Nr. 59743. Jahrg. Ausgabe A nr. 304
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Sonntag, den 19. Dezember 1926
Regierungsbildung vertagt.
Bis zum Januar. - Empfang der Parteiführer beim Reichspräsidenten . Amtlich wird mitgeteilt: Der Herr Reichspräsident empfing im Laufe des Sonnabend zu Einzelbesprechungen über die Ne u bildung der Reichsregierung die Führer der größeren Reichs tagsfraktionen, nämlich die Abgeordneten Graf West arp( Dnat), Müller- Franken( Soz.), v. Guérard( 3tr.), Dr. Scholz ( DVP .), Dr. Koch( Dem.). Ferner empfing der Herr Reichspräsident den Reichsarbeitsminister Dr. Brauns fowiz den preußischen
Ministerpräsidenten Braun
Aus dieser ersten Fühlungnahme mit den Fraktionsvorsitzenden gewann der Herr Reichspräsident die Ueberzeugung, daß die Aufnahme von Berhandlungen zur Neubildung der Reichsregierung im Hinblick auf die Weihnachtsfeiertage und die Bertagung des Reichstags bis zum 19. Januar zurzeit nicht möglich ift. Der Herr Reichspräsident hat sich daher entschloffen, diese Verhandlungen bis turz vor wiederzufammentritt des Reichstags 3u vertagen
Der letzte
Der letzte Handel vor dem Sturz.
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Graf Westarp enthüllt. Was er für unmöglich hält. Graf Weftar p erzählt in der Kreuzzeitung" intereffante Dinge über die Verhandlungen, bie vor dem Sturz der Regierungsparteien zwischen den Deutschnationalen und Polit fern der Regierungsparteien geführt worden sind.
Die Deutsch nationalen glaubten fich der ersehnten Stunde nahe. Sie ftanden bereit. Sie warteten, daß sie zu Berhandlungen gerufen würden:
„ Wir haben feinen Zweifel darüber gelassen, daß wir dazu
bereit waren."
Deutsche Volkspartei und Bayerische Boltspartei drängten:
Die Deutsche und die Bayerische Boltspartei haber Beschlüsse gefaßt und uns mitgeteilt, wonach fie nun. mehr Berhandlungen über die Regierungsbildung nur noch mit uns für möglich und für notwendig durch Austritt aus der Regierungsgemeinschaft erzwingen würden, hielten. Eine feste Zusage, daß sie ihrerseits die Annahme dieser haben wir aus ihren Erklärungen trotz unseres wiederhelt ausge.
sprochenen Bunfches nicht entnehmer fönnen."
Die Deutschnationalen wollten also Garantien, daß fie ihre Unterſtügung für das Kabinett mit der Aufnahme in bie Regierung bezahlt erhielten. Sie wußten, daß das 3 entrum mit den Beschlüssen der beiden rechten Regierungstrum mit den Beschlüssen der beiden rechten Regierungsparteien nicht einverstanden waren. We starp stellt feft: " Der Reichskanzler Marg und die 3entrumsfrat tion aber haben den Eintritt in Berhandlungen mit uns, oder auch nur die Ankündigung dieses Eintritts auf furze Frist, und damit die Forderung der beiden genannten Barteien nach stundenlangen Verhandlungen der Fraktion ausdrüdlich abgelehnt. Es ist fein Geheimnis, daß der Reichskanzler sich auch dem Herrn ist kein Geheimnis, daß der Reichskanzler sich auch dem Herrn Reichspräsidenten gegenüber bazu nicht bereit erklärt hat." Für den Regierungseintritt der Deutschnationalen ist also auch der Reichspräsident in Bewegung gesetzt worden. Der Riß ging mitten zwischen den Regierungsparteien hindurch. Zuletzt haben noch anonyme Politiker die Deutsch nationalen beschmoren, in die Bresche zu springen:
Indirekte Nachrichten wurden uns ausdrücklich als private Aeußerung, ohne Berbindlichkeit und mit aller Scheu vor Veröffentlichung zugeleitet, daß man es für möglich halte, demnächst in Berhandlungen mit den Deutschnationalen mit dem Ziele ihrer Annäherung an die
Wer ist Herr von Litauen ? Widerspruchsvolle Nachrichten. Riga , 18. Dezember. ( Eigener Drahtbericht.) Die hier aus Litauen vorliegenden Nachrichten widersprechen sich völlig. Angeblich besißt die Regierung der Umstürzler ausschließlich in Kowno und dessen näherer Umgebung die Macht, während in der Proving die Mehrzahl der Regimenter zu der verfassungsmäßigen Regierung steht Die Regierungstruppen befinden sich nach den letzten Meldungen, deren Kontrolle infolge der über Litauen verhängten Zenfur unmöglich ist. auf dem Anmarsch nach Kowno .
