comos ins Gefängnis gesteckt wurde. störung der Billa des bekannten Finanzmannes Giuseppe In Mailand wurde von dem Blünderergesindel die 3er Toeplit, des Verwaltungsrats der Banca Commerciale, per sucht. Die Mailänder Chronik der faschistischen Schreckensherrschaft hat noch nicht ihr Ende gefunden. Jeder Tag bringt neue Aus. schreitungen und neue Leiden. Der Fascio hatte offensichtlich eine Liste der reformistischen und maximalistischen Sozialisten der Stadt bei der Hand, und es scheint, als ob auch feiner verschont worden ist. Unter den Verwundeten befindet sich auch der sozialistische Abgeordnete Bentini. Das Bureau des früheren Bürgermeisters von Mailand , des sozialistischen Abgeordneten Caldara, ist völlig und systematisch zerstört worden.
In Turin richtete sich die faschistische Zerstörungswut hauptfächlich gegen die Bureaus der Rechtsanwälte. Das Ziel dieses Vorgehens wird einleuchtend, wenn man erfährt, daß dabei jämt fiche Strafatten usw. vernichtet wurden, was für die einen ein ebenso großer, Schaden wie für die anderen ein Borteil gewefen ist.
Aus Rom fommt die Nachricht, daß dort die Wohnung des früheren italienischen Außenministers, des Senators Graf Sforza, demoliert worden ist. Dieser Zerstörung fielen u. a. auch äußerst wertvolle antike Möbel und Preziosen zum Opfer.
tag zusammen und wird dabei vermutlich ein Brogramm neuer Forderungen, namentlich auf sozialem und Steuergebiet entwerfen, dessen Annahme die Partei zur Bedingung für ihr weiteres Berbleiben in der Regierung machen wird. Dieses Programm wird dann zunächst dem Generalrat der Partei, eventuell einem außenordentlichen Barteitag unterbreitet werden. In der Partei herrscht die Ansicht vor, daß die Sozialisten jedenfalls noch einige Monate in der Regierung bleiben dürften.
Volkspartei gegen Zentrum. Die ,, Nationalliberale Correspondenz" veröffentlicht einen Aufsatz, der sich noch einmal mit den letzten Vorgängen im Haushaltsausschuß des Reichstags beschäftigt und mit bemerkenswerter Schärfe gegen das Zentrum Stellung nimmt. Dieses hatte sich bekanntlich dagegen erklärt, daß durch einen Nachtragsetat neue Stellen im Reichsverkehrsministerium geschaffen werden sollen und hatte die Bertagung diefer Angelegenheit bis zur Verabschiedung des Haushalts für 1927 erzwungen. Das voltsparteiliche Organ erklärt, daß Der Eindruck des oberschlesischen Wahlergebuisses. das Zentrum für diese Schlappe der Regierung die Warschau , 16. November. ( WTB.) Das Ergebnis der GemeindeBerantwortung trage und erwartet mit Spannung die Stel- wahlen in Ostoberschlesien hat die schlimmsten Befürchtun lungnahme derselben Partei zu den Forderungen, die das gen der polnischen Nationalisten übertroffen. Diese Grund Reichsarbeitsministerium ( Dr. Brauns) in der- stimmung fommt auch in der polnischen Presse zu sehr lebhaftem selben Richtung, wie das Verkehrsministerium erhebt. Daran Ausdruc. werden dann folgende zugespitzte Bemerkungen geknüpft:
Nach preußischem Muster scheint überhaupt das Zentrum seine Mitarbeit in der Regierung nicht ohne Erfolg zur Besetzung wichtiger Stellen mit Parteianhängern zu verwenden. In dieser Beziehung ist z. B. die Stellenbesetzung in der Reichskanzlei, soweit die höheren Beamten in Frage kommen, besonders bemerkenswert. Wir denken natürlich nicht daran, uns irgendwie gegen berechtigte Ansprüche des fatholischen Boltsteils zu menden; aber es erscheint uns doch angebracht, daß auch von den übrigen Parteien der Frage der Stellenbelegung eine erhöhte Aufmertfamteit zugewandt wird.
Derartige Auseinandersehungen, in voller Deffentlichkeit geführt, laffen nicht darauf schließen, daß es zwischen den Parteien der Mitte ganz wie unter Brüdern zugeht.
,, Der Graf hat es befohlen!"
