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Abendausgabe

Nr. 592 43. Jahrgang Ausgabe B Nr. 293

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10 Pfennig

Donnerstag

16. Dezember 1926

Vorwärts=

Berliner Volksblatt

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Zentralorgan der Sozialdemokratifchen Partei Deutschlands  

Mißtrauensantrag gegen das Kabinett Finnlands   neue Regierung.

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Die Regierung Mary will nicht zurücktreten. klare Entscheidung.

Ein Kabinett sozialistischer Arbeit.

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das zweite

Das neue finnische Kabinett Tanner Die Sozialdemokratie fordert fozialdemokratische in der Reihe, der fünfzehn feit der 1917

Das Reichsfabinett trat heute früh um 9 1hr Der Sinn der reaktionären Tattif ist freilich zusammen, um über die Lage zu beraten, die durch den ein andrer. Der Tag" Hugenbergs plaudert ihn aus: gestrigen Beschluß der sozialdemokratischen Daß das Kabinett zurücktritt, wird für ganz unwahrscheinlich Reichstagsfraktion entstanden war. Es entschied gehalten. Wenn die Sozialdemokraten dann ihr Mißtrauensvotum einbringen, hängt das Schicksal des Kabinetts von den Stimmen der fich dahin, nicht zurüd zutreten, sondern vielmehr sein Deutschnationalen Bolkspartei ab, die nunmehr nach dem Beschluß weiteres Schicksal der Entscheidung des Reichstags zu über der Sozialdemokraten heute wichtige Beschlüsse zu fassen hat. lassen. Die Haltung der Deutschnationalen wird natürlich davon abhängen, ob die Regierung bei einem Mißtrauensvotum der Sozialdemokraten sich vorher mit den Deutschnatio nalen in Verbindung segt.

In der heutigen Reichstagsfizung, die von 12 Uhr mittags auf 2 Uhr nachmittags verschoben worden ist, wird der Reichs­fanzler Marg Erklärungen abgeben, die die innere Gesamt­fituation und die Zustände in der Reichswehr  betreffen.

Für die sozialdemokratische Fraktion wird, wie schon gemeldet, Scheidemann   sprechen. Die Fraktion at in ihrer heutigen Sigung nunmehr die Einbringung eines Mißtrauensantrages beschlossen, dessen Schicksal von der Haltung der Deutschnationalen abhängt.

Von der Volkspartei und von anderen Stellen aus werden Bersuche unternommen, um die Deutschnationalen zu einer Haltung zu bewegen, die der gegenwärtigen Regierung die weitere Existenz möglich macht. Ob diese Versuche Erfolg haben werden, steht dahin.

Einstweilen zeigen sich die Deutschnationalen fehr gereizt darüber, daß das Reichsfabinett einstimmig beschloffen hatte, in Berhandlungen über die Große Koalition einzutreten. Sie werden schwerlich ihre oppositionelle Haltung aufgeben, wenn ihnen nicht zusagen gemacht werden, daß sich die Politik der Reichsregierung nach einer anderen Richtung orientieren

wird.

Deutschnationale Anbiederungsversuche. Der Beschluß der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion, der den Rücktritt der Reichsregierung verlangt, aber gleich­zeitig die Bereitschaft der Partei, über die Bildung der Großen Koalition zu verhandeln zum Ausdrud bringt, hat in der bürgerlichen Bresse einige le berraschung hervor gerufen. Die agrarische Deutsche   Tageszeitung" spricht Don einem Affront gegen die bürgerlichen Bar teien, gegen Reichskanzler und Reichsregierung. Mit welchem Recht, das sei dahingestellt angesichts der Tatsache, daß ja auch die Regierungsparteien wie die Reichsregierung fich für die Große Koalition erklärt haben.