Der Transitverkehr Mostau- Berlin hat bis Sonnabend noch funktioniert. Das Aussteigen in Kowno war jedoch strengstens untersagt, so daß sich die Reifenden von den tatsächlichen Vorgängen fein Bild zu machen vermochten.
Die polnische Regierung bewahrt die Ruhe. Cody, 18. Dezember. ( Eigener Drahtbericht.) Die Nachrichten über den Umfturg in Litauen haben in Bolen großes Auffehen und starte Erregung hervorgerufer. Entgegen anders lautenden Behauptungen erflärte jedoch ber polnische Außenminifter 3a lefti, Bolen nerfolge die litauischen Ereignisse mit völliger Ruhe.
Mittelparteien, vielleicht auch zu dem Zwede späterer enger Berbindung einzutreten. Es fehlte dabei nicht an Ermahnungen, die Stimmung hierfür nicht zu verschlechtern, sondern die weitere Entwicklung dadurch zu fördern, daß wir das sozialdemokratische Mißtrauensvotum zu Fall brächten. Dabei wurde uns auch die unmögliche Zumutung gestellt: die Fraktion möge fich der Stimme enthalten und zu aller Sicherheit etwa zwanzig bis dreißig Mitglieder zur Ablehnung des Mißtrauensvolumns abtommandieren."
das Berhalten der Deutschnationalen. Sie hat sie beschworen, Man versteht nun die Erbitterung der Boltspartei über nachdem Herr Scholz Borarbeit geleistet hat. Sie hat auf Abkommandierungen der Deutschnationalen gerechnet. Ronnte fie ahnen, daß Graf Bestarp die Abkommandierung von 20 bis 30 Abgeordneten für eine unmögliche Zumutung" ertlären würde, nachdem im Jahre 1924 nicht weniger als 49 deutschnationale Abgeordnete abfommandiert worden waren, um die Dawes- Gefeße durchzubringen und die deutsch nationalen Ministersessel zu erfaufen?
Gut unterrichtet!
Umwälzung im Nachrichtendienst durch den Lokal Anzeiger".
des Fernsehens gibt es für die Zeitungsherstellung teine Zeit Im Zeitalter der Ferntelephonie, des Funtdienstes und mehr. Die Zeitungsnachricht folgt dem Ereignis mit Se fundenschnelle auf dem Fuße. Indessen sind trotzdem noch Reforde möglich. Neidlos erkennen mir an, daß der neueste Reford vom of al- Anzeiger" des Herrn Hugenberg aufgestellt worden ist. Dieser Reford fann nicht geschlagen
merden.
