Nr. 57343.Jahrgang
1. Beilage des Vorwärts
Sonntag, 5. Dezember 1926
Krommer
Bor den Toren Berlins liegt sterbendes Land. Meilenweit wandert der Fuß auf wohlgepflegten Chausseen, vorüber an Wiesen und Aeckern, in denen sich Jahr um Jahr die Sumpfvegetation weiterfrißt, Land, das verdirbt und verschlammt. Dort, wo früher wohlgepflegte Kühe weideten, wo prächtige Bauernhöfe standen, ist Wasserwüste, trostlose Einsamkeit geworden. Zwei Städte, Lieben walde und Zehdenid, und zahlreiche Dörfer sind von diesem sich Jahr um Jahr mehrenden Uebelstand in ihrer Eristenz bedroht, wer irgendwie tann, verläßt das sterbende Land. Die Regierung aber, die seit Jahren diese Mißstände fennt, scheint hier alles zu tun, um die Bevölkerung davon überzeugen zu wollen, daß sie von der Republik keine Hilfe und kein Verständnis zu erwarten habe.
Vor kurzem wurde die Berliner Deffentlichkeit von der Mitteilung eines Brüdeneinsturzes im Gebiet der Havel bei Lieben walde überrascht. Wer traut der fanften, gutmütigen Havel auch eine solche Kraft zu! An fich war die Havel ja immer ein friedlicher Fluß bis zu dem Augenblic, als ihr Bett übermäßig vertrautete und verfandete und ihr aus dem mecklenburgischen Seengebiet Wassermassen in einem Umfang zugesandt wurden, die das immer Schmaler werdende Bett nicht mehr zu fassen vermochte. Das Gebiet der fogenannten schnellen Havel zwischen Zehdenid und Lieben walde beginnt langsam zu einem ungeheuren See zu werden. Die schnelle Havel ist ein Borfluter des 278 Quadratkilometer großen Müritzsees und anderer mecklenburgischer Seen, sowie des Seegeländes bei Templin und Lychen . Durch Verträge hatten sich die Medlenburger verpflichtet, höchstens 0,9 bis 4,8 Rubifmeter Wasser in der Sefunde nach Süden in die Havel fließen zu lassen. Wasserfachverständige aber haben festgestellt, daß in der Sekunde 16 bis 22 Kubikmeter Wasser von der Havel aufgenommen werden, so daß fie automatisch über ihre Ufer tritt, und daß weite Wiesenflächen ffändig vom Wasser überspült werden. Die Tragödie der Havelgegenden begann eigentlich mit dem Bau des Malzer Kanals. Sie erreichte ihren Höhepunkt nach der Eröffnung des Großschiffahrtsweges Berlin - Stettin . Die Abwässer der industriellen Anlagen, die in diesem Gebiet entstanden, sowie Meliorationen trugen zur Erhöhung der Wassernot bei.
an 150 Häuser unter Wasser. Das Wasser steht in den Kellern etwa einen halben bis einen Meter hoch. So entsteht Schwamm in den Gebäuden, der Gefundheitszustand der Bewohner ist auf das Schlimmste bedroht. Aber auch die Schiffahrtsintereffen werden durch diese katastrophalen Zustände empfindlich geschädigt. Der Abtransport der Produkte der Zehdenicker Ziegeleien ist höchst unwirtschaftlich und teuer, da die vorhandenen Wasserwege infolge ihrer Flachheit nicht den Gebrauch moderner Schiffe gestatten. So sinken die Erwerbsmöglichkeiten der gesamten Bevölkerung. Das findet auch in dem Steuerauffommen dieser Gemeinden beredten Ausdrud. Die finanziellen Schwierigkeiten wachsen in einem Ausmaß, daß die Gemeinden für ihren Bestand fürchten müssen. In der Stadt Liebenwalde sind Handwerksgesellen taum noch zu finden. Das Städtchen schläft heute und wird so lange schlafen, als es vom Hochwasser bedroht ist..
Und was geschieht?