Die

Die volksparteiliche Presse äußert sich dazu nicht. Also die Deutschnationalen wollen in die Regierung. Haltung des Tag" und des Lokal- Anzeigers" ist sogar eine weitgehende Begründung für den sozialdemokratischen Be­schluß insofern, als die Reaktionäre damit rechnen, daß die Deutschnationalen bei der Deutschen Volkspartei und beim Bentrum einiges Entgegenkommen finden werden trotz der Erklärung dieser Barteien für die Große Koalition. Also tommt es jetzt darauf an, Klarheit zu schaffen. Die ,, Germania  ", das führende Blatt des Zentrums, übt an dem sozialdemokratischen Beschluß eine scharfe Kritik, die der reaktionären Auffassung entgegenkommt:

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Die foztaldemokratische Tattif, die gestern in der Fraktion mit sehr großer Mehrheit, aber nicht einstimmig festgelegt worden ist, fann nur als ein Nachgeben gegenüber ihrem radikalen Flügel auf gefaßt werden. Mit Bolitit hat eine solche Tattit wenig mehr zu tun. Es ist doch kaum damit zu rechnen, daß die Berhandlungen so beschleunigt werden können, daß noch vor Weihnachten eine neue Regierung zustandekommt. Bis zum Zu­sammentritt des Reichstages hätten wir im Falle des Rücktritts lediglich eine Geschäftsregierung, die doch allerhand nicht unwesent Itche außenpolitische Verhandlungen zu führen hat. Wir glauben nicht, daß die Reichsregierung und die Regierungsparteien viel Neigung zeigen werden, der sozialdemokratischen Forderung nachzukommen. Im Falle des Zusammen tommens der Großen Roalition hätte die Regierung sowieso zurüd treten müssen, um der Großen Koalition Platz zu machen, aber daß die Regierung zurücktritt, ohne daß die Sicherheit besteht, daß eine Mehrheitsregierung an ihre Stelle kommen fann, ist eine wenig politische Forderung. Kurzum: eine hoffnungsvoll sich an. bahnende neue Situation ist durch den sozialdemokratischen Beschluß auf das äußerste gefährdet worden.

Die Bossische Zeitung" deutet die Möglichkeit einer Berständigung mit der Regierung an; menn diese scheitern sollten, müffe eine Gesamtdemission des Kabinetts oder die Reichstagsauflösung erfolgen.

Ungarische Bergarbeiterknechtung.

Bethlens ,, Wahlfieg".

Budapest  , 16. Dezember.( Eigener Drahtbericht.) Da die Bethlen- Regierung über ihren wohlvorbereiteten Sieg in den Berg merfsbezirken triumphiert und sich beeilt, den unter dem größten Terror erzwungeren Wahlerfolg se hinzustellen, als wenn die Berg crbeiter aus Ueberzeugung der Sozialdemokratie den Rücken gefehrt und sich der Regierung angeschlossen hätten, ist es notwendig, die im ungarischen Kohlenbergbau herrschenden Berhältnisse ins richtige Licht zu stellen.

Die Bergleute bildeten in Ungarn   von jeher eine Kategorie der schlechtestbezahlten und in den elendesten Verhältnissen lebenden Ar. beiter. Zu einem menschlichen Dasein, zu leidlichen Werkswohnun­gen gelangten sie eigentlich nur während des Krieges, als der Wert der in Ungarn   geförderten Braunkohle stieg, mit ihm die Löhne und die Arbeitsbedingungen befferten sich. Damals begann auch die Or­ganisierung der Bergarbeiter, deren Mehrheit fulturell noch sehr rückständig war. Der Bergarbeiterverband wurde erst die Unternehmer die Produktion, ein großer Teil der Arbeiter wurde 1918 ins Leben gerufen. Nach dem Friedensschluß verringerten nach und nach entlaffen. Einer großen Zahl der arbeitslosen Berg leute blieb nichts übrig als auszuwandern. In Frankreich  arbeiten zurzeit ungefähr 4000 ungarische Bergarbeiter. Diese Emigration war auch für die Arbeiterbewegung ein schwerer Schlag. Die intelligentesten, am besten organisierten Arbeiter gingen auf diese Weise für die ungarische Bewegung verloren. Die Zuhausegebliebenen verfielen nach und nach in ein immer größeres Elend. Arbeitszeit und Löhne wurden furchtbar herunter­gedrückt. Das Elend, die Arbeitslosigkeit, die Ungewißheit ihrer Page, die Gefahr der Entlassung, welche als Damoklesschwert be. ständig über ihnen schwebte, trieb die Leute endlich in solch ent setzliche Berzweiflung, daß im Frühling dieses Jahres einige Ta fend Bergarbeiter von Salgótárjan fich auf den Weg machten, in der Absicht, zu Fuß nach dem ungefähr 100 Kilometer entfernten Budapest   zu maridhieren. Durch Graf Bethlens bewaffnete Macht wurde dieser Verzweiflungsplan der Berçarbeiter fchon am Anfang vereitelt.