21 Der Lokal- Anzeiger" teilt in feiner Sonnabendabendausgabe über den Empfang der Parteiführer durch Hinden burg mit:
Im einzelnen verlautet, daß Müller Franten namens Roalition ausgedrückt habe( die aber die Mehrheit seiner eigenen der Sozialdemokraten den Wunsch nach der Großen Fraktion feineswegs will, sondern mit Sicherheit sabotieren würde), meiter aber erklärt habe, daß sich die SPD. notfalls auch mit einem Kabinett der Mitte begnügen würde, das ihr hinreichende persönliche und fachliche Garantien" böte. In flares Deutsch übersetzt, will das heißen, daß die Sozialdemokratie einem Rabinett mit Ministern wie Külz und Geßler, vermutlich aber auch Curtius und Sting! ihre Unterstüßung nicht leihen würde und daß bie den sozialdemokratischen Bünschen auf Bolitisierung der Reichssie von dem ihr zu unterstüßenden Rabinett eine Politit verlangt, mehr und Einführung des Soldatenratssystems nach öfter. reichischem Muster und auf Erfüllung der demagogischen sozialdemo tratischen Forderungen für die Erwerbslosen und für den fratischen Forderungen für die Erwerbslosen und für den schematischen Achtstunden tag ohne Rüdficht auf die Reichs finanzen und auf den Wiederaufbau der deutschen Wirtschaft gerecht
würde."
Die Abendausgabe des Lokal- Anzeigers" erscheint gegen 3 Uhr nachmittags. Genosse er mann Müller war gegen 6 Uhr nachmittags beim Reichspräsidenten. Also muß die Redaktion des Lotal- Anzeigers" im Befige einer technischen Erfindung sein, die ihr gestattet, Gedanten und Worte der Zeitgenossen schon drei Stunden vor ihrer Ronzeption zu lesen. Eine aufsehenerregende Erfindung! Man fann um 3 Uhr schon fommentieren, was um 6 Uhr gesprochen wird! Das nennt man eine wohlunterrichtete Beitung, das ist doch noch journalistische Firigkeit!
zumal sicher sei, daß feine antipolnischen Ausschreitungen stattfinden
werden.
Das Blatt Pilfubftis fordert die Regierung auf, alle militärischen Borbereitungen zu treffen, um jede Provokation zurüdzuweisen. Diese Aeußerung darf jedoch den Regierungsfreisen oder Bilsudsti nicht in die Schuhe geschoben werden. Es scheint sicher zu sein, daß sie jeden militärischen Konflikt vermeiden werden.
Rückkehr zur Parteiarbeit.
Die dänischen Genossen nach dem Kabinettsrücktritt. Kopenhagen , 18. Dezember. ( Eigener Drahtbericht.) Der bisherige dänische Ministerpräsident Genoffe Stauning ist nach feinem Rücktritt an seinen früheren Play als geschäftsführender Borfizender der Sozialdemokratischen Partei zurückgefehrt, während der bisherige Arbeitsminister Borbjerg wieber die Chefredaktion des Sozialdemofraten" übernommen hat. Der Kultusminister der fozialistischen Regierung, Frau Nina Bang , will ihre historische Arbeit, die Zusammenstellung der Rechnungen des Derefundzolles, fertigstellen.
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Patriotismus ohne Lüge.
Die Forderung des Tages.
Zu Beginn des Krieges erzählte man folgende Geschichte: In der Redaktion eines großen Berliner Blattes habe sich ein Redakteur verzweifelt geweigert, gewiffe von der Regierung ausgehende Meldungen weiterzugeben, und habe immerzu ausgerufen: Das ist doch alles Lüge! Lüge!" Worauf ihm der Chefredakteur geantwortet haben soll: m riegift Lügen patriotische Pflicht."
Die Geschichte mag wahr sein oder erfunden, jedenfalls ging damals der Saz von Mund zu Mund:„ Im Krieg ist Lügen eine patriotische Pflicht."
Und wahrhaftig, einen Krieg ohne Lüge hat es noch nie in Stimmung gehalten werden. Darum muß am Kriegsgegeben. Lift und Verstellung gehören zu den unentbehrlichsten Mitteln der Kriegführung. Dann müssen die Massen ausbruch der andere Schuld tragen, darum muß dieser andere als Ausbund aller Gemeinheit und Grausamkeit dargestellt werden, dessen Bernichtung löbliches Tun ist.