Jeder Mensch mit gesundem Menschenverstand fragt sich, wie ist es möglich, daß sich vor den Toren Berlins , gleichsam unter den Augen der zuständigen Behörden Verhältnisse entwideln fonnten,
durch die das Boltsvermögen Jahr um Jahr um millionen geschädigt wird, und durch die die Stimmung der Bevölkerung in feiner Hinsicht verbessert wird. Wie ist es möglich, daß man bei dem großen Stand von Arbeitslosen nicht Arbeitsmöglichkeiten in einem Gebiet schafft, die auf Jahre hindurch Tausende von Menschen beschäftigen könnten. Wenn man den Gang der Verhandlungen in dieser Angelegenheit verfolgt, wenn man die unzähligen Vorstellunden der Landratsämter, der Gemeinden und der Geschädigten betrachtet, dann muß man zu der Ueberzeugung kommen, daß hier von gewissen Behörden absichtlich langsam und widerwillig gearbeitet wird. Man hat der Regierung ganz bestimmte Borschläge für die Abhilfe dieser Mißstände gemacht. Die Regierung selbst sah auch bereits in den Jahren 1923/24 einen Plan vor, der den Ausbau der schnellen Havel für eine Aufnahmefähigkeit von 18 Rubikmeter pro Sekunde zum Ziel hatte. Nach dem oben Angeführten ist dieser Ausbau völlig ungenügend. Daneben wäre es notwendig, den 50 Kilometer langen Boßfanal zu erweitern, ein Plan, der schon feit 1905 ständig diskutiert wird und dessen Verwirklichung auch die Schiffahrt freudig begrüßen würde. Vor allem aber würde dann statt drei Schleusen alter Art eine einzige moderne vorhanden sein. Allein dieses Projekt könnte auf die Dauer Abhilfe schaffen, um das heute überschwemmte Land der Siedlung wiederzugeben. 1923 hatten sich die Kreise an den Preußischen Landtag gewandt, der auch beschloß, den Boßkanal ausbauen zu lassen. Im Zusammenhang mit diesem Projekt stand dann auch die Regulierung des von Often her in die Havel mündenden Döllenfließes, des Rohrgrabens und einiger anderer fleiner Gewässer. Die Sache schien in Fluß zu tommen, da aber stockte sie plöglich, weil zunächst die Wasserstraßenverwaltung und auch der Oberfischmeister ein Gutachten abgeben sollten, ob durch diese Arbeiten nicht etwa andere Interessenten gefchädigt werden. Die Wasserstraßenverwaltung und die Forstverwaltung haben schnell gearbeitet, der preußische Oberfischmeister aber, dessen Erträgnisse aus den in Frage kommenden Gewässern m preußischen Etat mit etwa 50 Mart angesetzt sind, hat es bis zum heutigen Tage nicht für nötig gehalten, eine Antwort zu erfeilen. Im ganzen ist bisher nichts weiter geschehen, als daß man eine Unmenge von Sigungen abgehalten und Bereifungen vorgenommen hat, daß man Ausschüsse einsetzte und die Dinge zu den Aften nahm. Die Aftenschränke füllen sich, die Akten überleben die Dezernenten, die die Arbeiten begonnen haben, die neuen Dezernenten bei den Behörden wissen von den Dingen in der Regel nicht viel. So ist denn der ganze Erfolg aller Bemühungen gleich Null anzusetzen.
Die Regierung ist zwar für Instandhaltung der nicht mehr bemußten Wasserverfehrswege verpflichtet. Sie müßte für die Instandhaltung der schnellen Havel etwa 16 000 Mart jährlich aufwenden. Sie gibt aber nur 3000 Mart für die nicht mehr benutzte Havel aus, die nun dem freien Spiel der Kräfte unterliegt, der Berkrautung und der Bildung von Triebfandbänken ausgesetzt ist. Das Bett der Havel , das höchstens 9 Kubikmeter Wasser aufzunehmen vermag, wird alles in allem von 26 Kubikmetern in der Sekunde durchflutet. Die Folge davon ist, daß 16 000-18 000 morgen Land im Gebiet des Kreises Niederbarnim und fast ebenso viel im Gebiet des Kreises Templin ffändiges Ueberschwemmungsgebiet geworden sind. Der Heuertrag ist um rund 150 000 3entner im Jahr zurückgegangen; der hier dadurch allein entstehende Schaden beträgt eine halbe Million Goldmark pro Jahr. Bauerngehöfte, die früher Hunderte von Zentnern Seu verkaufen konnten, müssen heute ebenso viel Heu einkaufen, wenn sie ihr Vieh erhalten wollen. In der legten Zeit aber macht sich die Lungenschwindsucht unter dem Vieh diefer Ueberschwemmungsgebiete immer mehr bemerkbar. In ber Stadt Zehdenick , die völlig vom Wasser umgeben ist, stehen Durch Hochwasser unterspülte Brücke bei Liebenwalde . reichen sollen.
Die Wunder der Klara van Haag.