Der deutschnationale Abg. Dr. Ha e dentamp sendet der Nationalliberale Korrespondenz" eine Berichtigung, in der er es für falsch erklärt, daß er erst durch den Ruf Lambachs, der Graf hat es befohlen" dazu veranlaßt worden fei, im Sozialpolitischen Ausschuß für den kommunistischen Antrag zu stimmen. Er will diesen Ruf überhaupt nicht gehört haben, bestreitet aber nicht, daß er gefallen ist.
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Die Koalitionsfrage in Belgien . Die Sozialisten stellen neue Forderungen. Brüssel , 16. November.( Eigener Drahtbericht.) Mit dem Rüdtritt Francpuis wird die Frage der Drei- Parteienregierung wieder zur Discussion gestellt, da diese eigentlich nur die Finanz fanierung zur Aufgabe hatte. Insbesondere handelt es sich um Die Frage der weiteren Beteiligung der Sozialisten an der Regierung. Der sozialdemokratische Parteivorstand tritt am Diens
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Das hiesige nationaldemokratische Blatt versucht das Wahlergebnis auf den Bruch der polnischen Einheitsfront wobei ganz außer acht gelassen wird, daß auch die Deutschen auf mehreren Listen gewählt haben zurückzuführen sowie auf einen angeblich von seiten der Verwaltungen der deutschen Gruben auf die Arbeiterschaft ausgeübten Terror.
Das Organ Pilsudskis, Glos Prawdy", wiederum schreibt die Schuld der Niederlage der fünfjährigen Mißwirtschaft des früheren Systems zu, dessen entscheidender Bertreter Rorfanty war. Das Ergebnis des Heldenmuts der Aufständi schen und der blutigen Aufopferungen des arbeitenden Bolles Ober schlesiens ist, sagt das Blatt, in bedeutendem Maße vertan worden. Das sozialdemokratische Blatt widerspricht der Bersion, daß die größere Anzahl polnischer Listen den deutschen Sieg verschuldet hätte, und nennt als wahre Gründe der polnischen Nieder lage: die Korruptionspolitik Korfantys und die fapitalistische Einstellung aller bisherigen polnischen Regierungen, die das wertvollste und opferfreudigfte Element Schlesiens, die Arbeiterschaft, dem polnischen Staate entfremdet hätten.
Parlaments auflösung in Ungarn . Zusammentritt des neuen Parlaments im Januar. Budapest , 16. November. ( WTB.) In der heutigen Sigung der Nationalversammlung wurde das Handschreiben des Reichsverwesers verlesen, durch welches die Beratungen der seit dem 16. Juni 1922 tagenden Nationalversammlung für beendet erklärt wurden. Die Nationalversammlung ist damit aufgelöst. Da die Nationalversammlung, so heißt es in dem Schreiben, im ,, Geiste der angestammten Verfassung" durch die Schaffung des Gefeßes über das Oberhaus das Zweitammerfystem wieder eingeführt hat, werden beide Häufer des neuen Reichstages auf den 25. Januar 1927 nach Budapest einberufen,
Sowjetrußlands Afienpolitik.
Das Erbe des Zaren- Imperalismus.
Bon Dr. Artasches beghian.
Die politischen Vorgänge im Orient sind höchst symptomatisch für die zu erwartende außenpolitische Entwicklung in Asien . In Verbindung damit steht auch die Odessa er 3usammenkunft Tschitscherins mit dem türkischen Außenminister Tewfit Rüdschdi Bei, in Begleitung Sedia Beis, des Moskauer Gesandten der Angora- Regierung. Von größerer allgemeinpolitischer Tragweite ist die Konfe renz sowjetrussischer und asiatischer Diplomaten in Angora. Daran nehmen teil: Suriz, der Sowjetgesandte in Angora, Dr. Sze, chinesischer Gesandter in Washington , Timurtasch Khan, früher persischer Hofminister, ferner der afghanische Gesandte in Angora und der türkische Gesandte in Rabul; auch Premierminister Ismet Bascha ist aktiv beteiligt. Führende Rolle bei all diesen Angelegenheiten spielt Surig, früher sowjetrussischer Gesandter in Kabul . Die Odessaer Zusammenkunft erinnert in vielem an diejenige des russischen und türkischen Außenministers in Paris am 17. Dezember 1925, bei der das vielbesprochene türkischrussische Garantie- und Neutralitätsabkommen unterzeichnet wurde.