Waffen im Krieg verbieten wollen: Dumdumgeschosse, GiftEs gibt Genfer und andere Konventionen, die bestimmte gase usw. Auf den Gedanken aber, die Lüge im Krieg verbieten au mollen, ist noch niemand gekommen, weil die Lüge im Krieg eine unentbehrliche Waffe ift.
Der Weltkrieg war nicht nur ein Wettrennen im Bernichten, sondern auch im Lügen. Er hat nicht nur Menschenleben und materielle Güter, fondern auch moralische Werte in ungeheurem Ausmaß vernichtet. fagen! Darf man? Heil dem Frieden! Nun darf man wieder die Wahrheit
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: Scheidemann hat am Donnerstag im Reichstag die Wahrheit gesagt: Rücksichtslos hat er den Schleier wegge zogen, der bis dahin manche Dinge bedeckte. Er hat damit nicht nur die Entrüftung der Deutschnationalen und der Kommunisten, sondern auch das Entsetzen und den Protest der Mitte heraufbeschworen. Die Mitte ist für die Mißstände, die Scheidemann enthüllte, nicht blind. Ein gewiffer wohltempe rierter Wille, fie abzustellen, ist bei ihr norhanden. Aber daß man von der Tribüne des Reichstags herab so offen von ihnen bei Scheidemanns Enthüllungen um längst vergangene Dinge, Sprach, dafür konnten sie fein Berständnis aufbringen. Man hält es für patriotisch, zu verfichern, es handle fich die sich unter ganz anderen Verhältnissen als den gegenwär tigen entwidelt hätten. Liebe Leute, das ist nicht fo! Niemals hätte die sozialdemokratische Reichstagsfraktion be schlossen, das ihr aus allen Teilen des Reiches zugegangene, mühsam gesammelte und gesichtete Material vorzutragen, hätte. Nein, Scheidemann hat den Finger auf die Wunde wenn es sich um vergangene, längst erledigte Dinge gehandelt gelegt, die noch offen ift. Wäre dem nicht so, so wären die Schmerzensschreie nicht so laut gewesen.
Weil der Mann heute von allen Seiten angegriffen wird, auch ein Wort für den Mann. Der Sprecher der Sozialdemokratie am letzten Donnerstag war auch der Sprecher der Parteimehrheit in den Reichstagsdebatten während des Krieges. Damals hat er die Politik der nationalen Berteidigung mit dem Ziel des Berständigungsfriedens vertreten. Weil er die nationale Berteidigung predigte, galt er vielen als Nationalist Weil er die Berständigung mit den Gegnern wollte, sobald wie möglich, noch ehe das von allen Seiten von Gegnern umringte Deutschland zusammenbrach, umheulte ihn schon damals der Ruf: Landesverräter!" Scheidemann und Ebert gehören auf den Sandhausen ," verfündete die Kreuz- Zeitung".
Bor furzem ist der Bericht des Prof. Dr. Bredt über den Reichstag im Kriege erschienen, der im Auftrage der Untersuchungsfommission verfaßt ist. Dieser Bericht des damals freifonservativen und auch jetzt noch rechtsstehenden Abgeordneten ist gegenüber den nationalistischen Schmähungen eine einzige Rechtfertigung für die Politit, die die Sozialdemokratie und Scheidemann während des Kriegs getrieben haben.
Als uns der Diktatfrieden von Versailles vorgelegt wurde, gehörte Scheidemann zu denen, die sich der Unterzeichnung widersetzten. Weil er nicht unterzeichnen wollte, trat er von dem Amt eines Reichsministerpräsidenten zurüd. So sehen in Deutschland die Landesverräter" aus.
Am 9. November rief er auf dem Plazz, der jetzt nach Daß ihm die Monarchisten das übelnehmen, ist verſtänddiesem Ereignis seinen Namen hat, die Republit aus. lich. Wer aber damals mehr im Interesse des Baterlandes handelte er oder jene, die damals den Kopf vollständig verloren hatten und denen das Herz in die Hosen gerutscht war, mag die Geschichte entscheiben.
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