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,, Sie sind viel gereift. Auf dem Besup gewesen. Ich auch." ,, Nein, ich tam nicht weiter als Rom , dann zogen wir nordwärts und fuhren mit dem Livornoer Dampfer. Aber den Besuv kennt doch jeder."
,, Sie malen vielleicht nach Posttarten. Das macht wohl nicht das geringste, daß Sie nicht gesehen haben, was Sie malen, mie?"
Der Bureaukratismus hat hier Triumphe gefeiert, er hat das Bolt um Millionen geschädigt, er hat Berbitterung in Tausende von arbeitsamen Menschen hineingetragen, und leider besteht die nicht unbegründete Aussicht, daß, wenn hier nicht mit eisernem Besen dazwischen gefahren wird, diese standalösen Zustände verewigt werden. Es ist Zeit, daß die Deffentlichkeit von diesem Verbrechen, das hier an einem ehemals fruchtbaren Gebiet begangen wird, erfährt, und daß mit dem Bersagen der zuständigen Stellen endlich Schluß gemacht wird. Die Mittel, die zur Behebung der Mißstände notwendig sind, fönnen zum Teil aus der produktiven Erwerbslosenfürsorge gedeckt werden, sie müssen aufgebracht werden, wenn die sich jährlich summierenden Schäden nicht eine geradezu phantastische Höhe er
ziehen. Er war in irgendeinen Gedanken gefallen, während er auf sein Bild wartete. Welchen Blick er hatte!
,, Und Sie haben dafür kein Vorbild gehabt?" ,, Nein, ich habe sie mir nur gedacht. Aber ich glaube, man tann sich eine Mutter besser denken als zum Beispiel den Befuv.
"
,, Sie sind ja wirklich ein Künstler," sagte die Gnädige feurig und begegnete seinem Blick.
Aus dem Dänischen überseßt von Ermin Magnus. ,, Sie sind vielleicht in jeder Beziehung vollkommen?" Johan schüttelte mild den Kopf und sagte: Wer ist das wohl? Der Professor wohl auch nicht. Ich habe die Kirchenarbeit übernommen, und die dauert wenigstens ein Jahr. Außerdem tann ich wohl etwas von dem, was meine Spezial tät ist: neue Stüde machen und alte verändern. Kompoſition, wie man es nennt. Da war ein Musiker in einem Doch, man muß sehen, was man malt. Die ganze Zeit fehen nach der einen, dann nach der anderen Seite, als suchte er
größeren Café in München . Wünsch hieß er; der sagte: Humberttausende können spielen für einen, der komponieren fann Es ist etwas Wahres an dem Wort. Dagegen will ich gern mit dem Profeffor reden, ob er meine Stüde in Noten aufschreiben will, damit sie herausgegeben und verkauft werden können. Daran habe ich oft gedacht."
Ihr Götter! Er war schlimmer als schlimm, dieser komponierende Malerfleg!
,, Es wäre doch beffer für Sie, wenn Sie selbst die Noten fennen würden, und nicht jedesmal, wenn Sie ein neues Süd machen, den Professor zur Hilfe haben müßten. Finden Sie nicht?"
,, Ja, es wäre herrlich, wenn man die Noten kennte," sagte Johan Fors träumerisch.
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,, Aber ich will nicht nach Kopenhagen in die Musikschule - oder wie man sie nennt. Ich habe feine Beit und man lernt dort gewiß nicht das, was meine Spezialität ist." „ Ich glaube selber auch, daß wir die Sache auf unbestimmte Zeit aufschieben," fagte die Gnädige mit einem hohen Maß von Ernst. Aber dann schide ich nach Ihnen, wenn Hans Juhl kommt. Sind Ihre Stüde gut, so fezt er sie in Noten. Dafür stehe ich ein."
,, Danke. Ja, die Stücke sind schon gut. Sonst hätte ich fie selbst verworfen. Ich halte nicht die Hand über etwas, weil es von mir ist zum Beispiel, was die Bilder betrifft.
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Weg- taputt!"
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,, So, Sie malen auch Bilder?" ,, Hab' es getan."
,, Blumen oder Landschaften oder...?" ,, Alles. Fischer, Besuv, und König Christian zu Pferde. Aber ich will nicht mehr. Ein, zwei, drei Tage zu stehen, am 4-5-6 Kronen zu verdienen"
Johan war so tief in der Achtung der Gnädigen ges funten, daß sie ihn nicht einmal mehr amüsant fand. Sie nahm sich vor, ihn zu beleidigen, ehe sie ging..