Run tam aber der englische   Bergarbeiterkampf und damit

terrors

eine Konjunktur auch im ungarischen Kohlenbergbau. Die ver schuldeten, verhungerten, herabgekommenen Leute gelangten für einige Monate wieder zu besserem Verdienst. Jezt aber sieht die ungarische Kohlenproduktion wieder einem Rückfall entgegen, was man natürlich als eine überaus wirksame Waffe des Wahl. benützt. Man darf nicht vergessen, daß die Abstimmung in all diesen Bezirten öffentlich ist und daß die Wahlpräsidenten und Wahlkommissionen Direttoren, Aufseher. Ingenieure der Bergwerks. gesellschaften sind. Wer hat da noch den Opfermut, sich als Sozial­demokrat zu bekennen, was sichere Entlassung bedeutet?

erreichten Selbständigkeit des Landes gebildeten Regierungen - deutet auf einen Wendepunkt in der politisch- parlamenta rischen Entwicklung dieser nordischen Republik  . Die Gemein­schaft der Arbeiterparteien bei dem sogenannten ,, Roten Auf­ruhr des Jahres 1918 hatte eine tiefe Kluft zwischen ihnen und den bürgerlichen Barteien geschaffen. Aber während die Rommunisten ihre ursprüngliche Verbindung mit Moskau  nicht aufgeben wollten und deshalb noch im Jahre 1924 der Beraubung der Abgeordnetenmandate und der persönlichen Freiheit ausgesetzt waren, hat sich die Sozialdemokratie, die stärkste Partei des Landes, stetig und mit vollem Bewußt­fein der in praktischer parlamentarischer Arbeit bewährten Taftit, angenähert, wie sie ihr die Bruderparteien Schwedens  , Dänemarks   und Englands vorgezeichnet hatten.

auch der

Das neue Kabinett Tanner setzt sich denn auch fast aus­schließlich aus sehr gemäßigten Elementen der Partei zu­fammen; der Chef Bäinö Tanner ist der Direktor der großen Ronsumgenossenschaft Elanto", der Innenminister Itkonen, der Finanzminister Ryömä, ursprüng­lich Arzt, später Redakteur des Social- Demokraten", ent­hilfin des Sozialministers Miina Sillanpää  , ursprünglich Fa­nommen sind, sowie der Handelsminister Hupli und die Ge­britarbeiterin, später als Inspektorin der umfangreichen Gast­ſtätten Elantos". Außenminister ist Boionmaa, Pro­fessor der nordischen Geschichte, Justizminister Hakkila, Mit­glied des Parteivorstandes und früher Oberdirektor des Ge­fängniswesens, Unterrichtsminister der Direktor des National­muſeums Ailio, Landwirtschaftsminister Bettala, Verkehrs­minister der Gutsbesizer Wuolujoki, der in Deutschland   Ma­thematik studiert hat, und Sozialminister Helo, früherer Lehrer und Redakteur. Die Mehrzahl der Kabinettsmitglieder sind Abgeordnete.

Auf dem Programm der neuen Regierung steht an erster Stelle die Entwicklung der Arbeiterschutzgesetzgebung, die Forderung der Ratifizierung des Washingtoner Ab tommens. Sfeuererleichterungen für die Minderbemittelten, 3ollsenfung für Lebensmittel und notwendige Verbrauchs­artikel, Berkürzung der militärischen Ausbildungszeit auf neun Monate und Einschränkung der Gesamtrüftungsausgaben werden angestrebt. Die Stellung der Kleinbauern und Land­arbeiter soll gebeffert, die letzten rechtlichen Unbilden gegen die Teilnehmer am Aufstand von 1918 beseitigt werden; das Alkoholverbot bleibt aufrechterhalten und die nationalen Min­derheiten sollen im Geist der demokratischen Regierungsform behandelt werden.