zweifelsohne bald neue Abkommen folgen. Die russischDen Verhandlungen in Odessa und Angora werden und Angora treten hiermit in eine neue Phase. Es ist nämasiatischen Beziehungen und besonders die zwischen Moskau lich fein Geheimnis mehr, daß Moskau einen asiatischen Völkerbund plant, dem jedoch ein östliches Locarno vorangehen soll, gedacht als Gegengewicht des westlichen Lo die Moskauer offiziöse swestija":„ Der Genfer Bund will carno und des Genfer Bölferbundes. Erst vor furzem schrieb die Völker des Ostens in Streit bringen und dadurch ihre gemeinsame Front gegen den Imperialismus schwächen." In einem anderen Artikel bezeichnet dasselbe Blatt den Völkerbund als den der großen Mächte, dem, als einem Werkzeuge nicht des Friedens, sondern gerade des Entgegengesezten" die imperialistische Natur eigen sei. Dabei unterläßt das Kremlorgan selbstverständlich, vom eigenen Imperialismus, dem wahren Erben des zaristischen, ein Wort zu sprechen. 126
Schon von Anfang an hat die Sowjetmacht die alte zaristische Parole der Drientpolitif: Rußlands 3ufunft liegt in Asien " sich zur" Richtschnur gemacht. Tschitscherin selbst stammt ja auch aus der altrussischen Dinfo= matenschule. Wenn auch unter anderem Namen und mit neueren Methoden, so ist doch der russische Expan= fionsdrang nach dem Osten heute nicht weniger mächtig als vor Jahrzehnten. Wie die Vertreter des Zaren fühlen sich heute auch bolfchemistische Statthalter und Beamte im Kaukasus und in Transfaspien, in Chiwa und Buchara , in Sibirien und Zentralafien, ja in der Mongolei und der Mandschurei wie zu Hause. Weiter stehen sie hoffnungsvoll auch an den Grenzen Afghanistans , Persiens und Chinas . Daß nun der bolschewistische Imperialismus bei seinem Vordringen in Asien mit demjenigen Englands aneinander gerät, ist logisch. Die sowjetrussische Asienerpansion hängt auch weiter mit dem durchaus asiatischen Wesen des russischen Kommunismus zusammen, den Karl Kautsky treffend als den ,, tatarischen Sozialismus" bezeichnet hat. Nicht umsonst findet also die bolichemistische Asienpolitik gerade bei den monarchistischen Emigranten den größten Beifall! Auch die geistige Verwandtschaft der Bolschewisten mit den reattionär- fonservativen Kreisen der sogenannten russischen Eurasier, die sich entschieden von Europa - Rußland lossagen und das Geficht ganz nach Asien wenden, liegt auf der Hand. Keines der Länder des europäischen Kontinents ist auch im entferntesten Maße wirtschaftlich, politisch und geistig mit Asien und dem ganzen Orient so tief verbunden wie das heutige Rußland," sagt Pawlowitsch, einer der hervorragendften Asienpolitiker des Bolschewismus, und er nennt das Sowjetreich Eurasia .
Die Anfänge der bolfchemistischen Asienpolitik fallen in den Winter 1917/18. In dem ersten Manifeft: ,, An die Böller des Drienis" verkündete Lenin diesen allen, auch denjenigen des russischen Orients, das volle Selbstbestimmungsrecht bis zur Loslösung vom Reich". Der Bafuer Rongreß im Sommer 1920 war der erste große Auftakt bolfchemistisch- asiatischen Zusammengehens. Radet und Sinomjem verbrüderten sich dort mit Enwer Pascha und anderen feudalistischen Machthabern Asiens , um es gemeinsam von dem ,, europäischen Joche" zu befreien. 1921 folgten Freundschaftsverträge mit der Türkei , Bersien und Afgha= nistan, und 1924 mit China . Es folgte der Pariser Bertrag 1925 und am 31. August 1926 das Garantie- und Neutralitätsablommen mit Afghanistan ; eines mit Bersien steht bevor. In Angora wird jetzt eben ein sogenannter Dachpertrag zwischen Sowjetrußland und den vier genannten asiatischen Staaten bearbeitet.
Die sowjetrussische Asienpolitik ist in der Tat manchen orientalischen Bölfern zugute gekommen. Ohne die attine Unterstügung Mostaus hätte zum Beispiel unmöglich ste mal Bajch a seine militärischen Siege in Kleinasien und seinen diplomatischen Erfolg in Lausanne ernten können. Sowjetrußland hat hierbei mit England, dem traditionellen Schüßer der Erhaltung des türkischen Reiches, die Rolle getauscht. Selbstverständlich lassen sich die Bolschewisten dabei einzig und allein von eigenen Interessen leiten, ganz besonders in der