Er antwortete, ohne sich einen zu
Die Hand muß von selbst arbeiten, bis man fertig ist. Aber für solche Auktionen- und wenn er nicht höher geht als bis fechs Kronen... Uebrigens habe ich ein gutes Bild gemacht von meiner Mutter, die starb, als ich nur sechs Jahre alt war, und an die ich mich gar nicht erinnern kann. Ich hab es in der Tasche, und wenn..."
"
Johann setzte die Farbentöpfe hin und blätterte in einer dicken Brieftasche.
"
,, Hier. er zog eine Zeichnung hervor, die an den Rändern verschlissen und schmutzig war.
..Haben Sie das wirklich gezeichnet?" sagte Frau van Haag. Ihr Mund war leicht geöffnet und ihre Augen wurden groß, gleichsam saugend. Das ist großartig!"
,, Ja, es ist gut, nicht viele machen mir das nach." Ein Runzeln zeigte sich hastig auf der Stirn der Gnädigen, und ein Berdacht durchfuhr sie. Dieser selbstgefällige junge Mann war doch wohl nicht ehrlich. Die Zeichnung war natürlich eine Ropie!
Sie senkte die Zeichnung und sah ihn forschend an. Aber Johan Fors stand da, das Gesicht voller Beweise, daß die Zeichnung echt war, denn es bestand eine unverkennbare Aehnlichkeit zwischen dem feinen Frauentopf auf dem Papier und ihm. Gerade so mußte seine Mutter oder seine Schwester aussehen. Die Zeichnung war mit haarfeinen Federstrichen ausgeführt, fie glich einem Kupferstich. Kühn schwangen sich die Linien und ließen einen feinen Frauentopf von seltener Bracht lächeln
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Die Gnädige hob noch einmal die Augen von ihr zu ihm. Ja, man konnte es nicht leugnen entschied sie bei sich Johan war nun einmal ein außerordentlich schöner Mann. Die sintende Sonne schien ihm gerade in die Augen. Hin und wieder blinzelte er ruhig, ohne sonst eine Miene zu ver
Aber Johan nahm ruhig seine Zeichnung wieder und legte sie sorgfältig in die Brieftasche, die er wieder an ihren Platz steckte. Hob darauf seine Farbentöpfe auf sie hingen jeder an einem Fingerhafen-, drehte den Kopf schnell erst
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sich dann auf und sagte mit langsamer Selbstverständlichkeit: ,, Nein, sonst gab es nichts Gutes. Nur auf meiner Geige!" sonst gab es nichts Gutes. Nur auf meiner Geige!"
11. Rapitel.
Der alte graue und fadenscheinige Zollassistent Poulsen hat viele Pflichten, aber die erste des Tages ist die schwierigste - vielleicht auch gleichzeitig die ehrenvollste und liebste-: er muß den Zollverwalter wecken und ihn zu seiner Amtsarbeit rufen. Poulsen erfüllt seine Pflicht sorgsam und mit demselben nervösen Beben wie ein junger Pastor, der sein erstes Begräbnis verrichtet. Zwanzig Minuten vor acht öffnet er das Bureau, hängt sein Zeug auf und beginnt, die Hände auf dem Rücken und die linke Schulter hochgezogen, auf dem Linoleum auf- und abzuwandern. Bei jeder Wendung sieht er scheu auf die Bureauuhr; er hat ein unauslösa= liches Mißtrauen, daß sie stehenbleiben wird. Mehrere Male vergleicht er sie mit seiner Taschenuhr. Fünf Minuten vor verläßt er das Bureau, nachdem er sich vor dem Spiegel gemustert hat, steigt geräuschlos außer wenn er fällt, was vorgekommen ist die Treppe hinauf und tritt in Hedwigs Küche. Er flopft nicht an, sondern zeigt sich wie ein Ge spenst. Raum, daß er grau und leblos nicht. Die Uhr hält er in der Hand und starrt auf sie wie auf eine Hypnotifierkugel
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deshalb fällt er zuweilen auf der Treppe. Hedwig ist nicht ausschließlich vom Liebesgott beseffen, sondern auch ein ganz flein wenig vom Nedteufel. Sie legt alle Art därmerzeugende Dinge vor die Tür, über die der brave Alte fallen und vor Schred sterben könnte. Rehrschaufel, Besen und ein Teebrett, das durch die halbe Küche rollt, bis es sich mit einem vernichtenden Geräusch niederläßt. Poulsen gewöhnt sich nie an diese Ueberraschungen; er steht steif, schmerzlich und ge= spreizt da, bis der Lärm fich gelegt hat.
( Fortsetzung folgt.)