Die Sozialdemokraten verfügen unter den 200 Sigen des Reichstags über 60, die Kommunisten haben 18, die Schwe­dische Volkspartei, Vertreterin der ehemals herrschenden Klaffe, jetzt einer nationalen Minderheit mit etwa einem Zehntel der Gesamtbevölkerung, ohne soziales Programm und wesentlich national betont, über 23, der Landbund ( Bauernpartei) über 44, die Fortschrittspartei( Demokraten  ) über 17 und die Sammlungspartei( Konservative aus Intellef­tuellen-, Handels- und Industriekreisen mit militaristischen und monarchistischen Tendenzen) über 38. Die Sammlungspartei und der Landbund hatten bisher unter dem Agrarier Kallio ein Minderheitskabinett gebildet, fiel über die von ihr trog öffentlicher Proteste und Enthüllungen an Rorruption gren­zende Munitionslieferungsstandale und dürfte damit auch die von der Sommlungspartei beeinflußte über­nationalistische Politif ein für allemal erledigt haben. Diese Politik fand ihren Ausdrud, wie vielfach in neuen National­staaten, in einer fünstlich gezüchteten Bekenntnistreue und Sprachtyrannei. Befannt sind so groteste Fälle, daß. der Oberkommandierende der finnischen   Flotte wegen unge­nügenden Spracheramens im Finnischen seines Postens ent­hoben wurde ein Fall für unzählige. Die sozialdemokra­tische Regierung dürfte für einen gerechten Ausgleich zwischen Finnisch   und Schwedisch sorgen.

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Sie wird aber nicht nur damit, sondern auch in ihrer Geficht Finnlands   zeigen fönnen als die bisherigen bürger­ganzen außenpolitischen Haltung dem Ausland ein anderes Geficht Finnlands   zeigen fönnen als die bisherigen bürger­Finnland schienen bisher keine anderen politischen Verbin­lichen Regierungen. Zwischen Deutschland   besonders und

Eine Arbeitslosenunterstüßung existiert in Ungarn   nicht; der Entlassene wird aus seiner Wohnung mitten im Winter sofort hinausgeworfen, denn die Wohnung gehört dem Wert. Er verliert auch seinen Bensionsanspruch, denn nach dem Gefeß hat jede Unternehmung ihre eigene Bensionskasse, und nichts beweist besser, daß der Wahlerfolg ausschließlich durch diese wenn der Arbeiter entlassen wird, fällt auch die Pension weg! dungen zu bestehen als die Erinnerungen an den Sieg der terroristischen Mittel erzielt wurde, als die Tatsache, daß die jenigen Bergarbeiter, welche aus dem Bauern stand stammen und ihr eigenes Kleinhaus be. igen, troß allem 3wang ihre Stimmen für den sozialdemokratischen Kandidaten abgegeben Ebenso haben die Bauern, die ein Stück eigenes Feld haben, für die Sozialdemokraten gestimmt.

haben.

Um das Bild zu vervollkommnen, muß man noch erwähnen, daß in Ungarn   Wahlpflicht herrscht und Nichtwähler bestraft werden. Ist es zu verwundern, daß die von den Ingenieuren, Aufsehern und einzeln bearbeiteten Bergleute, wenn sie vor die Wahlfommiffion fommen und dort ihre Vorgesetzten er. bliden, nicht ihrer Ueberzeugung nach abstimmen? Dennoch fanden sich in jedem dieser Kohlenwahlbezirke Taufende tapfere Bergarbeiter, die sich heldenmütig zur Sozial demokratie bekannten und damit einen Beweis unerschütter ligher Treue zur Arbeiterbewegung geliefert haben.

fchen Truppen. Die in Deutschland   ursprünglich gegen das ,, Weißen" 1918 und die ihnen aufgedrungene Hilfe der deut­zaristische Rußland   ausgebildeten finnischen   Jägerbataillone aaben den finnischen   Hütern dieser Tradition den Namen der Politik und Verwaltung beherrschenden Jägerclique"; auch für Finnland   schien es fein anderes Deutschland   zu geben, als das des unverbefferlichen Baltikumgenerals von der Golk  und seinesgleichen. Diese Erklusivität" dürfte nun einer all­gemeineren und offenen Berständigung und Aussprache weichen.

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wieweit das Kabinett Tanner diese Aufgaben und Ziele, die sich ihm bieten und die es sich selbst gesezt hat, verwirk­lichen kann, hängt von der jeweiligen Gefolgschaft ber anderen Parteien ab. Koalitionsmäßige Bindungen wurden abgelehnt. Soweit sich Tanner der Mitwirkung der Schweden   und der Demokraten versichern fann, bleibt er immerhin start genug, um nicht gestürzt zu werden, aber auch die Bauernpartei, die wesentlich liberaler gerichtet ist als ihre bisherige Regierungsverbündete, die Sammlungspartei  , dürfte